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In der Schule bei Jungfer Bakke

Jetzt sitzen wir so traulich und warm in der Dämmerung am Ofen. Der Schein des Feuers leuchtet gerade so weit über den Fußboden hin, daß wir sehen können, wer alles dort sitzt. Tordis an der Tür, Liv und das Küken auf dem Bänkchen, mit der Puppe im Arm, Vater und Bubi in der Sofaecke, und auf Muttchens Schreibtisch drüben in der Ecke glänzt die kleine Lampe mit den Leberblümchen auf der Kuppel. Es sind die einzigen Leberblümchen, die wir oben haben; deshalb freuen wir uns so über sie. Ganz besonders in der Dämmerung sind sie uns bisweilen wie ein Hauch aus dem Süden. Aber da ist noch ein hübscher gemütlicher Platz dort in dem kleinen Schaukelstuhl. Willst du dich nicht dahin setzen zu uns – vielleicht ist auch noch etwas Kaffee in Großmutters kleinem kupfernen Kesselchen – glaub' nur, du bist uns herzlich willkommen. Hier oben freuen wir uns ganz unendlich über Besuch, wir »empfangen immer«. Du sollst auch keine Grütze heute abend bekommen, nein, gewiß nicht, sondern etwas Schönes. Ja, sogar etwas sehr Schönes. Mutter geht nachher hinunter und sucht schon etwas im Keller zusammen; das versteht sie ganz prachtvoll. Das »Durchstöbern« des Kellers ist Mutters größte Kunst und unser aller Freude. Es ist ganz unglaublich, wieviel Schönes Mutter da unten zusammensuchen kann. Und bist du nun ein kleiner Knabe, der sich zu uns setzt – ja, dann sollst du natürlich neben Bubi am Tisch sitzen, bist du aber ein kleines Mädchen, so sollst du zwischen Liv und dem Küken sitzen, so daß jede von beiden dich an ihrer Seite hat.«

»Erzähle uns etwas,« sagt das Küken.

»Ach – ich weiß nichts,« sagt Mutter; sie ist abgespannt und hat keine Lust zum Erzählen.

»Du weißt nichts, Mutti – das ist nicht wahr.«

»Nein – das ist es auch nicht, aber ihr habt ja alles schon tausendmal gehört.«

»O, deshalb ist es doch ebenso schön,« meint Liv. Selbstverständlich muß Mutter erzählen. Denn, wer da glaubt, daß Mutter sich frei machen könnte und nicht zu erzählen brauchte, der weiß nicht, wie sehr kleine Mädchen betteln können – die lassen nicht locker.

Und nichts in der Welt ist ja auch so hübsch, wie von der Zeit erzählen zu hören, als Mutter klein war. Wie war es damals? Mit wem spieltest du? Wo wohntest du? Und ganz besonders hübsch ist das Erzählen an einem Samstagnachmittag in der Dämmerung, wenn es mit den Schularbeiten nicht so eilt.

»Erzähl' jetzt davon, wie du klein warst. Wo gingst du zur Schule, Mutti? Davon haben wir noch nichts gehört – wo war das?«

Nein, es nutzt nichts, Mutter muß nachgeben.

»Nun, davon könnte ich euch ja erzählen, denn das war eigentlich eine recht fröhliche Zeit, als ich zu Jungfer Bakke ging.«

Und Mutter blickt lächelnd vor sich hin und vertieft sich in ihre Kindheitserinnerungen.

»Ich ging also zuallererst bei Jungfer Bakke zur Schule. Ich konnte damals wohl so sieben oder acht Jahre alt sein. Jungfer Bakke wohnte in einem großen, alten, grauen Hause, das an einem Hügel, ein klein wenig oberhalb von Großvaters und Großmutters Hause lag.

Unser Haus stand ungefähr mitten in der Stadt; es war groß und gelb. Etwas weiter nach der Festung hinauf wohnte unsere Jungfer Bakke. Ach, wie gut erinnere ich mich noch ihres Hauses! Es war das einzige Gebäude an dem ganzen Hügel, deshalb sah es auch so ländlich und hübsch aus. Nachbarn hatte es nicht; gegenüber befand sich nur ein großes, von einem Steinwall eingefriedigtes Wäldchen, in welchem viele Ahornbäume standen und eine Menge Blumen wuchsen. Wilde Stachelbeeren gab es dort auch, weshalb wir bisweilen einen kleinen Abstecher hinter den Steinwall machten, um zu sehen, ob sie reif waren. Da wir den Beeren aber niemals Zeit ließen, ganz reif zu werden, aßen wir sie natürlich unreif, damit sie kein anderer pflücken sollte.

Nun – rings um Jungfer Bakkes Haus war ein Garten; das heißt, eigentlich nicht ganz ringsherum, sondern nur auf der Rückseite und zu beiden Seiten des Hauses den Hügel hinab. Vor dem Hause war nur ein kleines Streifchen Garten.

In Jungfer Bakkes Garten wuchsen Johannisbeeren, große rote Päonien und eine Menge Möhren. Auch ein großer Apfelbaum stand dort, der Jungfer Bakkes ganzer Stolz war. Er verdeckte die eine Wand des Hauses, breitete seine Zweige nach allen Seiten hin aus und bot im Frühling einen entzückenden Anblick, wenn er mit lichtroten, zarten Blüten ganz übersät war. Wenn wir in den Schulstunden recht aufmerksam und fleißig gewesen waren, bekamen wir einen Apfel zur Belohnung. Es waren Glasäpfel, ganz durchsichtig und so weich, daß sie auf der Zunge schmolzen. Der Garten war sehr groß und hatte zwei Ausgänge; er ging quer durch das ganze »Viertel« bis zu einer anderen Straße, so daß es für Jungfer Bakke gar nicht leicht war, alle ihre Mohrrübenbeete in den Sommernächten zu überwachen. Vierklee wuchs dort ebenfalls in großen Mengen. In den Unterrichtspausen lagen wir draußen im Grase und pflückten ihn, und je mehr wir fanden, um so größer wurde natürlich das Glück. »Ihr mißt mei'm lieben Freileinche nit alles Glück fortpflücken,« sagte Thea, wenn sie uns nach den Pausen wieder hereinrief.

Eine große hohe Treppe führte von der Straße mitten ins Haus hinein. Zu beiden Seiten der Treppe befand sich der kleine Gartenstreifen mit den schönsten Aurikeln und Perlhyazinthen, die ich über alles liebte. Ich habe nie so entzückende Perlhyazinthen gesehen wie bei Jungfer Bakke. Stundenlang konnte ich davor stehen bleiben und sie betrachten – sie wurden zu blauen Perlen und blauen Kleidchen, und alles schien mir blau zu sein. Ich spielte mit den Blumen und schmückte mich damit und winkte meinen Lieblingen im geheimen Lebewohl zu, wenn ich mittags nach Hause ging.

»Du möchtest wohl gern eine haben,« sagte Jungfer Bakke bisweilen, wenn sie herauskam und sehen wollte, ob wir auch hübsch ordentlich die Straße hinuntergingen, »komm denn!«

Dann bekam ich Perlhyazinthen und Aurikeln und lief strahlend nach Hause zur Mutter. Ich freute mich damals viel mehr über Blumen als über Kuchen. Der Kuchen war ja bald verzehrt, aber die Blumen – o, mit denen lebte ich, die erfüllten mich mit einer ganzen Welt von Freude und Schönheit. War etwas garstig und langweilig, so vergaß ich es bald, wenn ich nur an Blumen dachte. Sie bedeuteten für mich das Entzückendste, was es gab. Ich wußte zwar nicht, was dies eigentlich war, aber es mußte doch irgendwo in weiter Ferne sein, und vielleicht würde ich einst noch dorthin kommen. Blumen, das war Licht und Farben, Duft und Freude und aller Welt Herrlichkeit – und die Perlhyazinthen von Jungfer Bakke waren, glaube ich, die erste Schönheitsfreude, die ich im Leben empfand. Wenn ich meine Schularbeiten machen mußte, setzte ich mich immer so, daß ich sie sehen konnte.

Die Treppe an Jungfer Bakkes Haus war so groß wie eine kleine Veranda, mit Bänken zu beiden Seiten. Sie führte zu einem großen Vorraum, wo Jungfer Bakke im Sommer kleine Teegesellschaften für die ihr befreundeten Damen des Städtchens gab. Die Türen standen offen, Vogelgesang und Blumenduft strömten vom gegenüberliegenden Wäldchen herein, und die Blätter der Pappeln erglänzten in der Sonne und dufteten lieblich.

Jungfer Bakke kannte natürlich alle Menschen in der Stadt. Alle waren bei ihr zur Schule gegangen, große und kleine, und sie hatte sie lesen gelehrt. Ja, denkt nur, Großvater war auch bei ihr zur Schule gegangen. Sie war also schon ziemlich alt, als ich zu ihr kam.

Jungfer Bakke gehörte gewissermaßen in allen Familien mit dazu; sie war jeden Sonntagmittag eingeladen. Dann erschien sie in ihrem schwarzseidenen Dolman, mit ihrem kleinen braunen Haubenbeutel am Arm. Thea, ihr Dienstmädchen, kam auch mit. Diese mußte ihr mit der Haube und anderen Dingen helfen; Thea war überhaupt wie ein Teil von Jungfer Bakke. Es war so hübsch, wenn die beiden Sonntags kamen. Jungfer Bakke war dann in bester Laune, und diese Laune hielt auch in der Schule fast die ganze Woche an. Nur Sonnabends konnte sie etwas schelten, wenn Thea alles rein machen mußte. Es war stets ungeheuer sauber bei Jungfer Bakke, darauf könnt ihr euch verlassen – glänzende, weißgescheuerte Fußböden in der Küche sowohl, wie in den Zimmern. Auch die winzig kleinen Fensterscheiben, mit den klaren, karierten, selbstverfertigten Gardinen, waren blitzblank. Auf der Fensterbank standen Balsaminen und kleine weiße Geranien – o, ich sehe alles noch so deutlich vor mir!«

»Wie reizend das gewesen sein muß, Muttchen! O, wenn wir doch hätten dabei sein dürfen – beeil' dich und erzähle mehr, Mutti.«

»Erst muß ich ein wenig Atem schöpfen,« sagt Mutter, »und dann möchte ich gern noch etwas Kaffee haben. Seht nach, ob nichts mehr in Großmutters Kesselchen ist – so! ja – und nun legt noch etwas in den Ofen – jetzt leuchtet es so schön. Das Feuer dürfen wir niemals verlöschen lassen, weder in uns, noch im Ofen, denn seht, leuchten und wärmen muß es ebenso aus uns heraus wie aus dem Ofen.«

»Aber in der Nacht darf der Ofen doch wohl ausgehen,« sagt Bubi vom Sofa her.

»Ja, natürlich – er geht bisweilen auch am Tage aus, aber, weißt du, dann frieren wir sehr bald, und wir müssen uns beeilen, das Feuer wieder anzuzünden.«

»Mehr Jungfer Bakke, Mutti!«

»Mehr Jungfer Bakke, Küken – jetzt kommt sie.«

»Ja, wo war ich denn stehen geblieben? Na ja, das ist übrigens einerlei … Wenn wir morgens in die Schule kamen, durften wir nie die Haupttreppe heraufgehen, denn dann hätten wir die Treppe und den Vorraum für Thea schmutzig gemacht, sondern wir mußten von der Rückseite her durch die kleine Gartenpforte und die Küche hereingehen. Der Gartenweg war mit flachen Steinen belegt, auf denen wir gehen sollten. Sie waren Sommer und Winter gleich sauber und fein gefegt, nicht ein Stäubchen oder ein Blatt lag darauf. Ja, sie waren ebenso fein wie der Nackenscheitel bei vielen vornehmen Herren. Wenn ich einen solchen sehe, muß ich immer daran denken, daß Thea ihn gefegt hat; er sieht nämlich genau so aus – so nach beiden Seiten hin, ihr wißt wohl.

So gelangten wir in den kleinen Vorbau am Hause. Dort stand Theas Besen unmittelbar vor der Treppe, und mit diesem mußten wir uns den Schnee gehörig abfegen. Thea stand in der Küche an dem rot angestrichenen Tisch und spülte das Geschirr. ›Guten Morgen! Haste dich auch gut abgeputzt?‹ Jawohl, das hatte ich getan.

So fragte sie jeden Morgen, und ich mußte dann nachsehen, ob Einar und Rikken es auch getan hatten. Denn diese gingen auch zu Jungfer Bakke, da diese sowohl Jungen wie Mädchen in ihrer Vorschule hatte. Rikken und Einar waren jünger als ich – ich war damals wohl neun Jahre alt. Thea war groß und kräftig, blaß und sanft. Sie trug stets ein braunes Kleid und eine goldene Brosche. Sie hatte sehr dünnes, rötliches Haar und brauchte viel Haaröl, so daß ihr Haar ganz glatt am Kopfe anlag. Und dann hatte sie immer eine kleine Träne im Augenwinkel, wodurch sie fast noch sanfter aussah. ›Ja, Freilein is drinne, seid halt so gut und geht 'nein,‹ sagte Thea und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab – es war der Rest des Morgenkaffees – Thea roch stets etwas nach Kaffee – und nach Haaröl.

Wenn wir hereinkamen, stand Jungfer Bakke drüben an dem einen Eckschrank und ordnete ihre Hauben. Sie hatte deren eine ganze Menge, für Alltag und Sonntag, für Gesellschaften und Tees – oft saßen sie etwas schief – sie waren mit Blonden und Syringen verziert und hatten lange flatternde Bänder. Sie trug beständig ein schwarzseidenes Kleid, schwarzseidene Schürze und ein gestricktes schwarzes Mohairtuch, blaue Emaillebrosche und blaue Ohrringe. Diese ähnelten ein wenig den Perlhyazinthen.

Ich glaube eigentlich, daß Jungfer Bakke einen kleinen Fehler am Rücken hatte – vielleicht war sie ein ganz klein wenig verwachsen, aber nicht viel, bewahre; wenn sie das kleine Tuch umhatte, sahen wir es kaum, und niemand schien es zu bemerken oder redete darüber. Sie war sehr klein und machte immer mächtig lange Schritte, wenn sie zwischen den beiden Schultischen oder zwischen den Eckschränken hin und her ging. Sie konnte niemals stille sein, wenn sie zu Hause war – sondern war stets in Bewegung. Bald lief sie zu Thea hinaus, um mit ihr zu plaudern, bald wieder für einen Augenblick in das Kämmerchen hinein. Sie trug einen braunen, glatten falschen Scheitel, hatte nur noch einige Zähne und braune, freundliche Augen. Ihr Gesicht war beinahe hellgelb und voller Falten und Runzeln. Aber in ihrer Jugend sollte sie eine große Schönheit gewesen sein, sagte Großmutter; sie wäre auf den Bällen sehr gefeiert worden und war auch verlobt gewesen. Aber ihr Bräutigam starb, glaube ich, und sie betrauerte ihn tief – viele Jahre lang – die Ärmste. Zu jener Zeit fing sie die Schule an. Es mag wohl sein, daß sie einst hübsch gewesen war, aber jetzt sah man jedenfalls nicht mehr viel davon.

Jungfer Bakkes große Stube war jedoch sehr schön, luftig und behaglich. Sie ging quer durchs Haus und hatte nach beiden Seiten hin Fenster, sowohl nach der Straße wie nach dem Garten. Wir kleinen Mädchen saßen an einem großen roten Klapptisch, der am Fenster nach der Straße zu stand – die kleinen Jungen an dem andern Fenster nach dem Garten hin. Mitten auf dem Fußboden war die Kellerluke. An der Längswand stand Jungfer Bakkes großes Himmelbett. O, diese Menge Kissen, du liebe Zeit! Ein weißer Bettumhang mit einem weißen Überzug, der oben und unten mit Fransen besetzt war, umgab das Bett. Es war so hoch von all den Matratzen und Kissen, daß es bis zur Hälfte unter die Decke reichte, und ich überlegte mir immer, ob Jungfer Bakke nicht eine Leiter haben müßte, wenn sie sich abends zu Bett legen wollte.

In zwei Stubenecken befanden sich altmodische große Eckschränke, die in zwei Abteilungen geteilt waren. Hier verwahrte Jungfer Bakke Kirschlikör, Kuchen und Eingemachtes – sowie ihre Hauben. Wir konnten viele wunderliche Fächer und Schubladen sehen, wenn Jungfer Bakke vormittags von dem einen Eckschrank zum andern lief. Wir wußten auch, daß es ab und zu etwas Leckeres aus dem Schranke gab, wenn wir unsere Sache gut machten. Dann kam sie und legte ganz heimlich etwas unter unsere Handarbeit, während sie eiligst zu Thea hinauslief.

Ja, bei Jungfer Bakke mußten wir nähen – das kann ich euch sagen. Ach, alle die vielen Hinterstiche – und die langen Nähte mit den ganz kleinen Stichen, von denen der eine genau so groß und so schwarz war wie der andere! Und der Finger so verstochen, daß das Blut heraustropfte – und dann einschlagen und säumen. Und so große Hemden, wie man damals trug – wahre Säcke! Wir alle hatten Nähschrauben, die an der Tischplatte festgeschraubt wurden, oder Nähkissen – große, schwere bestickte Klumpen, die wie kleine Blumenbeete auf dem Tisch lagen. Einmal fiel eines plumps auf die Erde – ich glaube, Jungfer Bakke sprang vor Schreck eine Elle hoch – das ganze Haus bebte.

»Ja, das ist gut, mein Kind,« sagte Jungfer Bakke und beugte sich über mich, um meine Naht zu besehen; dann strich sie mit dem Nagel die Hinterstiche ein wenig glatt und schlug das Hemd aus – und dann lief sie zu Thea in die Küche hinaus.

Aber als ich nachsah, lag ein Stückchen Backwerk unter der Handarbeit auf meinem Schoß. Und als die andern gerade nicht aufblickten – happ, happ – verschwand das Backwerk mit größter Geschwindigkeit. Solche kleinen Kuchen schmeckten wundervoll – man bekam zwei für einen Schilling bei Bäcker Gundersen unten an der Ecke. Jungfer Bakke konnte ja nicht alle Kinder mit Kuchen traktieren, deshalb bekam bald der eine, bald der andere nach der Reihe ein Stückchen. Ab und zu gab's auch ein größeres Traktement draußen in der Küche – aber ganz im geheimen.

Jungfer Bakke war gerade hinausgegangen, redete mit Thea und trank ein Täßchen Kaffee; da steckte sie wieder den Kopf durch die Tür und sagte: »Du, Ågot, komm einmal geschwind in die Küche, der Schuhmacher ist hier und will dir Maß nehmen zu einem Paar Stiefel!«

Jawohl, ein netter Schuhmacher! Als ich ganz erwartungsvoll herauskam – denn ich wußte ja stets, daß dies nur ein Vorwand war, den sie brauchte, wenn sie mir eine Freude machen wollte (sie hielt das natürlich nicht für eine Lüge) – ja, da stand eine Tasse schöne Schokolade auf dem Küchentisch, und ein herrliches, bestrichenes frisches Zweischillingsbrötchen lag daneben. Thea war ganz blaß und glänzte von Haaröl, auch hatte sie das Tränchen im Augenwinkel und eine weiße frisch geplättete Schürze vor. »Setz dich hierhin, Ågot, es is nur 'n bissel Schokolade, die ich fir Freilein gekocht habe,« – und dann mußte ich mich auf einen lustigen kleinen dreibeinigen Hocker setzen – Großmutter nannte ihn immer »den Leuchtturm«, denn er diente eigentlich dazu, um in der Ecke oben auf dem Herde das Licht darauf zu setzen. Jetzt saß ich statt des Lichtes darauf.

O, wie köstlich war das, auf dem Leuchtturm zu sitzen, Schokolade zu trinken und ein frisches Brötchen zu essen!

»Der Schuhmacher is noch nit hier, aber er kommt wohl nachher,« sagte Thea.

O ja, das täte er wohl. »Sollst du denn keine neuen Stiefel haben?« fragte Jungfer Bakke vom Vorbau her.

Ja, das sollte ich sicher – Mutter hatte schon davon gesprochen, daß ich welche nötig hätte, und da hätte es ja leicht sein können, daß der Schuhmacher gekommen wäre.

Als ich wieder hineinging, mußte ich mir den Mund sauber abwischen und die Krumen von der Schürze schütteln.

»Du sagst nur, daß du neue Stiefel haben sollst, hörst du,« ermahnte Jungfer Bakke.

Ja, gewiß, das war ja klar!

* * *

Aber Jungfer Bakke war nicht immer so freundlich, könnt ihr glauben! O nein, sie konnte auch böse sein, sehr böse!

Denkt euch, sie hatte eine Rute in dem einen Eckschranke, und sie zauste die kleinen Jungen, daß die Haare nur so umherflogen.

Uns Mädchen konnte sie ja nicht so gut in die Haare fassen, weil wir Zöpfe hatten; auch kann ich mich nicht erinnern, daß Jungfer Bakke es jemals bei mir getan hat. Aber die kleinen Jungen – ja besonders Onkel Einar –, die mußten es oft fühlen.

Es waren nämlich sowohl Knaben wie Mädchen bei ihr – ich glaube, wir konnten wohl so annähernd zehn oder zwölf sein. Übrigens mochte sie uns Mädchen wohl lieber leiden, glaube ich. Ich erinnere mich wenigstens nicht, daß jemals einer von den kleinen Jungen eingeladen wurde, in die Küche zum ›Schuhmacher‹ zu kommen. Meine beiden kleinen Brüder, Rikken und Einar, gingen auch zur Schule. Rikken war der ältere. Er war etwas schüchtern, ein wenig blaß und schwach – und er war so bange vor Jungfer Bakke. Ich meine immer noch, ich sähe ihn an dem Klapptisch nach der Straße zu sitzen, die Haare standen ihm vor Furcht zu Berge, und er machte ganz große erschrockene Augen. Ab und zu warf er mir einen bittenden Blick hinter der Nähschraube und der Handarbeit zu. Aber Onkel Einar, der war nicht bange. Der ballte nur seine kleinen Fäuste und runzelte die Stirn wie ein Grenadier – stramm und schneidig – und gab keinen Ton von sich, wie sehr ihn Jungfer Bakke auch an den Haaren riß und ihn kniff.

Er wurde übrigens nie anders als »Stemsruen« genannt. Großvater hatte ihn einmal mitgenommen, als er durch das Tal zu einem Hofe fuhr, der Stemsrud hieß. Es war die längste Reise gewesen, die Einar gemacht hatte, und er hatte riesig viel Vergnügen daran gehabt. Großvater hatte während der Fahrt so viel Wunderbares erzählt, vom Walde und den Baumstämmen, die den Strom hinuntersegelten, von Wölfen und Bären, die im Walde hausten, und die sie bisweilen vom Wege aus weit draußen auf dem Eise hören und sehen konnten. Und zu alledem waren sie auf Stemsrud so großartig traktiert worden. Seitdem redete er von nichts anderem als von Stemsrud – er wollte auf Stemsrud wohnen – nichts war so schön wie Stemsrud. So wurde er denn schließlich nur Stemsruen genannt, und diesen Namen behielt er sein Leben lang.

Was wir bei Jungfer Bakke lernten?

Ja, laß mich sehen – ich erinnere mich eigentlich nur der Rechentabelle und der Hinterstiche! Ich glaube, das war das Hauptsächlichste.

»Zweimal« und »viermal« und »nullmal« – nullmal war beinahe das Schwerste – besonders, wenn Jungfer Bakke bisweilen wollte, daß null mal eins: zwei sein sollte!

Ich entsinne mich noch eines kleinen Jungen, der an den Haaren gerissen wurde, weil er es gar nicht begreifen konnte. Aber dann fiel es Jungfer Bakke plötzlich wohl selbst ein, daß sie sich mit der Zwei und der Null geirrt hatte – und das konnte bei einer Tabelle, die so voller »mal« war, ja leicht vorkommen. Jungfer Bakke lief spornstreichs zu Thea in die Küche hinaus und blieb dort eine Weile. Als sie wieder hereinkam, sagte sie nur, daß Karl jetzt statt dessen auf die Tafel schreiben solle. Und dann schrieb sie ihm etwas vor und steckte ihm ein kleines Stückchen Schokolade in die Tasche, heimlich, daß keiner es sah – nur ich.

Ja, die gelbe Tabelle mit dem dünnen, abgegriffenen Umschlag und – nullmal, das ist mir noch so lebhaft in Erinnerung, als wenn es uns erst gestern eingepaukt worden wäre.

Und dann lernten wir natürlich die Buchstaben – aber damals gab es noch keine Lautiermethode, müßt ihr wissen. Jungfer Bakke hatte ihre ganz besondere Methode.

A steht unmittelbar hinter dem Hahn – (unser Abcbuch fing damals immer mit einem Hahn an).

G steht unter dem Hahn – überhaupt waren alle Buchstaben nur des Hahnes wegen da und standen stets in gewisser Beziehung zu ihm; soundsoviele Buchstaben vom Hahn entfernt, soundsoviele Reihen unter dem Hahn. Deshalb konnte ich lange Zeit nicht lesen, ohne daß ich den Hahn zwischen den Buchstaben sah. Ferner lernten wir den Katechismus sehr gründlich. Die zehn Gebote mußten immer wieder von neuem gelernt werden, mit den Erklärungen, von Anfang bis zu Ende. Und dann eine Menge Bibelsprüche.

Das konnte ich viel besser als das Einmaleins. Aber ich fürchtete, ich würde nicht alles so halten können, wie ich es eigentlich sollte, denn Jungfer Bakke sagte immer, wir müßten alles, was im Katechismus stände, auch ganz genau befolgen. Ich glaube, ich fürchtete mich wohl am meisten davor, daß ich Vater und Mutter nicht genug ehrte, denn dann durfte ich nicht lange leben und auf Erden wohnen. Denkt euch, das schien mir das Traurigste von allem zu sein, daß ich vielleicht von der Erde fort müßte. Und ich hatte doch alles so lieb, die Stadt und den Wald und die Festung und Jungfer Bakke. Ich ging umher und ehrte Vater und Mutter und glaubte sie genug zu ehren; ja, ich wußte nicht einmal, wie ich sie eigentlich recht ehren sollte. Sie mußten so hoch stehen, wie kein anderer, so hoch, daß ich sie niemals erreichen konnte – ach nein! Und manchmal sah ich im Geiste Vater und Mutter auf dem feinen Schreibsekretär in der besten Stube stehen, wo wir nicht hinein durften, und ich saß auf dem Fußboden und schaute zu ihnen empor und war lauter Ehrfurcht. Mehr konnte ich sie nicht ehren, denn oben auf dem Schreibsekretär, das war doch das Allerhöchste; dort stand übrigens auch eine kleine weiße Kirche aus Gips mit bunten Fenstern, in der wir einmal im Jahre Licht anzündeten. Sie war entzückend – dort mußten Vater und Mutter auch stehen, dann würde ich wohl lange auf Erden leben dürfen. Und dann waren goldene Sterne auf der Tapete, das schien mir ebenfalls so passend, um sie zu ehren – nicht wahr?«

Wir hören ein leises Kichern und Lachen drüben in der dunkeln Ecke – das ist das Küken.

»O Mutti, so spaßig – warum warst du so?«

»Warum ich so war – ja, wer das wüßte,« sagte Mutter.

»Vielleicht ehrst du mich nicht in der Weise?«

»Ich habe dich nur so furchtbar lieb,« sagte das Küken, »und dann haben wir ja auch keinen Schreibsekretär, aber wir ehren dich allzusammen ganz riesig – trotzdem.«

»Ja gewiß – man kann Vater und Mutter auch ohne Schreibsekretär ehren, aber ich wußte es nun damals nicht besser. Wenn es auf Mittag ging, war Jungfer Bakke immer am verdrießlichsten, denn dann war sie natürlich etwas müde und abgespannt und wollte uns gern los sein. Sie flog dann umher und klapperte mit ihrem Schlüsselbund und blieb bisweilen stehen und teilte Schläge aus. »Na, Junge, beeil dich doch etwas; wie oft habe ich dir nicht gesagt, daß m drei Striche hat, aber n bloß zwei. K muß in der Mitte zusammengehen, aber H nicht. D hat gleichsam einen dicken Leib, aber C hat ein Loch, wo der Leib sein sollte; ja, jetzt kannst du nachsitzen, bis du es weißt, vielleicht verstehst du das?« Alle durch die Bank wurden an den Haaren gerissen und auf die Köpfe geschlagen. Mein armer kleiner Stemsruen, ja, das begriff er wohl; er kämpfte mit seinen Tränen, hielt sich aber tapfer und sah trotzig zu mir herüber. Ich durfte ja nichts sagen, könnt ihr wohl denken.

Als er dann eine ganze Weile später als wir in vollem Lauf nach Hause kam, sagte Mutter: »Das ist aber wirklich zu arg, wie sie den Jungen zugerichtet hat. Sieh mal, wieviel Haare sie ihm wieder ausgerissen hat.« Und Mutter nahm ganz ärgerlich mehrere Haarbüschel von seiner grauen Jacke fort. »Schau her; weißt du was, Vater, das muß ich ihr doch wahrhaftig sagen, daß dies nicht angeht.« Er hatte wirklich viele kahle Stellen am Kopfe. Aber Vater lachte – »o, das ist wohl nicht so gefährlich, die Haare sitzen ihm nur so lose.«

»Ich lasse sie reißen,« sagte Stemsruen – »es tut auch gar nicht so schrecklich weh, es ist viel schlimmer, wenn einem die Haare geschnitten werden.«

Aber die allergrößte Strafe war, in den Keller zu kommen. Ja, denkt euch, das gab's bei ihr!

Gott bewahre, was war das für ein Spektakel! Ich glaube, ich vergesse es nie. Die Kellerluke war, wie gesagt, mitten im Zimmer und hatte einen alten abgenutzten Ring, womit die Falltür in die Höhe gehoben wurde. Man sah wie in einen scheußlichen, tiefen Abgrund hinab, wo es eine Menge Mäuse und Ratten gab – etwas anderes war, gaub' ich, nicht darin – und dann sah man bisweilen kleine Mädchen und Jungen darin, die das Einmaleins und die Buchstaben nicht konnten.

Denkt euch, einmal sollte Onkel Rikken in den Keller kommen – es war drauf und dran, er hatte schon das eine Bein unten. Du liebe Zeit, war das ein Aufstand! Und denkt euch! nur weil er gesagt hatte, Abel wäre der Vater von Methusalem!

Ich hatte natürlich wohl vom Keller reden hören, aber nie recht daran geglaubt, doch jetzt sollte ich ihn mit eigenen Augen sehen.

»Nein, Junge, jetzt kommst du aber wirklich in den Keller. Eine solche Dummheit habe ich doch mein Lebtag nicht gehört! Habe ich jemals gesagt, daß Abel der Vater von Methusalem war? So was ist mir doch in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen.«

»Ich meinte sein Bruder,« sagte Rikken und weinte.

»Ja, du meinst wohl seine Mutter vielleicht; jetzt kannst du sehen, wie du da unten die Verwandtschaft auseinander findest« – und die Falltür flog donnernd in die Höhe, so daß wir alle entsetzt aufsprangen.

Aber da wurde ich auch bange – o Gott, wie mein Herz klopfte – ich flog auf Jungfer Bakke zu, denn wenn Rikken in den Keller sollte, dann wollte ich auch mit hinein.

Ich wußte nicht recht, was ich tat, aber ich schluckte die Tränen herunter und wurde ganz beredt. Ach, er war ja so blaß und klein und schwächlich, und dann der garstige Keller!

Da stand Jungfer Bakke und zog ihn mit der einen Hand an den Haaren, mit der andern am Arm. ›Willst du wohl mitkommen, Junge, – da unten kannst du darüber nachdenken.‹

»Nein, nein, nein, Jungfer Bakke!« schrie ich und zog sie am Kleide von der Luke fort. »Liebste Jungfer Bakke, das dürfen Sie nicht, er ist so klein und schwächlich – ja, ich weiß es – es geht – es geht ihm schlecht, wenn er bange wird. Mutter hat's gesagt, er ist ganz besonders schwach.« Ich zog an Jungfer Bakke – Jungfer Bakke zog an Rikken – Thea sah zur Tür herein, alle die andern Kinder waren blaß vor Schrecken, und Rikken schrie und wehrte sich, während ihm die Haare zu Berge standen. Himmel, was war das für ein Leben! Plötzlich drehte sich Jungfer Bakke um und wandte sich zu mir.

»Geh weg und setz dich hin – dies hier geht dich gar nichts an, hörst du wohl« – damit lief sie schleunigst in die Küche und schalt mit Thea, dann kam sie in größter Eile wieder herein, rannte von dem einen Eckschrank zum andern, suchte nach dem Schlüsselbund, lief dann zum Bett und schüttelte an den Kissen herum, während die Haubenbänder um sie herflogen wie Wimpel im Sturm. »Ja, jetzt könnt ihr nach Hause gehen – es ist gleich eins – ach, ich bin es jetzt so satt, ich will euch nicht mehr sehen – macht, daß ihr wegkommt!«

Ja, das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Draußen waren wir und flogen den Hügel hinunter.

Mutter war ganz erschrocken, als sie die Geschichte hörte. Daß ich Jungfer Bakke am Kleide gezogen hatte, war ja ganz verkehrt gewesen, aber dann fand sie es doch recht hübsch von mir, daß ich für Rikken gebeten hatte. Vielleicht hatte Jungfer Bakke ihn nur etwas bange machen wollen, sagte Mutter.

Na, ich danke; er wäre sicher in den Keller gekommen, wenn ich nicht gewesen wäre, das wußte ich ganz gewiß.

Aber als wir tags darauf in die Schule kamen, gab's eine große Überraschung. Wir wurden alle mit Schokolade traktiert, und jeder bekam zwei Stückchen Kuchen. Jungfer Bakke war so sanft wie ein Lamm und fragte sehr freundlich, wie es zu Hause ginge, und als wir fortgingen, bat sie uns, recht schön daheim zu grüßen. Thea stand in der Küche und spülte die Tassen. »Ja, heite isses Freileinche wieder ganz vergnügt; sie kann woll emal en bissel alteriert werden bei den vielen Kindern, das is halt ganz natirlich – Adjö Ågot – griß z'Hause!«

* * *

»Nur ein einziges Mal war Jungfer Bakke böse auf mich, sonst waren wir immer die besten Freunde – ich glaube sogar, daß Jungfer Bakke eine kleine Vorliebe für mich hatte.«

»Ach, erzähl, Mutti, kamst du auch in den Keller?«

»Nein, nein, ich kam wo anders hin – ohne Jungfer Bakkes Willen.

Soll ich's erzählen? Nun ja. – Ich hatte also einen kleinen Muff zu Weihnachten bekommen. Meinen ersten Muff, und ich strahlte natürlich vor Freude. Es war auch ein entzückender Muff von hellgrauem, seidenweichem Pelz, mit hochrotem wollenen Futter, in dem kleine schwarze Punkte waren. Ich meinte nie etwas Reizenderes gesehen zu haben. Nachts mußte er auf einer Fußbank vor meinem Bett liegen, und ich streichelte ihn bis ich einschlief, und bei Tage ging ich natürlich nicht ohne Muff zur Tür hinaus. Eines Tages bat ich Mutter so lange, bis sie mir erlaubte, den Muff mit zur Schule zu nehmen, doch bekam ich selbstverständlich viele Ermahnungen, recht vorsichtig damit umzugehen und ihn nicht auf die Erde zu werfen – ich könnte ja darum bitten, ob er auf dem Himmelbett liegen dürfe, sagte Mutter, dort läge er am sichersten. Das war aber nicht nach meinem Sinn, und so legte ich ihn denn vorsichtig auf den Stuhl hinter die altmodische, große Schlaguhr, die unmittelbar neben der Küchentür stand. Dort konnte ich ihn auch von meinem Platz aus sehen. O, wie süß er war, und wie reizend er sich dort drüben ausnahm; wenn ich ihn nur ein einziges Mal hätte haben dürfen! Ich konnte an nichts anderes denken. Da bekam ich plötzlich eine herrliche Idee!

»Darf ich mal hinaus?« flüsterte ich. »Ja, natürlich.«

Indem ich durch die Küchentür heraustrippelte, benutzte ich die Gelegenheit und stibitzte im Vorbeigehen meinen Muff. Dann saß ich eine ganze Weile draußen und liebkoste ihn, streichelte ihn und hielt ihn an die Backe – ich meinte fast, er hätte Leben gehabt. Dies Vergnügen war ja viel zu groß, als daß ich es mir nur einmal gönnen sollte. Es dauerte nicht lange, so bat ich wiederum: »darf ich mal hinaus?« – schließlich bat ich jede Stunde, und ich blieb immer länger und länger draußen; ja, ich spazierte sogar manchmal etwas den Hügel hinunter.

»Bist du krank?« fragte Jungfer Bakke schließlich. Meine langen Visiten fingen an, ihr verdächtig zu werden.

Nein – das war ich nicht!

Plötzlich in der letzten Stunde, als ich wieder auf den Hof mußte und dort mit meinem geliebten Muff sitze, wird die Tür aufgerissen, und Jungfer Bakke steht auf der kleinen Treppe, ganz blaß im vor Zorn und mit einem großen Stock in der Hand.

Gott, wie ich erschrak – ich wagte nicht, mich von der Stelle zu rühren, sondern versteckte mich hinter dem Muff.

»Das ist aber doch die Höhe! Sitzt das Mädel hier bei Tante Meier« – ja, das sagte sie – »und sogar mit Muff. Ja, ich will dich muffen, – willst du wohl machen, daß du hereinkommst, und das etwas geschwinder wie gewöhnlich!« – und zweifellos fuhr ich schneller wie sonst in die Höhe und die Treppenstufen herunter. Sie nahm mich nicht sanft an dem Arm, könnt ihr glauben. O, wie ich mich schämte, als ich mit niedergeschlagenen Augen hereintrottete! Ich sah nur die kleinen Steinplatten, von denen Thea wie gewöhnlich den Schnee fortgefegt hatte, so daß sie so fein aussahen wie ein Haarscheitel. An jenem Tage gab es keine Schokolade, und die hatte ich auch nicht verdient. Jungfer Bakke flog scheltend von dem einen Eckschrank zum andern, und das Klappern des Schlüsselbundes war die Begleitung dazu.

Ja, das war auch gerade die Rechte – einem so närrischen Mädchen noch einen Muff zu schenken – Prügel sollte sie haben und keinen Muff – bis sie mehr Verstand hätte. Jungfer Bakkes Zorn war indessen bald vorüber.

Beim Fortgehen bekam ich nur den bestimmten Befehl, den Muff am nächsten Tage zu Hause zu lassen. Thea stand in der Küche, so rot im Gesicht wie nie zuvor, sie lächelte und trocknete das Tränchen aus dem Augenwinkel fort. »Ja, du Ågot, du Ågot!«

»Ihr dürft nie so etwas tun,« sagt Mutter zum Schluß.

»Nein, wir haben ja auch keinen Muff,« antwortet Liv – »wenn wir nur einen bekämen!«

»O, das hat keine Eile,« sagt Mutter.

* * *

»Einmal im Jahre gab Jungfer Bakke eine große Gesellschaft für alle Damen, bei denen sie während des ganzen Jahres Sonntags zu Mittag eingeladen worden war. Diese Festlichkeit fand in den Sommerferien statt.

Die ganze Stadt war natürlicherweise da. Ich und einige andere ihrer Lieblingsschülerinnen wurden ebenfalls eingeladen. Das war ein großer Spaß, und wir freuten uns schon lange im voraus darauf.

Meistens wurde die Gesellschaft zu Anfang der Sommerferien gegeben, denn später reiste Jungfer Bakke mit Thea und ihrem Haubenbeutel auf Besuch umher.

Um fünf Uhr nachmittags kamen alle Damen zum Tee. Alles war sauber und fein geputzt. Blumen standen auf dem Ofen und blühende Geranien hinter den kleinen Fensterscheiben. Die Tür nach dem Vorraum war weit geöffnet, bis auf die Treppe hinaus. Dort saßen wir kleinen Mädchen und rieben uns mit Pappelblättern, um schön zu riechen. An der Wand hingen eine Menge feiner neuer Sommerhüte und Knicker und schwarzseidene Mantillen mit Fransen; einige feine Kapotthüte, die wie große Blumenbuketts aussahen, lagen oben auf dem Himmelbett, damit sie nicht herabgerissen und beschädigt werden konnten.

O du liebe Zeit, wie Thea und Jungfer Bakke es an jenem Tage eilig hatten! Ich meine, ich sähe sie noch aus- und einlaufen und sich den Schweiß abtrocknen.

In der Stube standen zwei fein gedeckte Teetische mit gefransten Tischtüchern und einer Menge kleiner Glasteller, auf denen die verschiedenartigsten Kuchen lagen, und mitten auf dem Tisch befand sich ein großer Kranzkuchen von Bäcker Gundersen unten an der Ecke. Auf dem andern Tisch stand ein feiner Biskuitkuchen mit weißen Verzierungen. Die feinsten Damen saßen auf dem mit einem selbstgewebten karierten Überzug bezogenen Sofa, und ringsherum war es voll von lachenden, schwatzenden und häkelnden Damen, zu deren Geplauder die klirrenden Tassen und Teelöffel die Begleitung spielten, so daß man es weithin hören konnte.

O, das war ein Vergnügen! Ich hatte natürlich mein Sonntagskleid an und den neuen weißen Sommerhut auf. Wir kleinen Mädchen saßen draußen auf der Treppe und tranken unsern Tee aus altmodischen blauen Tassen und aßen Kuchen und Korinthenbrötchen, die auf einer wunderlichen kleinen vergoldeten Schüssel lagen. Diese Schüssel war in zwei Abteilungen geteilt und hatte in der Mitte noch ein Abteil, das ich immer »die Kinderstube der Kuchenschüssel« nannte.

Über uns glänzten die Pappeln und wiegten sich im Sonnenschein und dufteten stark und süß; im Garten waren die Päonien voll aufgeblüht, und auf dem Rasenplatz, wo der vierblättrige Klee wuchs, leuchteten die weißen Kleeblumen freundlich zu uns herüber. Sobald wir Tee getrunken hatten, wollten wir natürlich dorthin; aber erst mußten wir hereingehen und knicksen und uns bedanken. Alle Damen musterten uns verstohlen.

Großmutter flüsterte mir heimlich zu: »Setz die Füße nicht so einwärts – halte dich gerade – wo hast du deinen besten Hut hingelegt – paß ja auf, daß er nicht auf die Erde geworfen wird.«

Ich war seelenfroh, als ich allen Ermahnungen entrinnen und in den Garten hinaus durfte, wo wir den ganzen Nachmittag im Grase lagen und Vierklee suchten, den wir abends in unser Gesangbuch legten, um »darauf zu schlafen«, und was wir dann träumten, würde ganz gewiß in Erfüllung gehen.

Nach dem Tee gab's allerlei Eingemachtes, feine Marmeladen, Törtchen, Judenkuchen und Kirschlikör.

Mitten auf dem Tisch stand ein Glas Wasser mit einer Menge Teelöffel darin. Jede Dame nahm dann nach Rang und Stellung einen Teelöffel aus dem Glase und aß etwas von dem Eingemachten oder legte es auf ein Mandeltörtchen, dann leckte sie den Löffel gut ab und steckte ihn wieder in das Glas hinein – für eine andere Dame. In dieser Weise speisten alle von derselben Schüssel und mit denselben Löffeln; es war gerade nicht sehr appetitlich, aber damals forderte es Sitte und Gebrauch so, das Eingemachte auf diese Art zu servieren. Glücklicherweise ist das jetzt aus der Mode gekommen.

Nachdem die eingemachten Früchte verzehrt waren, erhoben sich die Damen, besahen Jungfer Bakkes Blumen, gingen auf die Treppe hinaus oder spazierten etwas in dem Garten umher, und einige von ihnen mußten notwendigerweise noch vor dem Abendessen einmal nach Hause gehen, um nach den Kleinen zu sehen. Ja, Großmutter ging immer erst nach Hause, um nachzusehen, ob auch alles in Ordnung war, trotzdem sie bloß ein paar Stunden weg gewesen war. Natürlich mußten alle versprechen, abends wiederzukommen, und das taten sie mehr wie gern, denn man amüsierte sich stets köstlich bei Jungfer Bakke. Doch die schlimmste Arbeit für Thea und Jungfer Bakke kam noch. Das ganze Abendessen fertig zu machen – den Tisch von neuem zu decken, nach dem Essen zu sehen und alles von der Teegesellschaft fortzuräumen. Thea war so rot im Gesicht wie ein gekochter Krebs. Der Schweiß lief ihr von der Stirn, das Haar war am Kopfe ganz festgeklebt. Jungfer Bakke fing begreiflicherweise an müde und ungeduldig zu werden. Sie hatte ja gar nicht gesessen, sondern war die ganze Zeit auf den Beinen gewesen; und jetzt ging's in wilder Eile zwischen der Küche und der besten Stube und den Schränken hin und her – alle Schranktüren standen sperrangelweit offen – die Haubenbänder flogen wie Wimpeln im Sturm. Wir kleinen Mädchen sollten etwas mithelfen, waren aber bange, im Wege zu stehen und hielten uns soviel wie möglich von Jungfer Bakke entfernt, die, wie wir wohl verstanden, innerlich über all die viele Mühe schimpfte. Ab und zu hörten wir sie brummen: »Na – hm – hm – habe nie so etwas gesehen, Thea!« Und Thea trocknete sich die dicken Schweißperlen ab, während sie den Kopf durch die Küchentür hereinsteckte: »Ich komme gleich – bin sofort fertig mit den Kartoffeln!« Denn wir sollten ja warmes Essen bekommen – Frikassee und Fischklöße mit weißer Sauce – das war damals das Allerköstlichste für mich. Fischklöße mit schwarzen kleinen Beeren darin galt für das allerfeinste Gesellschaftsgericht, denn dort, mitten im Lande, war es nicht so leicht, passende Fische für die Klöße zu bekommen, wie hier, wo wir den Fjord vor der Tür haben. Wenn jemand Fisch essen wollte, wußte es die ganze Stadt. Im Frikassee waren kleine feine Erbsen und frische Wurzeln aus dem Garten – das Erste vom Jahre und Jungfer Bakkes ganzer Stolz. Zum Dessert gab es Saftcreme mit Sahne.

Es war sowohl im Saal wie im Vorraum gedeckt, und einige saßen mit ihren Tellern sogar auf der Treppe. Wir kleinen Mädchen liefen hurtig hin und her, waren sehr geschäftig und sollten etwas mit aufwarten helfen, und ab und zu erklang Jungfer Bakkes Kommandoruf durch das Lachen und den Lärm hindurch, daß alle sich mit Speisen versehen möchten.

»Mehr Frikassee ins Sofa, Thea. Die Fischklöße auf die Treppe – auf die Treppe – es sind keine Kartoffeln im Hof!« – »Ich gehe schon mit den Kartoffeln auf den Hof, Jungfer Bakke,« sagte ich lachend. »Aber nicht mit dem Muff,« sagte jemand. O, wie wir lachten und jauchzten! Jetzt war die Fröhlichkeit aufs höchste gestiegen.

»Ja, ja – geh du nur mit der Schüssel wohin du willst!«

Jungfer Bakke war nun bald auf dem Siedepunkt angelangt und fächelte sich aus Leibeskräften mit einer großen Serviette.

»Kommen Sie jetzt und setzen Sie sich, liebste Bakke, jetzt haben wir ja alles, was unser Herz begehrt – nein, solche Fischklöße, die schmelzen ja auf der Zunge, hat Thea die gemacht? Das ist wirklich großartig!« Das war wie Balsam für die arme Thea, die trotz ihrer Schweißtropfen freundlich lächelte, und Jungfer Bakke mußte nun einen Augenblick stehen bleiben und zuhören. Eine der Damen ergriff sie am Kleide und zog sie auf das Sofa herunter, und hier hielt man sie fest, daß sie nicht wieder loskam.

»Setzen Sie sich und verpusten Sie sich etwas, liebste Bakke,« sagte Großmutter – und ich glaube, jetzt konnte sie auch nicht mehr, denn sie leistete keinen Widerstand und bekam endlich etwas zu essen.

Schließlich war das Essen vorüber, und der Gesellschaft bemächtigte sich gleichsam eine frohe Ruhe des Gesättigtseins. Aber siehe da, da stand plötzlich ein Herr in der Flurtür und sagte »guten Abend!« Jetzt kam wieder Leben in die Gesellschaft, denn jetzt erschien der eine Papa nach dem andern, jeder wollte seine Mama nach Hause holen, und das fanden ja alle äußerst amüsant. Ja, Jungfer Bakke sah es durchaus nicht ungern, daß die Herren zum Schluß kamen, wenn die Hauptarbeit getan war. – Aber freilich mußten die ja ebenfalls traktiert werden, und mit dem letzten Rest ihrer Lebenskraft fing Jungfer Bakke jetzt an, für den Abendkaffee zu sorgen.

»Das war wirklich hübsch, daß Ihr kamt, sonst hätten wir keinen Kaffee gekriegt,« sagten die Damen, als Jungfer Bakke in die Küche hinausflog.

»Du mußt den Kaffeekessel jetzt aufsetzen, Thea – es geht nicht anders!« hörten wir sie in der Küche sagen. Thea hatte sich gerade ein wenig neben den Herd gesetzt und trocknete sich den Schweiß ab, war aber augenblicklich wieder bereit.

»Sagten Freilein was von Kaffi – jawoll, sogleich!« – und nun fing das Geklapper mit Tassen und Kesseln von neuem an.

Die Stimmung begann bei der Aussicht auf den bevorstehenden Kaffee wieder zu steigen, und es war ja auch so wunderhübsch, daß die Männer noch gekommen waren. Sie mußten erzählen, wie es zu Hause aussah – ob die Kleinen gut schliefen und ob sie beim Zubettbringen geschrien hatten.

»I wo – sie lachten – die sind am allerartigsten, wenn ihr weg seid,« neckten die Männer. Die meinten ja nicht, daß die Welt unterginge, weil Mutter mal einen Nachmittag fort war.

So kam denn endlich der lieblich duftende Abendkaffee mit Kuchen und Kirschlikör herein, und Jungfer Bakke flog wieder im Zimmer umher, bis endlich alle bekommen hatten und fertig waren. Dann folgte großes Abschiednehmen draußen auf dem Gange, wo Damen und Herren sich drängten und lachten und aufeinander losschwatzten.

»Ja, adieu, adieu, liebste Bakke, und vielen Dank – es war ein ganz reizender Tag – wir haben uns so prachtvoll amüsiert; kommen Sie nun auch recht bald mal zu uns, und Thea auch!«

Und lachend und schwatzend gingen sie dann den Hügel hinunter, während Jungfer Bakke auf der Treppe stand und winkte, froh wie ein König darüber, daß es nun überstanden war. – Und rings umher war es so hell und sommerlich. – Drüben im Wäldchen hörten wir ein Vögelchen zwitschern, als wir um die Ecke bogen.

»Ha, das war eine gräßliche Arbeit, Thea, Gott sei Dank, daß es vorbei ist,« sagte Jungfer Bakke, indem sie hineinging. – »Aber jetzt müssen wir aufräumen!«

»Nee, legen Sie sich nur z'Bett, Freilein,« meinte Thea, »ich will morgen schon allens wieder in Ordnung machen.«

Aber da kam Thea schön an! Die »liebste Bakke« wollte erst klare Papiere haben, ehe sie sich zur Ruhe legte. Die Teelöffel und Tassen auf ihren Platz im Schrank, die Sonntagshaube in die braune Haubenschachtel und das falsche Haar in eine kleine Spiegelschublade. Dann setzte sie endlich ihre Nachtmütze mit den getollten Streifen auf, zog die Nachtjacke an und kletterte auf einen alten Stuhl, um ins Bett zu steigen.

»Komm und hilf mir, Thea!« rief sie in die Kammer hinein, wo Thea endlich im Unterrock war.

Mit einem kleinen Schub von Thea kam sie dann endlich oben auf die Kissen hinauf und sank tief hinein, so daß nicht viel mehr als die Nasenspitze von ihr über der Decke zu sehen war.

»Blieb noch etwas von den Speisen übrig, Thea? Denen hat's aber wahrhaftig geschmeckt, du – die Fischklöße sind wohl alle aufgegessen?«

»Nee, ich nahm ein paar fir morgen Mittag davon weg,« sagte Thea.

»Das war sehr gut. Gott, wie bin ich müde! Du sollst auch bedankt sein für heute, Thea!«

Thea huschte noch einmal in die Küche, um nachzusehen, ob das Feuer im Herde auch ganz erloschen sei – und weil noch etwas Kaffee da war, trank sie im Unterrock auf dem »Leuchtturm« sitzend, noch einen kleinen »Abschiedsgesellschaftskaffeetropfen«. Als sie sich auf den Strümpfen wieder hereinschlich, schlief Jungfer Bakke schon süß.

* * *

»Ja, so war's, als ich zur Schule ging. Ich finde alles so hübsch und denke so gern daran zurück.

Jungfer Bakke war ein Original. Sie hatte ihre eigene Methode sowohl mit der Rechentabelle wie mit dem Abc. Es war keine Dutzendgelehrsamkeit, aber im höchsten Grade individuell,« sagt Mutter zum Schluß, indem sie sich erhebt, um die Lampe anzuzünden.

»Was meinst du damit, Muttchen?«

»O, ich meine, jeder bekam sein Teil – was er nun gerade nötig hatte, verstehst du. Wer an den Haaren gezaust werden mußte, der wurde gezaust, wer in den Keller mußte, kam in den Keller – und wer Kuchen und Schokolade auf dem Kuchentisch haben mußte, bekam das. Das Letzte war das Beste.

Nach dem Recht des Individuums dagegen hat nie jemand auch nur gefragt. Wir nahmen das, was wir bekamen und bedankten uns, wenn wir gingen.«

* * *


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