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Als ich das Schlüsselbein brach

Ja, denn ich habe wirklich einmal das Schlüsselbein gebrochen! Ganz gewiß – und ich bin sehr, sehr stolz darauf. Ihr kennt wohl den kleinen Knochen hier oben, der vom Hals nach der Schulter geht, und den man eigentlich nicht sehen darf, wenn man zum Ball geht, fein angezogen ist und ein ausgeschnittenes Kleid trägt, denn, wenn man ihn sieht, dann hat man einen »häßlichen Hals«, wie es heißt. Nun ja – übrigens ist er als Ballschmuck auch nicht viel wert – man kann ihn gut entbehren.

Aber im Alltagsleben kann man ihn nicht entbehren, das ist sicher, da hat man ihn nötig, und das sollte ich erfahren.

Daß ich das Schlüsselbein brach, war wirklich das aller Interessanteste, was ich als kleines Kind erlebte, sonst bestand ja mein ganzes Vergnügen fast ausschließlich in der Phantasie.

O, das war ein herrlicher Tag für uns Kinder! Alles kunterbunt durcheinander, Unruhe und Lärm im Hause; alle Dinge auf einem andern Platz, als wo sie hingehörten. Das Sofa auf dem Flur, die Betten auf dem Hofe, das Pianino in der Ofenecke, das Unterste nach oben gekehrt, und wir ebenfalls teils auf vier Beinen, teils auf zweien in den leeren Ecken. Juchhe!

Gibt es wohl etwas Herrlicheres für die Jugend als Großreinemachen?

Dieser Schrecken aller andern, der Vater aus dem Hause und Mutter aus ihrer guten Laune jagt und alte Scheuerfrauen mit Scheuerbürsten, Kübeln und alten wollenen Hemden bis unter die Decke treibt – denn Decken kann man mit nichts anderm abwaschen als mit alten wollenen Hemden, sagt Nelle immer, und da muß es wohl wahr sein, denn Nelle ist Meisterin in dem Fach!

Der Schweiß rinnt den alten Frauen von der Stirn – Seifenwasser spritzt umher – läuft von der Decke und der Leiter und allen Geräten herunter – »Bleibt hier weg, Kinder« – tönt's uns entgegen – aber natürlich müssen wir gerade dahin – nur ein wenig – nach der Leiter – bautz, da liegt die Bescherung! unter den Schreckensrufen von zwei alten Scheuerfrauen, drei Kindern und einer Mutter, die mit erschrockenen Mienen und Gebärden in der Tür steht und fragt, was in aller Welt hier vorgehe. Da räumen wir klüglich das Feld, denn es war nicht unsre Schuld, wir kamen nur ein ganz klein wenig an die Leiter heran, aber es war so glatt auf dem Fußboden, denn es war naß, und während wir Jammern und Klagen, das Rinnen des Wassers und das Gepolter der Kübel und der Leiter und der Scheuerfrauen hören, die versuchen, wieder ins rechte Geleise zu kommen, stürzen wir die Treppe hinunter und auf den Hof hinaus, wo alle Betten liegen und gesonnt werden.

An einem solchen herrlichen Scheuertag, als alles auf dem Kopf stand und nichts auf den Beinen, mit Ausnahme von Vogtens Karen, die auf meinem Schlüsselbein stand, war es, als ich das Schlüsselbein brach!

Es war unmittelbar vor Ostern. Wir hatten Ferien. Und wir sollten natürlich »mithelfen«, Prismen putzen, Nippessachen waschen und dergleichen mehr. Das sollen alle Kinder tun, und das ist ja auch sehr hübsch, aber meistens ist es doch nur ein süßer Trost für diejenigen, denen man helfen soll. Nun, bis jetzt hatte unsre Hilfe hauptsächlich darin bestanden, in allen Ecken und Winkeln umherzutanzen, die Staubtücher in die Höhe zu werfen und zu hören, wie es widerhallte, wenn wir richtig laut schrieen. Dann hatten wir alte Scheren, Fingerhüte und Glaskugeln, die schon längst als tot und verschwunden beweint worden waren, wiedergefunden. In der Freude des Wiedersehens wollte einer der Knaben die Kugel durch das offene Fenster werfen, aber wie es sich zutrug oder nicht zutrug, weiß ich nicht, genug, er mußte wohl etwas schief gezielt haben, denn die Kugel ging merkwürdigerweise nicht zum Fenster hinaus, sondern mitten durch dasselbe hindurch.

Als wir nun in dieser Weise eine Weile geholfen hatten, erklärte Mutter, daß sie, falls wir noch einmal Fenster entzwei machen und die Leiter umwerfen würden, die Rute holen würde, – sie wäre nicht weit weg – und für den Augenblick nur in die Waschschale gelegt. Jetzt sollten wir aber sofort »ordentlich« helfen.

Die Rute! Na, ich war jetzt nicht mehr so sehr bange davor, seitdem ich ihre Bekanntschaft damals nach der Schlägerei mit Annar gemacht hatte, aber es war trotzdem das Beste, daß sie in der Waschschale liegen blieb. Jetzt wollten wir auch ganz gewiß »ordentlich« helfen. Wir sollten alle unsre eigenen Kissen und Decken in den Hof heruntertragen, sie klopfen und bürsten und sie nachher schön für sich auf einen kleinen Tisch legen. Das war ein Spaß! Es ging treppauf und treppab, bald tanzte ein Kopfkissen herunter, bald schwebte eine Decke hoch in der Luft über das Treppengeländer. Zum Schluß trollte sich jeder von uns nach der Reihe in einem großen Kissen, das vor allen Dingen nicht naß werden dürfe, sagte Mutter, die Treppe hinunter. Und keiner von uns konnte auch etwas dafür, daß es naß wurde, denn wenn es beim Heruntertrollen von der Treppe ab und zu einige Spritzer bekam, so hatten wir gewiß keine Schuld daran. Es war zur Zeit der Schneeschmelze, und mitten auf dem Hof lag der prächtigste Schneeschmutz, so einer von der richtigen Sorte, der uns bis über die Ohren spritzte, wenn wir drin standen und in die Höhe hüpften, hier und da, wo die Sonne am meisten hingeschienen hatte, war eine schneefreie, trockene Stelle, aber in allen Ecken lag schmutziger, schmelzender Schnee, ja hinter dem Brunnen konnten wir sogar einen kleinen Schneehügel hinunterfahren.

Ab und zu blickte Mutter aus dem Fenster, um nachzusehen, ob es draußen bei uns auch »ordentlich« zugehe; es war nun verhältnismäßig ruhig geworden, nachdem wir »unter den Füßen weg« waren. Wir hörten nur das Gepolter der Kübel, die hinuntergetragen wurden; jetzt sollte wohl zum dritten Male Vormittagskaffee getrunken werden. Denn Kaffee gehört mindestens alle drei Stunden zum Hausputz, dann glänzt die Decke um die Wette mit dem Gesicht, das sich darunter befindet.

Jetzt kam des Vogtes Karen singend die Küchentreppe herunter; sie trug einen Waschkübel, welchen sie beim Kehrrichthaufen ausschüttete, so daß das Wasser hoch aufspritzte.

Karen war Kindermädchen beim Vogt, stets froh und zufrieden und jederzeit bereit, mit uns Kindern zu spielen.

»Willst du einen Schneeball haben, Karen?« rief ich; das war gar zu verführerisch.

»Ja, versuch es nur, wenn du's wagst, du Racker,« dabei lachte sie mich an, daß die weißen Zähne und ihre guten blauen Augen leuchteten.

Wagen? Ja, die war gerade die Rechte, um bange davor zu sein! Hui! – und ehe sie sich's versah, flog ihr ein prächtiger Schneeball gerade an den Hals und rann durch die Nachtjacke über den Rücken und die Brust herab. Es war gewiß keine besonders angenehme kalte Abwaschung.

»Ja – ich will dich kriegen, du Bösewicht! Der Kübel wurde an die nächste Wand geschleudert, daß es krachte und jetzt begann eine wilde Jagd rund um den Hof.

Ich voraus und Karen hinterher, über Kisten und Tische und Betten hinweg, die bald um uns herflogen, pardautz, da lag ich im Schneeschmutz! Karen, in vollem Lauf, fällt mit ihrer ganzen Schwere über mich und mit dem Ellbogen gerade auf mein Schlüsselbein.

Knack! Da war's geschehen!

O weh, wie das schmerzte! Ich schrie nicht, nein, ich brüllte! Au – au – au!!

»Schrei doch nicht so, Mädchen, ich will dir ja nichts tun; bist du denn von Sinnen!«

O, ich wußte nicht, was ich war! Nie im Leben habe ich einen solchen Schmerz gefühlt, wenn man mich nur anrührte, so war es, als ob … Und als sie mich nun gerade an dem Arm anfaßte und in die Höhe zog, der so schrecklich weh tat – da schrie ich wohl wie ein Schweinchen, das geschlachtet werden soll.

»Laß mich los, laß mich los, meine Schulter is kaput, zieh mich nicht so – au, au, mein Arm!«

Aber Karen zog und zog, und ich heulte nur um so schlimmer. Bis zu der großen Ecke hinter dem Stall zog sie mich am Arm, und es half nichts, daß ich mich dagegen wehrte. Schließlich konnte ich nicht mehr und es nutzte nichts, daß sie mir alle Schätze der Welt versprach, wenn ich nur aufhörte zu schreien.

»Ich gebe dir auch zwei Schilling, dann kannst du dir bei Bäcker Gundersen Kuchen dafür kaufen, wenn du nur still sein willst.«

»Laß, laß meinen Arm los! O, ich sterbe, er ist ganz kaput!«

Nun gab's einen allgemeinen Aufstand. Alle Fenster wurden geöffnet, alle Köpfe guckten heraus, alle riefen und fragten, ob ich ermordet würde. Mutter stand auf der Treppe und winkte mit einem Staubtuch. »Bist du denn närrisch, Kind? Was ist denn los? Komm hierher!«

»Ich kann nicht Mutter, ich kann nicht gehen, denn ich habe mir den Arm abgerissen, ich kann nicht mehr mithelfen!«

Nein, ich hatte auch schon mehr wie genug geholfen jetzt; da lag ich vor der Treppe und mußte unter Jammern und Weinen heraufgetragen werden.

Ich vergesse nie, wie gräßlich es war, wenn man mich anrührte! Mutter wurde ganz erschrocken. Man sandte nach dem Doktor. Alle kamen vom Hof hereingestürzt, um zu hören, was mir fehlte, und des Vogtes Karen stand ganz verzweifelt in der Tür und schluchzte und weinte; sie hatte mir ja ganz gewiß nicht weh tun wollen, sie wollte nur etwas Spaß mit mir machen und hatte gar nicht daran gedacht, mir etwas zu zerbrechen.

Mutter wollte zuerst nicht glauben, daß ich mir etwas gebrochen hatte, sie meinte, ich hätte mir wohl nur eine Sehne verrenkt. Inzwischen saß ich da und ließ die Flügel hängen wie ein angeschossenes Huhn, aber als ich sogar mittags meinen Arm nicht aufheben konnte, um Sagosuppe mit Rosinen zu essen, fing Mutter an bedenklich zu werden.

Emma war natürlich gleich herunter gekommen und war sehr gespannt, was der Doktor sagen würde.

Endlich kam Doktor Winsnaes. Sonst war es immer so nett, wenn der Doktor kam, denn dann gab's Wein und Backwerk vormittags. Vater und Mutter mochten ihn sehr gern leiden, und wir Kinder auch, aber als er jetzt hereinkam und ganz feierlich aussah, war es gar nicht nett. Ich mußte ja untersucht werden. Das tat natürlich schrecklich weh, und ich kämpfte mit den Tränen, aber Winsnaes scherzte und plauderte sie fort, während er mich ganz vorsichtig und leise untersuchte. Ja, das Schlüsselbein war gebrochen, daran war kein Zweifel. Wenn ich den Arm nur ein ganz klein wenig bewegte, schob sich der eine Knochen über den andern, das konnte ich selbst fühlen.

»Aber in sechs Wochen bist du wieder ganz gesund, Ågot,« sagte Winsnaes, während er den Arm in eine Binde legte und sie viele Male fest um die Brust schlang, denn ich sollte den Arm nicht im allergeringsten bewegen. Die ersten Nächte konnte ich auch nicht liegen, sondern mußte in dem großen Lehnstuhl sitzen, der bei Vater und Mutter hereingesetzt wurde, denn sie wollten mich in den ersten Nächten selbst pflegen.

Ich kann nicht anders sagen, als daß ich meinen Knochenbruch, nachdem die ersten paar Tage vorüber waren, im Grunde genommen recht herrlich fand. Ich war plötzlich Nummer eins im ganzen Hause geworden und bekam alles, was ich wollte. Limonade und Zwieback war das Schönste, was ich mir denken konnte, und Mutter wandte es in allen leichteren Fällen als Heilmittel an – es tat aber auch bei Knochenbrüchen ausgezeichnete Dienste. Mutter wußte überhaupt nicht, was sie mir alles zugute tun sollte. Ich bekam Himbeerbonbons und die feinsten Cholerakuchen von Bäcker Gundersen, jene weißen mit roten Rändern, denn das waren die besten, ja, ich bekam sogar Sirupbonbons, eine braune Schmiere in weißen Tütchen, die Mutter sonst verabscheute, aber jetzt tat sie das nicht mehr, weil sie wußte, daß sie mich damit erfreuen konnte.

Doch hierbei blieb's nicht allein. Das Gerücht von dem, was sich zugetragen hatte, verbreitete sich sehr bald in der ganzen Stadt.

»Denkt nur, Ågot hat einen Knochen gebrochen –« und Mutter bekam eine Menge Besuche, die hören wollten, wie es ginge. Der Vogt mit seiner Frau kam natürlich sofort; sie waren ganz unglücklich. Jungfer Bakke und Thea kamen Ostern mit dem Haubenbeutel und Kuchen, und nun begannen Sendungen aller möglichen guten Dinge über mich zu regnen; ganze Tabletts voll von eingemachten Früchten, Kuchen und Desserts von den Gesellschaften, die in der Stadt gegeben wurden! Sechs Wochen lang tat ich nichts andres als Kuchen und Dessert essen und Märchen lesen. Emma und Nanna besuchten mich unaufhörlich und brachten Blumen und Süßigkeiten mit und fanden es höchst interessant, daß ich einen richtigen Knochen gebrochen hatte. Und das war es doch auch. Fast wie in einem Märchen – und das war mir passiert!

Jeden Tag kam Doktor Winsnaes, um nachzusehen, ob der Verband recht lag, und als vierzehn Tage vergangen waren, bekam ich die Erlaubnis, mit einem lose an der Seite hängenden Kleiderärmel umherzugehen.

Das war der Höhepunkt, denn jetzt sah es aus, als ob ich gar keinen Arm hätte. Alle, die mich sahen, erschraken aufs höchste und fragten, ob ich wirklich meinen Arm verloren hätte, und ich bedauerte beinahe, antworten zu müssen, daß ich nur das Schlüsselbein gebrochen hatte.

Ich dachte jetzt indessen viel daran, wie es wohl zuginge, wenn ein Knochen wieder heilte – wie sah das wohl aus inwendig! Ob er zusammenwuchs, oder ob er sich gewissermaßen zusammenleimte, oder ob er wohl gar nicht heilte. Wenn er es nun nicht tat? Wenn ich nur sehen könnte, ob er heilte! Aber das konnte ich ja nicht. Ich fing nun so allmählich an nachzufühlen, ob er wieder zusammenhing, oder ob der kleine Knochen noch etwas heraustreten konnte! Ja – das konnte er! Wenn ich den Arm nur ein ganz klein wenig bewegte, dann trat der Knochen wieder heraus – und ich fand das so amüsant, daß ich jeden Morgen, wenn ich gewaschen wurde, ganz im stillen untersuchen mußte, ob er inwendig heilte. Er heilte gewiß nicht viel.

»Hier kannst du meinen Knochen sehen – er ist noch ganz entzwei,« sagte ich eines Morgens zu Kristin, dem Kindermädchen. Doch Mutter sagte später: »Gottlob, jetzt sind diese Wochen herum, morgen kommt Winsnaes und nimmt den Verband ab.«

Sie war überglücklich, daß ich nicht lebenslang ein Krüppel geblieben war.

Und Winsnaes kam und untersuchte sehr genau.

»Aber wie hängt das zusammen? Es ist ja gar nicht geheilt – das ist doch höchst merkwürdig!« sagte Winsnaes, und er schob seine goldne Brille auf die Stirn herauf und sah mich mit einem eigentümlich forschenden Blick an. Ich fühlte, daß ich bis unter die Haare rot wurde. Der Verband lag ja doch richtig.

»Du – hast – wohl – nicht den Arm bewegt?«

»Ja – manchmal ein bißchen – um zu sehen, ob es ›ordentlich‹ heilte.«.

Da mußte Winsnaes lachen. Ja, dann!

»Derartige Untersuchungen wirst du in Zukunft mir überlassen, und jetzt müssen wir einen neuen Verband anlegen. Das werden noch einmal sechs Wochen,« und nun wurde es so gründlich gemacht, daß ich nicht mal einen Finger rühren konnte, und als auch diese sechs Wochen vorüber waren, kann ich nur sagen, daß ich herzensfroh war, weder einen gebrochenen Knochen, noch einen Ärmel zu haben, der lose an der Seite hing, denn auf die Dauer war es doch gar nicht hübsch.

»Sagte Großvater nichts – als du das Schlüsselbein gebrochen hattest?« fragt Bubi, denn der will immer am liebsten wissen, was Großvater gesagt hat.

»Ja, er sagte, tollen Hunden wird das Fell gegerbt, mein kleiner Wildfang, du –« und dann klopfte er mich auf den Kopf.

»Hat er dir damals alle die lustigen Schmeichelnamen gegeben?«

»Ja – – nein – ich glaube fast, das war früher.«

»Wie war es noch, Mutter, bitte, sag's noch einmal.«

»Ose – Fjose – Gose – Nebbenose – Grisille – Fantefille – Pimpenille – Snusperine – Beckasine – Tanzepüppchen, kleine Ågot, Gänseliesel,« sagte Großvater.

Dann sagte er nichts mehr. Und das war auch nicht nötig, denn das war so schön gesagt, wie es nur sein konnte.

* * *


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