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4. Die Familie Pitt

In Sydneys George Street stand ein festes, großzügig gebautes Sandsteinhaus. Es schien einem Privatmann zu gehören, denn kein Schild oder Firmenname stand daran. Aber dem widersprach das geschäftige Leben, das hier herrschte. Mehlsäcke, Kisten, Ballen und Tonnen wurden durch das schmale Hoftor gebracht, und Mr. Pitt, der Hausherr, wollte eben eine ziemlich große Warensendung persönlich in die Minen begleiten.

Charley Pitt, wie er von seinen Freunden vertraulich genannt wurde, war das Urbild eines echten australischen Geschäftsmannes und Familienvaters seiner Zeit. Wenn wir einen Blick auf seinen Haushalt werfen, tun wir einen vollen und fast erschöpfenden Blick in Hunderte von anderen, gleichen Häusern.

Charley Pitts Vater war als Konvikt, also als Sträfling auf Lebenszeit, nach Australien gesandt worden. Er war ein sogenannter »Lifer«, der in der Heimat ein schweres Verbrechen begangen hatte und jetzt hier in Australien zum Nutzen seines Staates büßen sollte. Da er sich aber gut und fleißig betrug und seinen Aufsehern keinen Grund zur Klage gab, bekam er mit der Zeit sein »Ticket of leave«, d.h. seinen Erlaubnisschein oder Paß, mit dem er sich in der Kolonie selbständig als Arbeiter vermieten konnte. Er mußte nur eine bestimmte Geldsumme abgeben und stand ständig unter polizeilicher Aufsicht.

Auch hierbei betrug er sich mustergültig. Da er einmal einen Überfall verwegener, vielleicht zur Verzweiflung getriebenere Bushranger auf das Haus, in dem er arbeitete, zurückschlagen half, wurde er im Laufe der Zeit begnadigt und »freier Kolonist«.

Das änderte aber wenig in seinem Leben. Er hatte schon ein paar Jahre vorher ein ebenfalls deponiertes Mädchen geheiratet. Sie war bei der Geburt ihres Sohnes gestorben. Pitt, der allgemein in der Kolonie mit seinem Sträflingsnamen Pumpkin bezeichnet wurde, arbeitete trotzdem weiter, erzog seinen Sohn so gut, wie es die Umstände erlaubten, lebte mäßig und wurde ein reicher Mann, der seinen Sohn schließlich sogar nach England schicken konnte, um seine Erziehung dort zu beenden.

Charles Pitt kehrte nach vier Jahren in die Kolonie zurück und brachte nicht nur hervorragende Zeugnisse, sondern vernünftigerweise auch gleich eine Frau mit. Von seinem Vater großzügig unterstützt, errichtete er dann in Sydney ein Import- und Exportgeschäft. Bald gehörte er zu den wohlhabendsten und geachtetsten Bürgern der Stadt.

Der alte Pitt hatte sich draußen vor der Stadt, in der Nähe des Leuchtturms, ein kleines, wohnliches Haus gebaut und eine alte Haushälterin angestellt, die alles in Ordnung hielt. Sein Sohn wünschte sich zwar, daß er zu ihm zöge und seine letzten Tage nicht so allein da draußen verlebte, aber der alte Mann fühlte, daß er in die heranwachsende Generation nicht passe. Er stammte aus den untersten Schichten der Bevölkerung und hatte zeitlebens nie Lesen und Schreiben gelernt. Er wollte jetzt, wo viele neue und freie Einwanderer eintrafen, seinem geliebten Sohn gesellschaftlich nicht schaden. Deshalb war er auch durch nichts zu bewegen, sich persönlich bei ihm in der Stadt sehen zu lassen. Nur sonntags mußten ihn seine Enkel, auch als sie schon herangewachsen waren, besuchen. Dann feierten sie jedesmal in dem Garten an der wundervollen Bai ein kleines Fest.

Charles Pitt hatte drei Kinder, einen achtundzwanzigjährigen Sohn, die achtzehnjährige Tochter Pauline und die jüngste, erst sechs Jahre alte Tochter.

Zwei Kinder waren gestorben. Pitt lebte so glücklich, wie nur ein guter Familienvater leben konnte, der keine anderen Sorgen hatte als die, die das Geschäft eben mit sich bringt – und die auch wieder die Würze der ganzen Existenz sind.

Er war völlig unabhängig, und doch ging die plötzliche Entdeckung des Goldes auch an ihm nicht spurlos vorüber. Aber vernünftigerweise verlegte er sich auf eine ganz sichere, ruhige Spekulation, die nicht das Gold in Klumpen nach Hause bringen sollte, sondern in gemünzter Form. Pitt sandte Waren, wie sie für den sofortigen Bedarf der Tausende nötig waren, nach Bathurst, wo er schon seit mehreren Jahren ein besonderes Geschäft hatte. Vor kurzer Zeit wurde auch sein Sohn hinaufgeschickt, um einiges dort zu ordnen und verschiedene, kleinere Schuldbeträge einzukassieren.

Jetzt war auch die richtige Zeit, das zu tun, denn noch waren die Straßen passierbar. Sobald aber die in dieser Jahreszeit häufigen Regenfälle einsetzten, ließ sich voraussehen, daß die Straße von den zahllosen Karren und Fuhrwerken zu einer einzigen Schlammbahn verwandelt wurden. Der Transport wurde dann, wenn auch nicht unmöglich, so doch für Fuhrwerk und Zugtiere eine fürchterliche Strapaze.

Die wichtigsten Geschäfte waren heute erledigt. Das Frachtgut hatte der damit beauftragte Angestellte übernommen. Die kleine Familie saß beim Lunch, einer Art zweitem Frühstück, als rasche Schritte laut wurden und gleich darauf ein junger Mann in einem brennendroten Minerhemd die Tür aufriß und ins Zimmer sah. Er trug außerdem eine Jacke aus englischem Leder, mächtige Wasserstiefel und hatte den sogenannten kalifornischen Hut in der Hand.

»Nun?« rief er aus. »Sehe ich aus wie ein Miner, und kann ich jetzt mit Anstand in die Berge rücken?«

»Mr. Holleck! Wirklich!« rief Pauline und sprang von ihrem Stuhl auf. »Ich habe ihn im ersten Augenblick gar nicht erkannt!«

»William – tatsächlich!« sagte auch der Vater und schüttelte erstaunt den Kopf. Seine Frau, eine noch wirklich schöne Brünette, schlug die Hände zusammen. Die kleine Therese aber kletterte von ihrem Stuhl herunter, lief auf den Besuch zu und rief, freudig die Hände zusammenklatschend:

»Ach, Onkel William geht in den Wald und holt Gold, und dann bringt er mir auch eine Menge große Stücke zum Spielen mit, nicht wahr?«

Der junge Mann hob die Kleine vom Boden hoch und hielt sie im Arm. Dann streckte er dem jungen Mädchen die Hand entgegen und sagte mit einem herausfordernden Lachen:

»Na, gefall ich Ihnen so?«

»Nein«, sagte Pauline nach einer kleinen Pause, in der sie den Mann von Kopf bis Fuß betrachtet hatte und dabei etwas rot wurde. »Ganz und gar nicht. Sie sehen viel besser in Ihrer normalen Kleidung aus. Viel vernünftiger. Ich kann mir nicht helfen, aber es kommt mir noch immer so vor, als ob die ganze Welt wahnsinnig geworden ist und deshalb eine gemeinsame Tracht anzieht.«

»Pauline hat recht«, bemerkte auch der Vater. »Wenn die Arbeiter und Tagelöhner hinauflaufen und das da oben mit Spitzhacke und Schaufel fortsetzen wollen, was sie hier unten mit Spitzhacke und Schaufel angefangen haben, dann läßt sich nichts dagegen einwenden. Wer aber sein Brot noch auf andere Weise verdienen kann, der... sollte zweimal nachdenken, ehe er den Unsinn macht und in ein Leben hineinspringt, dem er... dem er nicht gewachsen ist und das er deshalb nur zu schnell wieder satt bekommen wird.«

»Aber Mr. Holleck wird doch da oben nicht selbst graben und waschen wollen«, sagte die Mutter lächelnd. »Er denkt bestimmt nicht daran.«

»Die Mutter ist die einzige Vernünftige aus der ganzen Gesellschaft«, lachte der junge Miner in seiner dreisten Art. »Aber, Papa Pitt, glauben Sie wirklich, ich hätte den Verstand verloren und würde mich da oben in die Berge setzen und angenehme Löcher in den Boden hacken? Und Miß Pitt denkt das auch? Das ist aber stark.«

»Nun, mein junger Freund«, sagte der Vater mit ernster Miene, »ich glaube, dafür haben wir in diesen Tagen genug Beispiele gehabt, um einen solchen Verdacht bei den geringsten Anzeichen zu haben! Für solche Anzeichen, und zwar sehr starke, halte ich nun einmal ein rotes Wollhemd und Wasserstiefel. Wenn Sie aber nicht in die Berge wollen, wozu dann die Maskerade?«

»In die Berge will ich tatsächlich«, sagte der junge Mann. Er setzte die Kleine wieder ab und nahm dann ohne weiteres am Tisch Platz, wo immer ein paar zusätzliche Gedecke standen. Er war ohnehin ein ständiger und, wie er hoffte, auch gern gesehener Gast im Haus. »Aber ich will mir das Leben da oben nur einmal ansehen, natürlich nicht, um zu arbeiten, zu hacken und zu graben.«

»Läßt Sie denn Ihr Arbeitgeber so lange weg?« erkundigte sich Mr. Pitt. »Ich dachte, daß es gerade in dieser Zeit soviel Arbeit hier gäbe, daß man seine Leute nicht entbehren kann. Ich jedenfalls könnte jetzt keinem meiner Leute einen achttägigen Urlaub geben.«

»Ich habe längst in dem Geschäft gekündigt«, sagte der junge Holleck gleichgültig. Er nahm sich aus einer Zinnbüchse Sardinen.

»Wirklich?« sagte Mr. Pitt erstaunt und sah zu ihm auf.

»Jetzt ist die Zeit günstig, um sich in Australien selbständig zu machen«, fuhr Holleck fort. »Mit dem Seeleben, das ich zuerst versucht hatte, ging es nicht. Meine Existenz als schlechtbezahlter Angestellter war auch langweilig, und da kamen im entscheidenden Moment meine schon lange erwarteten Wechsel aus der Heimat. Da habe ich mich entschlossen, meinem alten Brummbär von Chef den Stuhl für immer vor die Tür zu setzen, und jetzt bin ich mein eigener Herr. Ich glaube, das war das Beste, was ich tun konnte, und deshalb will ich mir auch einmal selbst die Verhältnisse in den Minen ansehen, von denen wir hier unten doch keine richtige Vorstellung haben. Später kann ich mich entscheiden, ob ich meine neue Tätigkeit gleich dort an der Quelle beginne. – Aber, wo ist denn Charley? Noch immer in Bathurst?«

»Gott weiß es«, sagte die Mutter, die bei der Erwähnung des Sohnes alles andere vergaß. »Er kommt nicht und schreibt nicht, und da oben scheint wirklich alles den Verstand verloren zu haben bei dem einen Gedanken: Gold!«

»Er wird in den Minen sein.«

»Ich kann mir jedenfalls nichts anderes denken«, sagte Mr. Pitt. »Allerdings wollte er schon vor beinahe acht Tagen zurückkommen, aber damals wurde ja die Postkutsche beraubt. Wenn er auch geschrieben hat, so sind doch alle Briefbeutel abhanden gekommen und wir wissen gar nichts von ihm.«

»Wenn er nur nicht selbst dabei war«, seufzte die Frau. Man sah es ihr an, wieviel Mühe sie sich gab, um gefaßt zu bleiben. »Es soll ja einer von den Passagieren erschossen worden sein.«

»Hat man denn darüber nichts Näheres erfahren?«

»Du lieber Gott, die Mutter ängstigt sich nur wegen einem Gerücht«, erwiderte Mr. Pitt. »Es wurde tatsächlich so etwas erzählt. Zu Anfang sollten sogar drei oder vier dabei umgekommen sein. Dann meldeten sich aber die Vermißten alle, und dann sprach man nur noch von einem. Aber selbst das glaube ich nicht, denn Blut vergießen die Bushranger nur ungern und selten. Von den Passagieren konnte man aber keinen sprechen. Sie hatten den Bericht von den Goldfunden mitgebracht, und deshalb gab es am nächsten Tag kein anderes Thema mehr. Der Überfall auf die königliche Mail wurde kaum beachtet und bestimmt auch nicht ernsthaft verfolgt. Die Schufte hätten für ihren Plan keinen besseren Moment finden können. Ich glaube noch nicht einmal, daß ihnen die Polizei nachgeschickt wurde.«

»Und von Charley haben Sie seit der Zeit gar keine Nachricht?«

»Keine. Vorgestern schrieb ich noch einmal nach Bathurst. Wenn da nicht alle davongelaufen sind, hoffe ich doch, wenigstens übermorgen sichere Nachrichten zu bekommen.«

»Sonderbar – er ist doch sonst so pünktlich«, sagte Holleck und schob seinen Teller zurück. »Na ja, ich komme ja jetzt selbst hinauf und kann mich dann gleich nach ihm erkundigen.«

»Und dann schreiben Sie uns doch sofort, nicht wahr?« fragte die Mutter besorgt.

»Ganz bestimmt.«

»Bis dahin ist doch schon längst Antwort von Charley selbst da«, sagte Mr. Pitt kopfschüttelnd. »Mach dir doch wegen des Jungen keine Sorgen. Jetzt geht da oben alles drunter und drüber, und die jungen Leute haben den Kopf voll und denken erst zuletzt ans Briefeschreiben.«

»Ist das vielleicht richtig?« sagte die Mutter.

»Richtig oder nicht«, lachte ihr Mann, »es ist menschlich, auch wenn der Kaufmann eigentlich nie den Kopf verlieren soll. Übrigens, wie wollen Sie denn in die Minen hinauf, William, zu Fuß? Das wird ein langer Marsch werden!«

»Nein, ich fahre mit der Mail.«

»Ich dachte, man müßte sich sechs oder acht Tage vorher einschreiben lassen, um einen Platz zu bekommen.«

»Ich hatte Glück, weil ein Passagier absagte, als ich im Büro war. Dadurch konnte ich gleich in seinen Platz eintreten.«

»Das war wirklich Glück. Aber jetzt muß ich fort, Kinder, denn ich habe noch eine ganze Menge für meinen Kapitän zu besorgen, damit er wieder glücklich aus dem Hafen kommt. Es ist erstaunlich, aber er hat noch seine ganze Mannschaft. Wäre nur der verwünschte Junge erst hier!«

»Und wohin soll Ihr Kapitän?«

»Ich will ihm eine Ladung für Neuseeland mitgeben, und wenn mir die Goldgeschichte keinen Strich durch die Rechnung macht, soll mein Junge ihn begleiten. Die Ladung selbst kann er in gut drei Tagen an Bord haben. Also, auf Wiedersehen!« Damit ergriff Mr. Pitt seinen Hut und verließ das Zimmer.

»Wären Sie so freundlich und nehmen mir ein paar Zeilen mit zu Charley hinauf?« wandte sich die Mutter an den jungen Mann.

»Gewiß, mit Vergnügen.«

»Mein Mann darf's nicht wissen«, lachte die Frau verlegen. »Er spottet auch immer wegen meiner Sorgen, die ich mir mache. Kann ich es denn ändern, daß ich mich um meinen Sohn sorge?«

»Aber dann muß ich Sie bitten, mir den Brief bald zu geben«, sagte Holleck. »Denn um vier Uhr geht die Kutsche, und ich muß bis dahin noch ein paar Kleinigkeiten besorgen.«

»Wenn Sie einen Augenblick warten, schreibe ich ihn gleich«, sagte Frau Pitt und stand schnell auf. »Dann bin ich doch sicher, daß sie in seine Hände gelangen. Nur ein paar Minuten, Mr. Holleck, ich halte Sie nicht lange auf. Lieber Gott, ich will ja nichts weiter von ihm wissen, als nur, ob er noch lebt und ob es ihm gut geht.« Holleck war mit Pauline und der kleinen Therese allein.

»Werden Sie lange in den Minen bleiben, Mr. Holleck?« sagte Pauline. Sie war auch aufgestanden und trat an ihren Nähtisch.

»Wenn es von mir abhinge, Miß Pitt, würde ich gar nicht gehen«, sagte der junge Mann, der jetzt neben ihr stand. Er zog das Kind, das mit seiner Uhrkette spielte, zu sich heran.

»Und was zwingt Sie?« lächelte das junge Mädchen.

»Das Leben selbst«, erwiderte Holleck ernst. »Ich muß mir eine Existenz gründen, denn schon zu lange habe ich mich nutzlos in der Welt umhergetrieben. Es wird Zeit, daß ich endlich einmal selbständig auftrete und mein eigener Herr werde.«

»Ließe sich das nicht hier in Sydney genauso leicht erreichen?«

»Vielleicht, ja, aber keinesfalls so schnell. Denn alle, die da oben an der Quelle sitzen, ziehen auch den größten und schnellsten Nutzen aus dem Gold, das die nächsten Monate herausgeholt wird.«

»Glauben Sie wirklich, daß die Berge so reich sind?«

»Ja – nach allem, was ich bis jetzt darüber gehört und davon gesehen habe. Und... wenn mir dann meine Arbeit gelingt... wenn ich nachher den Vater überzeugen kann...«

»Der Vater glaubt noch immer nicht all die Gerüchte, die jetzt die Stadt durchlaufen«, unterbrach ihn Pauline. Plötzlich bedrückte sie ein ängstliches Gefühl. »Er... wird Ihnen bestimmt dankbar sein, wenn Sie ihm sichere Nachrichten von da oben bringen können...«

»Und was wird die Tochter tun?« fragte Holleck jetzt mit leiser Stimme, die kaum an Paulines Ohren drang und doch durch alle Nerven wie ein Messer schnitt.

»Wer? Ich?« sagte sie und war sich kaum bewußt, was sie sprach. »Oh... ich würde mich bestimmt freuen, wenn Sie... Glück in den Bergen hätten... aber... es ist ein wildes Land... und nicht jeder fühlt sich dort wohl.«

»Und wenn ich dann vor Pauline trete«, fuhr Holleck eindringlicher fort, »wenn ich sie dann frage, ob sie...«

»Aber du tust mir ja weh!« rief die kleine Therese dazwischen. »Sie nur, wie du mich mit deiner alten, häßlichen Kette gegen den Tisch gedrängt hast...«

»Da ist auch die Mutter schon wieder mit dem Brief«, rief Pauline, als sie nebenan eine Tür hörte. Es war ihr in diesem Augenblick, als würde eine Last von ihrer Seele genommen.

Holleck war aufgesprungen. Er wurde knallrot, aber es blieb ihm keine Zeit, seinen unterbrochenen Antrag zu vollenden. Im selben Moment ging die Tür auf, und Mrs. Pitt trat mit dem Umschlag in der Hand ein.

»Na, hin ich lange geblieben?« sagte sie lächelnd, als sie den Brief überreichte. »Ich habe ihm aber auch wirklich kaum zwei Zeilen geschrieben.«

»Sieh mal, Mama, wie mich Onkel William gedrückt hat«, rief Therese, die sich ärgerte, weil sie gar nicht beachtet wurde.

»Der Brief soll pünktlich zugestellt werden«, sagte Holleck und legte ihn in sein Taschenbuch. Er mußte sich gewaltsam beherrschen, um gerade jetzt ruhig und unbefangen zu erscheinen.

»Wollen Sie wirklich schon fort?«

»Es ist gleich zwei Uhr, und ich werde kaum noch eine halbe Stunde für mich Zeit haben.«

»Also, nochmals die allerherzlichsten Grüße für Charley, und er soll gleich schreiben oder am allerbesten gleich selbst kommen, denn sein Vater hat ja auch hier für ihn mehr als genug zu tun.«

»Good bye, mein kleines Schätzchen«, sagte Holleck, nahm die Kleine hoch und küßte sie. »Hast du denn deinem Bruder nichts zu bestellen?«

»Er soll sich vor den bösen Bushrangern in acht nehmen«, rief die Kleine, »und sie alle miteinander totschießen.«

Holleck küßte sie nochmals auf die Stirn und setzte sie wieder auf den Boden.

»Leben Sie wohl, Miß Pauline. Hoffentlich kann ich bald mit guten Aussichten zurückkehren. Leben Sie wohl, Mrs. Pitt.« Mit den Worten griff er seinen Hut und verließ das Zimmer.

»Mr. Holleck war heute sehr sonderbar«, sagte die Mutter, als er schon eine ganze Weile die Stube verlassen und Pauline wieder ihren Platz am Nähtisch eingenommen hatte. »Kam dir das nicht auch so vor, Kind?«

»Ich weiß nicht, liebe Mutter«, sagte das junge Mädchen und war froh, daß die Mutter in dem Augenblick am Fenster stand und hinaussah. »Es ist mir nichts Besonderes an ihm aufgefallen. Vielleicht war es seine veränderte Kleidung?«

»Das könnte sein«, sagte die Frau. »Aber er war so unruhig, so verstört. Nun sieh nur um Gottes willen, was da wieder für Menschen in die Berge hinaufziehen. Drei, vier, fünf Karren hintereinander und alles mit schwerem Handwerkszeug bedeckt. Wo nur die Leute da oben alle Platz finden? Es wird wieder Mord und Totschlag geben, nur wegen des leidigen Goldes. Ich wollte, Charley wäre hier – mir ist das Herz schon zum Brechen schwer.«

Sie trat vom Fenster zurück, setzte sich auf das Sofa, stützte den Kopf in die Hand und schaute still und gedankenvoll vor sich nieder. Pauline saß ebenfalls schweigend mit ihrer Arbeit beschäftigt am Nähtisch. Nur die kleine Therese hatte sich ihren Gummiball aus der Ecke geholt und rollte ihn fröhlich und behende in der Stube herum. Was wußte das Kind von Sorgen, Plänen oder Träumen!

Noch saßen sie so, als ein schwerer Schritt auf der Treppe gehört wurde und eine fremde Stimme sich draußen erkundigte:

»Mr. Pitt zu Haus?«

Die Mutter fuhr empor, denn nur mit den Gedanken an den Sohn beschäftigt, bezog sie alles auch nur auf ihn. Ehe draußen geantwortet werden konnte, hatte sie schon die Tür geöffnet, aber der Mann brachte ihr keine Nachricht aus den Bergen. Sie kannte ihn, es war der Kapitän der in der Bai ankernden Brigg. Er hatte für ihren Mann eine Ladung Mehl von Valparaiso gebracht und wollte wohl jetzt die Ladung nach Neuseeland mit ihm besprechen.

»Ah, guten Morgen, Mrs. Pitt – Mr. Pitt zu sprechen?«

»Guten Morgen, Kapitän Becker«, sagte die Frau. »Treten Sie nur ein, ich höre meinen Mann eben auf der Treppe, er wird gleich heraufkommen.«

»Hallo, Becker!« rief Mr. Pitt, der seine Stimme erkannt hatte, schon von der Treppe aus. »Nun, was bringen Sie Gutes?«

»Verdammt wenig, Sir«, sagte der Deutsche, nicht gerade in der Stimmung, sich gewählt auszudrücken. »Die ganze Mannschaft ist zum Teufel!«

»Donnerwetter, alle Mann?« fragte Pitt und blieb erstaunt an der obersten Stufe stehen.

»Alle Mann!« bestätigte der Seemann. Er mußte sich zusammennehmen, um nicht noch einen derberen Fluch hinterherzuschicken. »Selbst der lumpige Schiffsjunge und der Koch sind durch die Lappen gegangen. Mit Ausnahme der Ratten sind der Steward und ich jetzt die einzigen lebenden Wesen an Bord. Gott straf mich, es ist zum Halsabschneiden mit der verwünschten Bande.«

Mr. Pitt lachte. »Das habe ich mir wohl gedacht«, sagte er endlich. »Ich weiß auch wirklich nicht, weshalb wir den anderen Schiffen etwas voraus haben sollten! Ich wundere mich nur, daß sie so lange ausgehalten haben. Der ›Talbot‹, der ›Boreas‹ und der ›Delphin‹ haben schon lange keinen Mann mehr an Bord.«

»Soll mich wohl noch bei den Schuften bedanken, daß sie sich die paar Tage, an denen nichts zu tun war, haben füttern lassen!« brummte der Kapitän. Er war eingetreten und verhalf sich selbst zu einem Glas Sherry, der noch auf dem Tisch stand. »Aber die ganze Wasserpolizei ist hinter ihnen her. Ich bin schon seit Tagesanbruch auf den Beinen und habe nichts versäumt, um sie wieder einzufangen, wenn sie noch zu fassen sind.«

»Wenn sie noch zu fassen sind«, lachte Mr. Pitt. »Daran wird's aber wohl hapern. Ist denn Ihr erster Maat auch mit?«

»Der lag ja im Hospital«, sagte der Kapitän. »Aber es geht ihm wieder besser. Ich war heute morgen auch schon bei ihm. Er wird heute abend wieder ausgehen können und die Wasserpolizei ein wenig unterstützen. Was fange ich jetzt an, wenn ich meine Mannschaft nicht wiederkriege? Und frische Seeleute anzuheuern ist ganz unmöglich. Wenn überhaupt neue zu bekommen sind, wissen die Lumpen jetzt gar nicht, was sie fordern sollen.«

»Dann bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als auch einmal in die Minen zu gehen und Ihr Glück da oben zu versuchen«, sagte Mr. Pitt. »Der Kapitän vom ›Delphin‹ ist auch schon mit seinen beiden Steuerleuten hinauf.«

»Hm«, brummte der Kapitän, dem dieser Gedanke neu war, halb verlegen vor sich hin. »Schöne Beschäftigung, nach Gold zu buddeln und inzwischen das Schiff von den Würmern zerfressen lassen.«

»Ich sage ja nicht, daß Sie nach Gold graben sollen«, meinte der Kaufmann. »Aber da oben finden Sie Ihre Mannschaft bestimmt oder können andere, die nichts gefunden haben, anheuern. Aber jetzt wollen wir erst einmal abwarten, was die Wasserpolizei erreicht, obgleich ich da nicht viel Hoffnung habe. Haben Sie eine Belohnung ausgesetzt?«

»Fünf Pfund Sterling pro Kopf, den sie schnappen.«

»Hm, das hilft vielleicht.«

»Und für den Schiffsjungen noch ein Pfund extra.«

»Warum für den mehr?«

»Weil ich mir vorgenommen habe, ihm eine richtige Tracht Prügel zu verabreichen. Das ist mir ein Pfund wert. Ich gäbe auch gleich zwei, wenn ich ihn jetzt an Ort und Stelle hätte.«

Mr. Pitt lachte wieder. Zwar machte ihm die weggelaufene Mannschaft einen Strich durch die Rechnung, aber er hatte es doch vorausgesehen und seine Planung noch nicht zu festgemacht. Er durfte sich nicht darüber ärgern, daß er genauso leiden mußte wie alle anderen Geschäftsleute der Stadt.


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