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»Vêtirons-nous de blanc une molle élégie!«
(A. de Musset.)
In der fröstelnden Frühstunde eines wundervollen Sommertages war Frithjof Andersen von Toblach aufgebrochen. Er hatte sich in der letzten Zeit überarbeitet, nun atmete er ordentlich auf. Der Automat war in der Hut seines stummen Dieners zurückgelassen. Es hatte ihn Mühe gekostet, sich herauszureißen, aber es mußte sein, seine Nerven waren zu sehr angegriffen. »Ach,« dachte er, »wie gerne würde ich tauchen in jenes überirdisch blaue Äthermeer dort oben, durch das der zitternde Lichtglanz zu tönen scheint, als ob man alle Engel im Himmel singen und geigen hörte.«
Der Gelehrte trug ein modernes Lodenkostüm und fühlte sich – aus seiner Tätigkeit herausgerissen – außerordentlich wohl. Es war kein Zufall, der ihn gerade hierher führte. Er hatte den Ort im vergangenen Sommer entdeckt und war davon entzückt gewesen. Überdies hatte sich Herr Woppl, mit dem er bisher in gar keinen Beziehungen gestanden, plötzlich in einem ausführlichen Schreiben an ihn gewandt und um eine Zusammenkunft gebeten.
Mit doppelter Spannung hatte er die Riemen seiner Koffer und Handtaschen angezogen und mit dem Blitzzug ging es durch Tag und Nacht in die Weite. In Toblach, wo in rosiger Morgenfrühe der letzte grelle Pfiff hinter ihm verklang, warf er noch den letzten Blick voll Rührung auf den Stahlelephanten, der ihn hergetragen, und sprach salbungsvoll: »Du herrliche Lokomotive! Was müssen das für schäbige Poeten sein, die nicht Geist und Reime finden, Dampf und Elektrizität zu besingen, deren Leier noch immer die Poesie lahmer Postgäule und blinder Ölfunzeln zirpt!« Der letzte Kohlendunsthauch des Bahnhofs verzog hinter ihm. Der Atem der Natur hatte feine Phantasie, die mit Zahlen und Formeln überquält war, in graziösen Schwung versetzt. Den biblischen Wanderstab in der Hand zog er bergauf, der Sonne entgegen – und seinem Schicksal! In der wunderbaren Frische der Frühe, die ihn hob und zu tragen schien, schwebte er den tannenumkragten Gipfeln zu, deren bröckelnde Felsen im Frühlicht wie Eisenfluß rot glühten. Ihm war so licht, so zukunftsfreudig! Sein Werk auf dem Weg der Vollendung, und was für ein Werk! Das größte aller Zeiten! Allerdings beschlich ihn etwas Unruhe: Er hatte den Androiden unter dem Schutz seines Dieners Gunnar zurückgelassen. – Aber er schüttelte das Mißtrauen ab. Er fühlte sich so heiter und sicher! Ihm war, als ob er in diesem Augenblick das Schicksal in der Hand hielte, überzeugt, daß es ihm jeden Wunsch gewähren müsse, jeden! Und er sprach ihn aus, diesen Wunsch. Suchte er doch überhaupt seine Sorgen einzuschläfern, die nagenden Zweifel, ob sein Werk überhaupt gelungen sei! Ob die Welt es anerkennen werde? Und dann Geld, er brauchte Geld! Und endlich fühlte er sich einsam! Er fühlte das tiefste Bedürfnis der Menschennatur in sich erwachen – erwachen mit elementarer Macht!
Indem er talaufwärts schritt, die schöne Landstraße am Toblacher See vorbei, sprach er vor sich hin: »Im Angesicht des unsterblichen Alls, dieser Höhen, die zwar langsam, aber unaufhaltsam zu Tale wandern, dieser weißen Sonne, von der sich Wärme- um Wärmewelle, Licht- um Lichtwelle goldig lösen, um als Blüte und Leben fortzufluten durch die seelenvolle, sehnsuchtsheiße weit, bis hinaus in die Unendlichkeit, – dieser Feuerströme, die durch alle Herzen, zuckende Herzen, lohend schießen als Daseinsdrang und Daseinskraft! Die dann weiter, immer weiter durch Erd- und Weltweiten fortschwälen, fortschwingen, fortklingen! – Dieser Gletscherlüfte, die erquicken und entzücken, betäuben und befrein, die unsere Hautnerven rauh anfassen und all' unsere Sinne emporzuziehen scheinen, auf Vogelfittigen, nach jenen ewig unwandelbaren, eisstarren Höhen – beschwöre ich dich, Geschick!« – Er hob die Hände empor wie die Propheten auf biblischen Bildern. – »Gib mir zur Freude, die mich durchzittert, ein Wesen, das mir gleich empfindet! Eine zarte Seele, die mit meiner verschmilzt! Ein Geschöpf, zierlich, einfach und schlicht! Dessen ganzer Lebenswert im Gemüt, dessen ganzes Gemüt im Auge liegt! Ein Wesen, das nur mich liebt! Wein Sinnen und Denken und meine Lebensarbeit! – Und für die wiederum allein ich Sinne haben könnte und Opfertrieb und Arbeitsmut! – Ein zweites Ich, bewundernswert in seiner Güte, in seinem feinen Verständnis! Eine Mitarbeiterin, einen Kriegskameraden – mit einem Wort: ein Weib.«
Die Angelegenheit wurde dadurch schwieriger, daß er an keines der Mädchen dachte, die er kannte. Sein Sinn war auf eine neue Vision gerichtet, eine Mischung von Julia und Gretchen, Kleopatra und Desdemona, Eleonore und Beatrice – – Lydia und Ethel! – – Ethelydia! – Für alle Fälle auf etwas, das es gar nicht gab.
Frithjofs Auge, lichtsaugend, hing an den Bergen. Der Geist, noch immer rückwärts gewandt, löste sich von den Grübeleien über die schwersten Probleme seiner Maschine. Um sich, in den Lüften, in den Wäldern und im Sonnenschein sah er dieselben Gesetze, dieselben treibenden federn, chemischen Äquivalente, Gleichgewichts- und Bewegungsprinzipe, nach urewigen Gesetzen und Formeln, ein endloser Automatismus! Nur alles ins Großartige gedehnt, zu einem unendlichen Gegenspiel, einer sich unaufhaltsam neeugebärenden, wundervollen Schöpfung. Im Anblick dieses lichtherrlichen, vielgestaltigen Webens, in diesem Haschischrausch eines Sommermorgens, ergriff ihn ein seelischer Taumel. Er, die »geborene Maschine,« verwechselte Gesetz mit Geschick, Zwangläufigkeit mit Zufall, Berechnung mit Wunsch! Das Schicksal schien ihm offenbar in Gebelaune! Jeden Wunsch, aber jeden, mußte es ihm gewähren! Es mußte! Nicht umsonst lachte hoch oben ein überglücklicher Himmel aus zartblauer Seide mit goldflockigen Wölkchen – ein Hochzeits-Baldachin.
Er wunderte sich sogar noch über seine Bescheidenheit. An diesem Himmelstag hielt das gütige Schicksal die Hand offen hin: Gebelaune! Er wußte, daß er nur einfach zuzugreifen brauche! Also etwa: Eine amerikanische Erbin, eine moderne Pariser Prinzessin aus einem Ohnetschen Roman, Fatma, die feenkundige Erzählerin aus Tausend und einer Nacht, die göttlichsten der Göttinnen altgriechischen Zauberlandes, etwa die Reizgewaltige von Knidos – oder die von zartgrauen Tauben im Goldgewölk Emporgetragene von Paphos, oder gar die liebe, keusche von Melos –, oder zum allermindesten eine Geheimratstochter!..
»Nein!« sagte er sich, »aus der fidelen Goldblechbüchse Pandoras voll hold-verführerischer Klänge, voll silberheller Stimmen sinnlicher Lust und paphischer Tollheit, voll Mondscheinsonaten und geheimrätlichem Berliner Französisch, hole ich mir nur das Zuunterstliegende, den bescheidensten aller Wünsche (er lachte über seine Bescheidenheit), vielleicht zugleich das höchste aller Güter: Ein gutes Weib!« ….
Armer Frithjof, er sollte noch Enttäuschungen erleben!
Don Herrlichkeiten der Natur gehoben, von trügerischen Träumen getragen, langte er, noch ehe er's ahnte, in Landro an. Er, sah zum zweitenmal den entzückend idyllischen Ort und elegisch seufzte er:
»Rechts sind Bäume! links sind Bäume!
Und dazwischen Zwischenräume!
In der Mitte fließt ein Bach! – … Ach!«
Rechts sah er drei Häuser und links vier. Dazwischen zieht die breite Fahrstraße im Schoß der Berge dahin, eine ärarische Musterstraße – Frithjof freute sich ordentlich, daß er sich von Gunnar sein Zweirad hatte vorausschicken lassen. – Ringsum eingeschlossen zwischen Tannen, zwischen Fels, Geröll und Wildbächen. Wie freute er sich hier dahinzusausen, um die Wette mit dem noch ungeborenen Wesen seiner Träume! Vorbei am regungslos grünen See, dem Dürrensee! Durch die Heimlichkeiten und Düsterkeiten dieses Stein- und Waldlabyrinthes hindurch, das von der Wasserscheide nach Cortina in anmutig-üppiges Südland sich niedersenkt.
Es war 10 Uhr, als er in Landro anlangte, und die Sonne in voller Entwicklung. Von hier unten aus gesehen erschien Frithjof der Monte Piano, die Zinnen, der Dürrenstein, der Monte Cristallo, all' die Bergriesen und Gletschermassen zierlich drohend, elegant-gigantisch. Ein feiner Duft- und Staubton verlieh den Felsgewaltigen eine vornehm müde, salonmäßig abgestimmte Erhabenheit. Der Piz Popena, der Cristallo und die Cristallini kamen ihm wie eine wohlerzogene Spitzenfamilie von Eltern, Kindern und Enkelchen vor. Insbesondere die erwachsenen Kristalle waren von tadellosen Formen, von sehr achtenswerter Korrektheit. Die Goldreflexe am Himmel und an den Steinschroffen schimmerten vieille d'or, die zu Geröll gepulverten Steinwände gris perle, die wilden Zacken waren vielgestaltetes Filigran, die Gletscher jungfräulich-weißer Crèpe de Chine, Tannen- und Föhrenwälder wie staubig grüne Samtdecken aus Prunkgemächern des Mittelalters, über die Leiber der Höhen geworfen; die Gipfel hier rötlicher Rost, dort cuivre poli mit Patinaansätzen von Büschen, Gräsern und Moos; der See ein tiefgrüner, gewaltiger Spiegel in kunstherrlichem, reichem Phantasierahmen, dem Traumgebilde eines Künstlers! – Kurz, Frithjof hatte die Empfindung, daß es eine Natur sei, geschaffen für die beste Gesellschaft! Für Mädchen in einfach rosigen und beinahe vom Tailleur raffiniert entworfenen Mousselinkleidchen, anspruchslos ganz nach der neuesten Mode. Mit weißen Glacés, weißen, offiziell noch nie gestrauchelten Halbstiefelchen der Unschuld. Für Damen, wie er sie dort drüben auf der Wiese am Bergabhange graziös das Racket schwingen sah, in stimmungsvollen Wellenlinien des Leibes und sentimental erregenden Wogen der Hüften:
» Fifteen, Thirty, Forty, Game!«
So hörte er die lustigen Stimmen rufen.
» Eh bien!« sagte sich Andersen, wie er die Straße hinaufgeht: »Da ist ein ganzer Haufen Gäste. Und junge Damen wie Sand am Meer. Jetzt braucht unter ihnen nur noch jene zu sein, die ich mir gewünscht, und mir lieb und vertrauenerweckend entgegenzukommen. Wie schön dies wäre! … O Schickung! Schickst du nur nicht das Glück entgegen?! Mut machte ihm die Erinnerung an die Watteausche Idylle aus der Bibel, die ihm seine Mutter in stillen Winternächten vorgelesen: Wie der treue Diener des Erzvaters in fremdes Land zog, damit er dem Sohn seines Herrn ein junges Weib freie. Frithjof versetzte sich ganz in jene Rolle. Da trat er an den Brunnen, ein unbekannter Wanderer auf Palästinas sonnengedörrten Straßen, er traf die anmutige Wirtin, bat um einen Trunk Wasser. Die Wirtin, liebenswürdig, wie nur die zukünftige Braut eines Erzvaters sein kann, ohne zu ahnen, daß ein Brautwerber vor ihr stünde, erwidert mädchenhaft hold und hilfsbereit indem sie den schweren Steinkrug an seine Lippen hebt:
»Trinke! Und auch deinen Kameelen will ich zu trinken geben!«
»Bei Gott!« sagte der staubbedeckte, müde Wanderer zu sich, »welches Lächeln, ein Sonnenstrahl!« – – »Beim Gotte meines Herrn, des ersten der drei Stammväter Israels und der ganzen Christenheit, welche Güte! Welche Grazie! Die ist es! Die sei es! Die und keine andere!«
Ja, die Bibel! wie zart-idyllisch und feinfühlig in dem heiligen Buche ein Mädchen für einen Trunk Wasser mit einem netten und gutsituierten Bräutigam belohnt wird?! »Warum,« dachte Frithjof, »haben unsere five o clock tea's kaum ein Hundertstel dieser magisch-heilig verlobenden Kraft!«
Diese Erinnerung weckte in Frithjof das Bedauern, daß er sich auf der Landstraße von Landro befände, wo alles leider nur gentleman- und ladylike zugeht, wo es keine Nomaden gibt, großgesäugt am Herzen der Natur und natürlich empfindend wie Mensch zu Mensch. Wäre die fromme Schäferwelt des Orients mit ihrem üppigen Palmenlaub, ihrem Sonnenbrand, ihren Lämmlein emporgetaucht, und sie, die schlanke Blonde mit den blauen Sternen und der Pariser Coiffure trüge den Krug auf dem lieblichen Haupte und wäre bereit, den Schmachtenden zu stillen und zu tränken – – wie stünde er da vor ihr? In hochmoderner unidyllischer Lodenjoppe und Kniehosen? Und hinter ihm fehlten die Prüfer des guten Herzens, die Kameele!
Das erste, was Frithjof in Landro in die Augen fiel, als er sich umsah, war ein kleines Schild. Darauf stand: »Josef Forcher. Bergführer und Schuster.« Der erste Gedanke, der Frithjof durchblitzte, war: Stiefel nageln und eine Bergbesteigung! Er trat in die Werkstatt, da saß der Schuster auf seinem Schemel, fleißig klopfend. Als der Gelehrte und Stubenhocker von den schönen schwierigen Partien reden hörte, schwoll ihm das Herz. In Gedanken kraxelte er schon über Felsstürze, stemmte sich mit Füßen und Händen durch unerhörte Kamine, hing schon am Seil über grausigen Abgründen! Er hätte den Schuster umarmen mögen. Was war Sepp für eine angenehme Persönlichkeit! Gleich bestellte er sich ein Paar der dicksten Bergschuhe mit »Sohlen wie Bretter und einer Eisenladung Nägel«. Dabei fiel sein Auge auf einen Gänsemarsch reparaturbedürftiger Schuhe. Der letzte war hilflos klein und weiß.
»Unglaubliche Eitelkeit, ein Kinderschuh mit so hohen Absätzen!«
Der tüchtige Sepp lächelte: »Dös san ka Kinderschuh, die g'hörn an schönen blonden Fräuln.«
Frithjof stutzte: »Wirklich? ein ausgewachsenes Fräulein?«
»Und wie a ausg'wachsene! A fesch' und saub'res Madl, sog i Ihna, a Blonde!»
»Ah!« sagte Frithjof, »wenn ein Tiroler a saub'res sagt, dann ist's auch unzweifelhaft ›a saub'res.‹« Plötzlich fiel ihm sein Wunsch ein. Kam ihm nicht an diesem Zaubertag dieser Frauenschuh gewissermaßen entgegen?! »Daß er so weiß ist! Fein, zart, fast schwedisches Handschuhleder! Gar kein Gebrauchsgegenstand, ein Künstlerscherz! Etwas recht Appetitliches! Zierlich bis zum Abstrakten! Und noch dazu eine Blondine!« Laut fügte er hinzu: »Das ist ja der Schuh meiner Frau!«
»Na,« sagte der klassische, kluge Sepp, der wie alle Tiroler Bauern etwas Homerisches an sich hatte, »Wann's Eanere Frau no nit is, so kann sie's ja no wer'n. G'fehlt wär's nöt!« Und er stieß einen Juchzer aus.
Frithjof drückte ihm die Hand, der hatte das Herz auf dem rechten Fleck.
»A saubers Dirndl und a Blonde! Juchhe!« dachte Andersen. Er juchhe'te aber als wohlgezogener Mensch nur innerlich, war das nicht ein Wink des Schicksals! Er gab sich mit allem Humor der Wollust sanguinischer Hoffnungen hin. Er sagte sich: »Es ist eine Entschädigung, die das Geschlecht des Zufalls und der Träume, der Sklave unerbittlicher Naturgesetze, die das Konglomerat von Millionen von Zellen, Mensch geheißen, vom Himmel fordert: Zeichen und Wunder! Er will sich an nichtssagende Schicksalszeichen anklammern. Dieser weiße Schuh ist für mich ein kabbalistisches Zeichen.«
Frithjof stellte den Schuh neben einen klobigen, eisenbeschlagenen Bergstiefel hin und dachte: »Wie rührend das kleine weiße Ding im Schatten des Riesen aussieht! Eine Taube vom Rosenmuschelwagen der paphischen Venus … neben einem Elephanten Brahmas!«
Sepp sah ihm zu und stieß nochmals ein »Juchhe« aus. Diesmal war es leiser und diskret pointiert.