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An Bord hatten einige Matrosen das Abstoßen der Boote mit innerlichem Jubel begrüßt. Sie fühlten ihr Fahrzeug frei. Kaum noch eine halbe Stunde, und der Lotse ging von Bord. Dann umgab sie die weite blaue See ohne jede Polizeikontrolle, dann lachte die langersehnte Freiheit. Und was für ein neues, wildes, abenteuerliches Leben lag vor ihnen, wenn sie auf dem eigenen Schiff zu den wundervollen Inseln der Südsee fuhren oder durch die Torresstraße in den Ostindischen Archipel!
Holleck hätte am liebsten laut aufgejubelt, als ihm Bob die Freudenbotschaft in das Vorcastle hinabrief: »Sie sind fort! Alles klar!« Mit einem Satz war er aus der Koje und mit einem zweiten an Deck, um sich selbst von der Wahrheit zu überzeugen. Jetzt konnte er auch Rache dafür nehmen, daß er als Verbrecher entlarvt wurde und fliehen mußte. Rache wollte er nach Herzenslust haben!
»Jetzt könnte so ein kleiner, gemütlicher Sturmwind wehen!« lachte der neben ihm stehende Bob vergnügt. »Der alte Kasten zieht so langsam durchs Wasser, als ob er seine beiden Anker noch hinterherschleppen würde. Na – was haben die jetzt da bei den Booten?«
»Der Leutnant wird mit der Wasserpolizei fahren wollen«, sagte Holleck mit einem tückischen Lächeln. »Er steigt das andere Boot.«
»Da drüben geht auch Patrick mit seinem Boot.«
»Was zum Teufel wollen denn die da unten?« flüsterte Holleck. »Sie drehen doch tatsächlich den Bug wieder zu uns zurück!«
»Höll und Verdammnis, sind wir die Kanaillen denn noch nicht los? Ich hätte Lust, dem ersten, der seinen Schädel wieder über Bord zeigt, eine Kugel zu verpassen!«
»Bramsegel los!« rief der Kapitän vom Quarterdeck aus. Er hatte ebenfalls die Bewegung der Boote bemerkt und wünschte keinen Besuch mehr an Bord.
»Das Polizeiboot hält noch einmal auf uns zu, Kapitän«, sagte der Lotse.
»Ich habe mit der Polizei nichts mehr zu tun«, brummte der Kapitän. »Sie sollen mich in Ruhe lassen. Na, wird's bald?«
Ein paar Leute liefen an den Wanten hinauf, um den Befehl auszuführen. Da bemerkte Leutnant Beatty, daß sie das Schiff nicht mehr einholen konnten, und schwenkte seine Mütze.
»Der Offizier gibt ein Zeichen«, sagte der Lotse. »Wollen Sie nicht das Vormarssegel backbrassen lassen?«
»Verdammt, wenn ich's tue!« brummte Becker zwischen den Zähnen hindurch.
»Dann muß ich's tun, Kapitän«, entschuldigte sich der Lotse. »Ich werde sonst bestraft. Bin ich von Bord, können Sie machen, was Sie wollen. Aber jetzt habe ich die Verantwortung.«
»Ihre Strafe nehm ich auf mich«, sagte der Kapitän. »Hol's der Teufel, mir brennt der Boden unter den Füßen. Wenn ich die Ebbe versäume, kann ich noch einmal zwölf Stunden liegenblieben und erneut Ankergeld bezahlen.«
»Nicht, wenn Sie auf Befehl der Obrigkeit anhalten. Die Boote kommen wirklich nicht mehr mit. Entschuldigen Sie, Kapitän, aber ich kann nicht anders. Steht bei den Haliards zu Starbord! Vormarssegelfalle los! Hört ihr da vorn?«
Niemand rührte sich. Der Segelmacher stand am Steuerrad, Christian und der Junge waren auch nach oben geschickt, der Koch in der Kombüse und die neuen Matrosen schienen den Befehl nicht zu hören.
»Starbordfalle vom Vormarssegel los! Habt ihr die Ohren verstopft da vorn?«
Kapitän Becker fühlte sich höchst unbehaglich. Wenn er sich direkt widersetzte und er kam mit seinem Schiff zurück, dann war der Teufel los. Und wenn der Besuch nun... aber vielleicht hatte ja alles eine andere Ursache.
Der Lotse machte seinem Zweifel ein Ende, indem er sich selbst in das Rad warf. Das Schiff, jetzt in vollem Gang, gehorchte rasch dem Ruder und luvte gegen den Wind an.
»Wenn Sie mir das Schiff auf den Sand setzen, dann haften Sie dafür!« rief Becker erschrocken.
»Aye, Aye, Kapitän«, sagte der Lotse. »Obwohl ich eigentlich nicht verantwortlich sein kann, wenn kein Mann an Bord einem gegebenen Befehl gehorcht. Übrigens gibt es hier keine Gefahr, und wir können getrost bis hundert Schritt ans Ufer fahren.«
Der Bug der »Susanna Baxter« hatte sich dem ankommenden Boot entgegengedreht, und die vorderen Segel schlugen schon im Wind. Das Schiff lag vollkommen still und trieb nur mit der Strömung abwärts. Wenige Minuten später war das Polizeiboot an ihrer Seite.
»Ich wollte, Patrick wäre mit seiner Jolle hiergeblieben«, flüsterte Bob dem noch immer neben ihm stehenden Holleck zu. »Verdammt will ich sein, wenn mir das gefällt – noch dazu ohne die Frauen!«
Holleck erwiderte kein Wort und sah totenblaß aus. Eine verzweifelte Idee tauchte in ihm auf: Ans Steuer springen, den Lotsen zu Boden schlagen und das Schiff gleich hier in der Bai zu nehmen. Aber es war auch nur ein Gedanke, denn er sah den Wahnsinn eines solchen Unternehmens ebenso rasch ein. Die übrigen Matrosen wären gegen sie, die Kanonen des Forts drohten noch herüber, und die Vorgänge konnten mit einem guten Fernglas beobachtet werden. Auf einen Erfolg konnte man nicht hoffen, und sie wären alle dem sicheren Untergang entgegengegangen. Und wer bürgte dafür, daß die Polizei etwas Verdächtiges an Bord bemerkt hatte? Es konnte eine ganz nebensächliche Ursache haben, die sie für den Augenblick zurückbrachte. Übereiltes Handeln hätte da alles verraten und verderben müssen.
Christian und der Junge waren mit ihrer Arbeit fertig und stiegen wieder an Deck herunter. Holleck warf einen wilden Blick zu seinen Leuten, aber sie waren alle über das Deck verstreut. Wenn er sie jetzt auch zusammenrief, wäre eine Absprache nicht mehr möglich gewesen, denn schon scheuerte das Polizeiboot an Bord. Holleck durfte sich nicht der Gefahr aussetzen, hier gesehen zu werden. Deshalb stieg er noch einmal in das Vorcastle hinunter, legte sich aber nicht in die Koje. Was jetzt auch kam, er wollte wenigstens bereit sein.
»Na, Mr. Beatty«, sagte der Kapitän nicht gerade freundlich. »Welchem Glücksfall verdanke ich die Ehre Ihres erneuten Besuchs?«
»Sie haben recht, Kapitän«, sagte der junge Mann. »Es ist ein unvorhergesehener Glücksfall für Sie, denn Sie entgehen dadurch wahrscheinlich einer größeren Gefahr, als Ihnen Meer oder Sturm bringen könnten.«
»Bin neugierig«, meinte Becker und wünschte heimlich den Leutnant zu allen Teufeln.
»Zwei von euch bleiben unten im Boot. Mr. Pitt und Mr. Hafften, darf ich Sie nach oben bitten? Und haltet euch nachher so weit von Bord ab, daß sich niemand von oben hineinwerfen kann, verstanden?«
»Aye, aye, Sir...«
»Jetzt sagen Sie mir aber, was Sie eigentlich haben«, bat Mr. Pitt, als er der Einladung folgte.
»Was ist denn passiert?« rief auch der rasch herbeikommende Charles, der bis jetzt mit Gertrud hinten am Spiegel gestanden und die ständig wehenden Grüße seiner Mutter und Schwester beantwortet hatte.
»Schicken Sie Ihre Frau in die Kajüte hinunter, Charles«, sagte aber Beatty, ohne die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. »Wir bekommen vielleicht Arbeit hier oben. Was haben Sie an Waffen bei sich?«
»Waffen? Gegen wen? Zwei Revolver, die unten in der Kajüte liegen.«
»Kommen Sie rasch damit herauf und nehmen Sie Ihre Frau mit hinunter. Kapitän, wir müssen Ihre Leute mustern.«
»Meine Leute?«
»Natürlich können Sie nicht wissen, wen Sie an Bord haben«, sagte der Leutnant. Becker konnte den Blick nicht aushalten, den er auf ihn heftete. »Wenn mein Bericht genau ist, so befindet sich Holleck hier an Bord. Ist er da, haben wir zugleich ein kleines Nest Bushranger mit ihm.«
»Holleck! Der Schuft hier an Bord?« rief der alte Mr. Pitt. Aber schon bei dem ersten Laut mahnte ihn Beattys gehobene Hand, vorsichtig zu sein. Ein rascher Blick umher überzeugte ihn, daß seine Leute schon tätig gewesen waren. Einer von Hollecks Begleitern war nämlich von dem Steuermann zusammen mit Christian an die Pumpe gestellt worden, um zu sehen, ob das Schiff Wasser aufnahm. Er gab sich dabei viel Mühe, sein Gesicht abzudrehen, und erregte gerade dadurch den Verdacht der Polizisten.
»Hallo, Jenkins, wie geht's?« sagte der eine von ihnen, trat dicht an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Freut mich, dich wiederzusehen, mein Bursche. Ruhig, ganz ruhig, mein Freund, keine Bewegung, oder ich blase dir mit dem Ding da ein Loch durch den Hirnkasten. Ned, leg ihm die Darbies an.«
Der Verbrecher warf einen scheuen, verzweifelten Blick umher, aber seine Kameraden waren weit entfernt, und der Polizist stand mit gespanntem Revolver neben ihm. Er sagte kein Wort, sondern streckte gehorsam die Hände aus und war im nächsten Moment in Eisen.
»Da, sehen Sie«, sagte Beatty zu Becker gewandt. »Das ist der Anfang. Paßt auf das Boot da drüben auf, das wieder zurückgerudert kommt«, rief er plötzlich dem unten treibenden Polizeiboot zu. Er hatte Patrick gesehen, der bei der verdächtigen Bewegung des Schiffes wieder langsam näher kam. »Also, meine Herren, an die Arbeit. Wen haben Sie da, Withers?«
»Oh, einen alten Bekannten, Sir, den wir hier allerdings nicht vermutet hatten.«
»Ihr habt vorher eure Pflicht unverantwortlich vernachlässigt. Weshalb wurden die Leute nicht gleich gemustert, wie der Befehl lautete?«
»Ja, Sir, die Papiere... und der Kapitän...«
»Ihr habt euch weder um Papiere noch Kapitän zu kümmern! Hinunter ins Boot mit dem Mann, und wenn er sich widersetzt, schlagt ihm ein Ruder auf den Schädel.«
Der Vorgang war von den anderen mit Schrecken bemerkt worden. Sie wußten jetzt, was sie erwartete, aber noch immer fehlte ihnen der Entschluß zum Handeln.
»Bill«, flüsterte Bob in das Vorcastle hinunter, »sie haben Jenkins in den Darbies. Wollen wir warten, bis die Reihe an uns kommt? Jetzt geht's doch in eins hin. Patrick hat sein Boot wieder hergedreht, er ist kaum hundert Schritt von Bord entfernt.«
Holleck zögerte noch. Er wußte, was ihn erwartete, und Flucht war sein einziger Gedanke. Es kümmerte ihn nicht, was aus den anderen wurde.
»Na, zum Teufel, was geht hier vor?« sagte der Steuermann, der zu ihnen trat. »Was steht ihr auf einer Stelle und habt Maulaffen feil? An die Arbeit! Wer euch für Matrosen ausgegeben hat, soll es am jüngsten Tag verantworten!«
»Verfluchtes Schiff!« knirschte Bob zwischen den zusammengebissenen Zähnen durch. »Als ob ich es mir nicht gedacht hätte, daß der faule Kram so enden würde! Jetzt sitzen wir in der Falle!«
»Na, wird's bald?« rief der Steuermann, der sich wenig um die Polizei kümmerte. »Wer steckt denn da unten? Herauf da, alle Mann mustern!«
»Komme schon«, sagte Holleck, der bis jetzt noch unschlüssig auf der Treppe des Vorcastles gestanden hatte. Er stieg langsam nach oben.
In diesem Augenblick kam Beatty an der Steuerbordseite heran. Zwei Polizisten und zwei Bootsleute begleiteten ihn, und Mr. Pitt hatte sich mit Hafften auch angeschlossen. Charles war noch unten in der Kajüte, seinen Revolver rasch zu laden. An der Steuerbordseite konnte er aber auch Patricks Boot erkennen, das jetzt kaum noch fünfzig Schritt vom Schiff entfernt lag. Patrick handhabte seine Ruder mit langsamen, aber kräftigen Zügen.
Auf demselben Gangweg kam auch der Kapitän nach vorn.
Hollecks Gesicht hatte jeder Blutstropfen verlassen. Aber unter der Jacke hielt er den gespannten Revolver. Der kleine Trupp seiner Freunde stand finster und unschlüssig, ob sie sich in das Unvermeidliche fügen oder es jetzt hoffnungslos bis zum Äußersten treiben sollten.
Kapitän Becker hoffte, wenigstens das letzte zu vermeiden. Ohne Waffen kam er heran, und als er Holleck bemerkte, rief er ihm zu:
»Mr. Holleck, es tut mir leid, aber...«
»Schuft!« zischte der Verbrecher zwischen den Zähnen durch. Er glaubte in diesem Augenblick, daß der Kapitän ihn verraten hatte. Ein Blick auf das Boot überzeugte ihn, daß Patrick in der Nähe war. Die Bootsleute in dem Polizeiboot hatten über ihrem Gefangenen den erhaltenen Auftrag ganz vergessen, zumal Patrick auch durch das Schiff verdeckt wurde.
»Schuft! Du sollst wenigstens deinen Lohn haben!« Er riß den Revolver heraus und feuerte in blinder Wut auf den zurückprallenden Seemann.
Die aus solcher Nähe abgesandte Kugel wäre für Becker unbedingt gefährlich geworden, hätte ihn nicht hier eine Hand gerettet, von der er es am wenigsten vermutete.
Hannes, der unglückliche Schiffsjunge, sah zu seinem großen Erstaunen die kriegerischen Vorbereitungen an Bord und wußte nicht, was er davon halten sollte. Neugierig war er nach vorn zu dem Logis gelaufen und starrte die Leute verwundert an. Als er sich aber umdrehte, sah er den Kapitän dicht hinter sich. Im Bewußtsein, hier eigentlich gar nichts zu suchen zu haben, wollte er eben um den Vormast herum und sich zur anderen Seite drücken, als Holleck den Revolver aus der Tasche riß.
Ob der Junge nun glaubte, daß der Angriff ihm galt, oder ob er in einem Anfall von verzweifeltem Mut handelte – er schlug jedenfalls die drohende Waffe nach oben und schrie:
»Wullt ji schießen?«
Das rettete den Kapitän. Zwar warf Holleck mit einem einzigen Schlag seiner linken Faust den Jungen beiseite, aber da flog der Steuermann herbei. Er dachte keine Sekunde daran, daß er jetzt vielleicht doch noch Kapitän werden könnte. Auch Beatty und die anderen stürmten heran. Widerstand war nutzlos und Flucht das einzige, was Holleck jetzt noch retten konnte.
Mit einem Satz war er auf der Schanzverkleidung, unten lag Patricks Boot – aber der Junge! Der Schlag hatte ihn gegen die Verkleidung geworfen. Als er wieder aufsprang, sah er das eine Bein des Flüchtlings über sich, griff danach und hielt es fest. Im nächsten Moment hatte ihn der Steuermann ebenfalls am Kragen, und als er mit dem Revolver herumfahren wollte, blieb der an einer Pardune hängen und schlug ins Wasser.
»Ergebt euch!« schrie Beatty, der den Hauptverbrecher in sicheren Händen sah, den anderen zu. Drei bildeten einen Trupp. Mit den gespannten Revolvern in der Hand standen sie, den Rücken an der Ankerwinde.
»Wenn einer von euch schießt, hängt ihr alle. Ihr seht, ihr könnt nicht mehr weg!«
Flucht war unter keinen Umständen mehr möglich. Noch immer unentschlossen standen die Verbrecher da.
»Legt die Revolver auf das Deck!«
Bob zögerte noch. Die anderen sahen ihn fragend an.
»Legt die Revolver aufs Deck, oder ich gebe den Feuerbefehl!«
»Na, dann sind wir wieder einmal soweit«, knurrte Bob und folgte dem Befehl, dem die anderen ebenfalls nachkamen. »Wenn ich nur den Lump, den Bill, hängen sehen kann. Der hat uns in den ganzen Schlamm hineingeritten.«
»Das ist ein bescheidener Wunsch, der dir vielleicht erfüllt werden kann«, sagte Beatty. »Legt ihnen die Eisen an und schafft sie in das Boot hinunter.«
»Anker klar!« kommandierte der Lotse hinten am Ruder. Er hatte den Mann, der am Rad stand, schon nach vorn geschickt. Das Schiff trieb durch die Strömung, ohne natürlich in der Lage dem Steuer zu gehorchen, auf die Küste zu. Im Nu hatten die Polizisten ihre Gefangenen gesichert. Fast gleichzeitig schnappten die vier Handeisen in ihre Schlösser. Holleck, den der Steuermann, der Junge und Mr. Pitt selber gehalten hatten, wurde ebenfalls eingeschlossen. Wenige Minuten später rasselte der Anker wieder in die Tiefe.
»Und da sitz ich jetzt«, sagte Kapitän Becker und kratzte sich bei dem Geräusch des niederlaufenden Ankers hinter den Ohren. »Es ist doch bei Gott so, als ob ich von dem vermaledeiten Land gar nicht fort sollte!«
»Danken Sie Gott dafür«, erwiderte Beatty. »Glauben Sie vielleicht, daß der Bursche, der Ihnen hier in aller Öffentlichkeit eine Kugel zugedacht hat, sparsamer damit auf offener See gewesen wäre? Glauben Sie, daß Sie mit Ihrem Schiff jemals Neuseeland erreicht hätten? Bleibt entflohenen Sträflingen eigentlich etwas anderes übrig, als das Schiff zu nehmen und damit zu fliehen?«
»Das wäre ihnen aber verdammt schwergefallen!« sagte Becker, aber nur halb zuversichtlich.
»Lieber Kapitän, es wäre nicht das erste Schiff, das auf diese Art verlorenginge. Sie haben wohl nicht darüber nachgedacht, welches Elend Sie über die junge Frau und über Mr. Pitts Familie gebracht hätten?«
»Lieber Beatty...«
»Pst, Kapitän, ich will gar nichts weiter wissen, darf es gar nicht. Sie können nicht geahnt haben, daß Holleck, als Matrose verkleidet, an Bord war. Sie verstehen mich doch? Unsere Gesetze sind darin entsetzlich streng und müssen streng sein.«
»Und was nun? Jetzt lieg ich wieder vor Anker.«
»Spätestens in anderthalb Stunden haben Sie die Mannschaft der ›Lucy Neal‹ an Bord, die ich Ihnen versprach. Die Instruktionen bringt Ihnen der Polizeisergeant, denn ich kann nicht wieder an Bord kommen.«
»Bester Mr. Beatty...
»Ich tue das schon Mr. Pitt zuliebe. Die Leute übergeben Sie in Auckland dem Kapitän der ›Lucy Neal‹. Sollte der aber den Hafen schon verlassen haben, dann lassen Sie die Leute frei oder engagieren sie für sich selbst wieder, wie Sie wollen. Nur der Lohn für die Fahrt nach Neuseeland muß hier ausgezahlt werden. Aber das arrangiere ich schon mit Mr. Pitt.«
»Sie sind ein Engel in Uniform, Beatty!« rief der Kapitän, ihm vergnügt die Hand schüttelnd.
»Schon gut. Halten Sie Ihr Schiff segelfertig. Und noch einmal: danken Sie Gott, daß Sie einer so furchtbaren Gefahr entgangen sind.«
Neben seinen ebenfalls gefangenen Freunden stand Holleck am Vorcastle, blaß und mit den Zähnen knirschend. Trotzig sah er von einem zum anderen.
Vor ihm stand Charles Pitt. Er hatte die Arme untergeschlagen und sah den Verbrecher fast mitleidig an.
»Mußte es mit dir zu einem solchen Ende kommen, William?« sagte er endlich. »Habe ich oder meine Familie das verdient?«
»Geh zum Teufel!« rief Holleck mit einem gotteslästerlichen Fluch. »Ihr habt mich, nun macht ein Ende. Hätte ich euch so, ihr hättet verdammt wenig Zeit zum Reden!«
»Bringt den Verbrecher ins Boot!« rief der Leutnant, der die letzten Worte gehört hatte. »Werft ihn hinein, wenn er nicht freiwillig geht. Und dann an Land, was eure Riemen arbeiten können. Wir haben heute einen guten Fang gemacht, und die Herren da werden die Zeche bezahlen.«
»Das werde ich heute abend tun«, sagte Mr. Pitt. »Alle Leute, die beteiligt waren, bitte ich heute abend zu mir. Ganz besonders Sie dürfen nicht fehlen, lieber Beatty, denn ich glaube, daß ich Ihnen die Rettung meines Schiffes und meiner Kinder verdanke.«
»Wissen Sie, wem Sie die Entdeckung verdanken?« lächelte Beatty. »Ihrer kleinen Therese. Die hatte den Burschen erkannt, und darum fürchtete sie sich so an Bord.«
Holleck, der gerade vorbeigeführt wurde, biß in wildem Grimm die Zähne zusammen. Während Beatty Mr. Pitt erzählte, wie er auf die versteckten Verbrecher aufmerksam wurde, von denen sich Holleck unbemerkt vom Kapitän an Bord geschmuggelt haben mußte, wurden die Gefangenen einzeln in das Boot hinuntergelassen. Mr. Pitt war noch einmal zu Gertrud in die Kajüte gegangen, um sie zu beruhigen. Bald darauf schoß das schlanke Fahrzeug dem Kastell entgegen, um seine eisenverzierte Ladung dort abzugeben.
Auf dem Quarterdeck der »Susanna Baxter« ging Kapitän Becker inzwischen mit langen Schritten auf und ab. Der Steuermann stand neben ihm und unterhielt sich mit Patrick unten in seinem Boot.
»Und was hast du verdammter Halunke hier noch herumzuspionieren, he?«
»Fahre spazieren, Sir«, sagte der Irländer trocken.
»Gut, dann tu mir den Gefallen und fahr einmal hier heran, damit ich dir den alten Schleifstein da ins Boot werfen kann. Nachher darfst du dir mit deinem ›Arrow‹ den Grund der Bai ansehen, verstanden?«
»Aye, Aye, Sir!« grinste der Ire. »Ich brauche keinen Ballast und danke für die gute Absicht.«
Er ließ aber die Warnung nicht unbeachtet und hielt sich außer Wurfweite, denn der Seemann hätte seine Drohung jedenfalls wahr gemacht. Als er jedoch nach einer Weile sah, daß es hier an Bord nichts mehr für ihn zu tun gäbe, hielt er langsam vom Schiff ab und ruderte zum Ufer.
Kapitän Becker blieb vor seinem Steuermann stehen. »Mr. Borgers, seien Sie doch so gut und schicken Sie mir mal den Jungen.«
»Den Hannes?«
Der Kapitän nickte.
»Hannes! Hannes! Mal herkommen!«
Der Junge erschien auf dem Quarterdeck. Er drehte und drückte seine Mütze in der Hand herum.
»Kaptein?« sagte er verlegen und wischte sich die Nase mit dem Rockärmel. Er hatte aber nichts zu befürchten.
»Hannes«, sagte der Kapitän und sah den Jungen ganz ernsthaft an. »Du weißt, daß ich schneller laufen kann als du.«
Über das schmutzige Gesicht des Jungen blitzte es wie ein verstecktes Grinsen. Er konnte sich nicht helfen, er mußte an den Morgen denken, an dem der Kapitän den steilen, steinigen Hang hinunterschoß. Aber der Respekt war zu groß, und wenn der Alte böse wurde...
»Jawoll, Kaptein«, sagte er kleinlaut. »Sie laufen schon gut.«
»An dem Morgen hatte ich dir was ganz Besonderes zugedacht. Du weißt doch, was ich meine, mein Junge?«
»Jawoll, Kaptein«, sagte der Junge noch kleinlauter.
»Na schön«, versetzte Becker. »Heute hast du das abverdient. Wenn du nicht mehr mit mir fahren und lieber wieder an Land willst, dann zahle ich dir deinen Lohn aus und vielleicht noch etwas mehr und du kannst mit dem Boot zurückgehen.«
»Kaptein?« rief der Hannes erstaunt.
»Hast du mich verstanden?«
»Ja, Kaptein.«
»Und willst du wieder in die Berge?«
Der Junge kratzte sich mit seiner alten Mütze am Kopf und lachte halb verlegen vor sich hin. Endlich sagte er:
»Kaptein...«
»Ich meine es gut mit dir. Du hast ganz deinen freien Willen.«
»Wenn ich meinen freien Willen habe, Kaptein«, sagte da Hannes, der sich ein Herz faßte, »und – und wenn ich keine Schläge haben soll, dann... dann bleib ich lieber an Bord.«
»Was? Du hast das Goldgraben schon satt?«
»Ja Kaptein, ich will an Bord bleiben.«
»Der Junge ist doch nicht so dumm, wie er aussieht«, bemerkte der Steuermann, der erstaunter Zuhörer der Unterhaltung war.
Der Kapitän sah den Jungen noch immer ernst an. Er war wohl von dieser Wende selbst überrascht. Dann aber streckte er seinen Arm aus, nahm die Hand des verblüfften Hannes, schüttelte sie derb und sagte dann:
»Na, dann bleib, Hannes, du sollst's nicht bereuen. Ich will doch mal sehn, ob ich nicht noch was Ordentliches aus dir machen kann, wenn du auch ein liederlicher Strick bist. Und nun geh nach vorn an deine Arbeit.«
»Jawoll, Kaptein!« stöhnte der Junge vor Vergnügen und war wie der Blitz vom Quarterdeck herunter.
Beatty hielt sein Wort. In kaum anderthalb Stunden kam das Polizeiboot mit der Mannschaft der »Lucy Neal« zurück. Die Leute waren ebenfalls in Handschellen wie alle eingefangenen Matrosen. Erst an Bord wurden sie ihnen abgenommen.
Jetzt stand dem Aussegeln des Schiffes nichts mehr im Weg. Bis der Anker oben war, blieb die Polizei an Bord. Der Lotse stand wieder am Steuer, der Bug des Schiffes fiel vor dem Wind ab, die Segel füllten sich. Die Brise war inzwischen frischer geworden, und trotz der eingetretenen Ebbe befand sich noch genug Wasser im Kanal, der aus der prächtigen Bai hinaus ins offene Meer führte.
Jetzt stieß das Boot ab, die »Susanna Baxter« gewann mit jedem Augenblick mehr Fahrt. Der Vordersteven warf schon den weißen Schaum rechts und links zur Seite. Immer kleiner wurde das Gouverneursgebäude, die Häuser von Sydney. Immer weiter öffnete sich vor ihnen die Einfahrt. Schon konnten sie draußen die weißen Wogen im Ozean glänzen sehen. Jetzt ging der Lotse von Bord, und eine Stunde später schaukelte das Schiff auf den blauen Fluten des Stillen Meeres, seinem Ziel Neuseeland mit geblähten Segeln entgegenstrebend.