Salomon Geßner
Idyllen
Salomon Geßner

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Idas. Mycon.

Sey mir gegrüßt Mycon! du lieblicher Sänger! Wenn ich dich sehe, dann hüpft mir das Herz vor Freude; seit du auf dem Stein beym Brunnen mir das Frühlings-Lied sangest, seitdem hab ich dich nicht gesehen.

Mycon. Sey mir gegrüßt Idas, du lieblicher Flötenspieler! Laß uns einen kühlen Ort suchen, und in dem Schatten uns lagern.

Idas. Wir wollen auf diese Anhöhe gehn, wo die grosse Eiche des Palemons steht, sie beschattet weit umher, und die kühlen Winde flattern da immer. Indeß können meine Ziegen an der jähen Wand klettern und vom Gesträuch reissen; sieh wie die grosse Eiche die schlanken Äste herum trägt, und kühlen Schatten ausstreut, laß hier bey den wilden Rosen-Gebüschen uns lagern, die sanften Winde sollen mit unsern Haaren spielen. Mycon! diß ist mir ein heilger Ort! O Palemon! diese Eiche bleibt deiner Redlichkeit heiliges Denkmal! Palemon hatte eine kleine Herde; er opferte dem Pan viele Schafe, o Pan! bat er, laß meine Herde sich mehren, so kan ich sie mit meinem armen Nachbar theilen, und Pan machte daß seine Herde in einem Jahr um die Helfte sich mehrte, und Palemon gab dem armen Nachbar die Helfte der ganzen Herde, und er opferte dem Pan auf diesem Hügel, und pflanzt' eine Eiche, und sprach: O Pan! dieser Tag sey mir heilig, an dem mein Wunsch sich erfüllte, segne die Eiche, daß ich jährlich in ihrem Schatten dir opfere; Mycon! soll ich dir das Lied singen, das ich immer unter dieser Eiche singe?

Mycon. Wenn du mir das Lied singest, dann will ich diese neunstimmige Flöte dir schenken, ich selbst habe die Rohre mit langer Wahl am Ufer geschnitten, und mit wohlriechendem Wachs vereint.

Idas sang izt.

Die ihr euch über mir wölbt, schlanke Äste, ihr streut mit euerm Schatten, ein heiliges Entzüken auf mich; Ihr Winde, wenn ihr mich kühlt, dann ists als rauscht' eine Gottheit unsichtbar neben mir hin! Ihr Ziegen und ihr Schafe schonet, o schonet! und reißt das junge Epheu nicht vom weissen Stamm, daß es empor schleiche und grüne Kränze flechte, rings um den weissen Stamm. Kein Donnerkeil, kein reissender Wind soll dir schaden, hoher Baum! Die Götter wollens, du solt der Redlichkeit Denkmal seyn! Hoch steht sein Wipfel empor, es siehet ihn fernher der Hirt, und weist ihn ermahnend dem Sohn; es sieht ihn die zärtliche Mutter, und sagt Palemons Geschichte, dem horchenden Kind auf der Schooß. O pflanzt solche Denkmal' ihr Hirten! daß wir einst voll heilgen Entzükens, in dunkeln Hainen einhergehn.

So sang Idas, er hatte schon lange geschwiegen, und Mycon saß noch wie horchend, ach Idas! Mich entzükt der thauende Morgen, der kommende Frühling entzükt mich, noch mehr des Redlichen Thaten.

So sprach Mycon, und gab ihm die neunstimmige Flöte.


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