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Es wird Zeit, daß wir uns selbst einmal nach dem Kapitän umsehen, den wir verließen, als er den Schiffsjungen bis auf den Rand des Hügelrückens gejagt hatte. In seinem Eifer achtete er natürlich nicht auf die Richtung oder auf Landmarken.
Auf den Jungen hatte er eine besondere Wut – es war auch immer ein nichtsnutzer Junge gewesen. Beinahe in Armeslänge von ihm entfernt und immer näher rückend, ist es leicht erklärlich, daß er alles andere vergaß. Nur den Jungen wollte er wiederhaben, selber einfangen und gleich an Ort und Stelle bestrafen. An den Weg zurück dachte er gar nicht. Wie hätte er sich auch verirren können, er brauchte ja nur seinen Kurs nach der Sonne nehmen!
Der Junge gab inzwischen sein Äußerstes. Er wußte, was er von dem Kapitän zu erwarten hatte, wenn der ihn packte. Aus Angst vor der furchtbaren Tracht Schläge, gegen die alle früheren nur ein Kinderspiel gewesen wären, floh er, als ob er Flügel an den Füßen hatte. Trotzdem kam der entsetzliche Rächer immer näher, ja, er konnte schon sein Keuchen hören. Aber er wagte nicht, sich umzusehen, denn er hätte dadurch vielleicht eine Sekunde Zeit verloren, und die brauchte er jetzt dringender. Als er den Hügelkamm erreichte, sprang er ohne Rücksicht auf den Weg den steilen Hang an der anderen Seite hinunter. Was kümmerten ihn seine Beine, wenn er nur seinen Rücken in Sicherheit brachte. Mit den ersten Sätzen abwärts gewann er auch einen Vorsprung vor seinem Verfolger, weil er jetzt bergab floh. Aber es half ihm nicht lange. Der Kapitän mußte eiserne Muskeln haben, denn wenn ihm auch der Schweiß in Strömen herunterlief, hatte er doch kaum die Kuppe erreicht, als er auch genauso rücksichtslos hinablief. Bergab wurde er durch seine eigene Schwere noch begünstigt. Es war haarsträubend zu sehen, wie er über Felsblock und Wurzeln hinabsetzte, ausglitt, stürzte, wieder auf die Füße sprang und immer dabei im Geiste schon den Jungen mit der linken Hand am Kragen hielt und mit der rechten windelweich prügelte.
Unten im nächsten Tal hätte er ihn auch beinahe erwischt. Er war kaum noch drei Schritte hinter ihm.
»Steh, Kanaille!« stöhnte er. »Oder ich drehe dir den Hals um, wenn ich dich erwische!«
Wenn das eine Ermunterung sein sollte, sich in das Schicksal zu fügen, so verfehlte sie ihren Zweck. Die Töne klangen dem Jungen wie die Posaune des letzten Gerichts in den Ohren. Fast unter den Händen des Kapitäns fuhr er hindurch und schräg am nächsten Hang wieder hinauf. Ehe sich sein Verfolger wenden konnte, war er wieder um mindestens fünfzehn Schritte voraus. Und auch diesen Hang ging es hinan, als ob beide Läufer weder Lunge noch Milz hätten.
Obwohl Kapitän Becker wacker bei seiner Jagd aushielt, fühlte er doch schon, daß er eigentlich nur noch durch seinen festen Willen in dieser rasenden Bewegung gehalten wurde. Er wollte den Jungen fassen, und er wäre in dem Augenblick vielleicht unter Mißachtung aller Gefahren auch einen gefährlichen Abhang hinuntergesprungen, wenn er dadurch sein Ziel erreicht hätte.
Nicht besser ging es dem Gehetzten, der schon lange todmatt zu Boden gesunken wäre, wenn ihn nicht die Angst noch auf den Füßen gehalten hätte. Aber auch er wußte recht gut, daß er es nicht mehr lange aushalten würde. Schon fühlte er im Geist den eisernen, wohlbekannten Griff seines Vorgesetzten und fing an, sich verzweifelt nach Menschen umzusehen, zu denen er flüchten und die er um Hilfe bitten konnte.
Jetzt hatte er den zweiten Hügelrücken erreicht, und wieder war der Verfolger dicht hinter ihm. Lief er jetzt bergab, wußte er, daß er verloren war. Da gab ihm die Todesangst, die ja die Sinne besonders schärft, eine List ein. Vielleicht handelte er auch unbewußt, wie der Fuchs noch ein paarmal rechts und links auszubrechen versucht, ehe ihn die Hunde fassen können.
Oben angekommen, warf er sich nämlich Hals über Kopf wieder den Hang hinunter, aber nur wenige Sprünge. Sowie er den Verfolger dicht hinter sich hörte, sah er eine vorspringende Wurzel, schlug auf ihr einen Haken, hielt sich, um nicht zu stürzen, an einem Baum und war dann mit drei Sätzen wieder oben auf dem Rücken.
Das rettete ihn. Der Kapitän, in voller Wut hinter ihm drein, fast schon die Jacke mit der Hand berührend, war bergab in Schuß gekommen. Wohl erkannte er sofort, was der Bursche vorhatte, und wollte hinter ihm einbiegen, aber er verfehlte die Wurzel, dort stand kein anderer Baum, und er konnte sich nicht halten. In verzweifelter Wut warf er sich allerdings auf den Boden, um nicht ganz hinunter zu müssen, doch das lockere Geröll unter ihm gab nach, und polternd, stürzend und fluchend landete er endlich gut zweihundert Schritt in der Schlucht abwärts, vor einem soliden Quarzblock, an dem er außerdem einen Teil seiner Jacke und seiner eigenen Haut ließ.
Wo war der Junge jetzt? Nicht einmal sehen konnte er ihn noch – fort, über alle Berge, und die ganze Mühe umsonst! Der Kapitän hätte weinen mögen, wenn er jetzt daran dachte, daß der verfluchte Junge in diesem Augenblick vielleicht hinter einem anderen Stein saß und über ihn lachte. Sollte er die Hetze noch einmal aufnehmen, sollte er nur der Richtung folgen, die der Junge wahrscheinlich genommen hatte? Es ging nicht mehr. Solange er in der Aufregung und in Bewegung geblieben war, hatte er seine Müdigkeit nicht einmal gefühlt und wäre vielleicht noch eine Viertelstunde weitergelaufen, bis ihn möglicherweise ein Herzschlag gestoppt hätte. Jetzt aber, so gewaltsam in seiner wilden Bahn aufgehalten, fühlte er, daß seine Kräfte erschöpft waren. Die Glieder schmerzten ihm, und vom Sturz war er halb betäubt. Er konnte nicht weiter, und ingrimmig vor sich sehend ballte er die Faust nach oben und sagte:
»Hab' ich die Kanaille doch wenigstens auf Trab gebracht!«
Er blieb eine halbe Stunde am Stein liegen, mußte erst wieder Atem schöpfen, denn seine Lunge kochte förmlich und die Glieder versagten ihm jeden weiteren Dienst. Und wie er schwitzte! Er hatte keinen trockenen Faden mehr am Körper – alles wegen diesem Ausreißer, der nun frei durch den Wald davonlief. Aber wo war der Kapitän eigentlich? Er saß hier in einer der tausend Bergschluchten, die später mit Gumbäumen und trockenen »Tee«- und Wattelbüschen bewachsen waren. Das war der australische Wald, und kein menschliches Wesen war zu hören oder sehen. Oder doch? Er horchte auf. Dort drüben regte sich etwas und raschelte im Laub. Eine Kängeruhratte, eines der kleinen, zierlichen Geschöpfe in der Größe eines Kaninchens und in der Gestalt eines Kängeruhs, kam hervor.
Hm – das war kein Zeichen einer sehr belebten Gegend. Aber weit konnte er ja gar nicht vom Turon sein. Wenn er über den zweiten Hügelrücken in die Richtung ging, aus der er gekommen war, dann mußte er die Waschmaschinen unten im Tale klappern hören. Wie stand denn die Sonne? Hm, wenn er morgens vor sein Zelt trat, so hatte er sie links. Links? Nein, dort war sie gestern untergegangen. Rechts also kam sie herauf, gerade über dem Postoffice. So war er also in die Berge, vom Turon ab hinaufgestiegen. Wenn er jetzt so zurückging, mußte er gewiß zurückfinden. Aber nein – das paßte ja gar nicht. Was war es denn? Die Sonne stand doch nicht hier in Australien, wo alles verkehrt ist, ewig auch auf der verkehrten Stelle? Er hatte sie doch mittags im Norden, und im Osten ging sie auf und im Westen unter – aber jetzt stand sie da drüben? Wie war sie dahin gekommen?
Kapitän Becker überlegte sich die Sache hin und her, aber er kam zu keinem Resultat, weil ihm die Sonne nicht in die Richtung paßte. Daher beschloß er, Sonne Sonne sein zu lassen und sich nur nach den Landmarken zu richten, d. h. den Weg, den er gekommen war, wieder zurückzuverfolgen, wenn auch jetzt etwas langsamer.
Die Glieder waren ihm wie zerschlagen, er konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen und brauchte beinahe eine halbe Stunde, bis er nur die kleine Strecke wieder hinaufklettern konnte, die er so schnell heruntergeglitten war. Endlich oben angelangt, sah er sich um, blieb aber kopfschüttelnd stehen, denn das zurückgelegte Terrain hatte er sich ebenfalls anders gedacht. Wo er glaubte, daß er hergekommen sein müßte, da lag vor ihm ein breites Tal, das sich schräg absenkte. Er war aber nach seiner Erinnerung vorhin mit wenigen Sätzen hindurchgelangt, und etwas weiter rechts sah er allerdings ein Tal, das besser mit seinem Weg übereinstimmte. Das aber konnte die Richtung nicht sein, und dann hätte er ja auch ein Stück auf dem Kamm gehen müssen!
»Zum Henker«, brummte er nach langem Grübeln verdrießlich vor sich hin. »Jetzt nehm ich erst einmal den Kurs, den ich für den richtigen halte. Bin ich dem eine halbe Stunde gefolgt und sehe, daß er nicht der richtige ist, dann segle ich in meinem Fahrwasser wieder bis hierher zurück und nehme die andere Seite. Sicher ist sicher, und ich werde den Teufel tun und mich hier in den verdammten Bergen verlaufen, das hätte mir zuletzt noch gefehlt!«
Der Entschluß war gefaßt und mußte, wenn auch langsam, ausgeführt werden. Gleich beim ersten Schritt war er sich aber nicht ganz sicher, ob er auch wirklich auf dem richtigen Weg war. Je weiter er kam, desto überzeugter wurde er, daß es nicht der richtige Weg zum Turon war. Versuchsweise bog er einmal rechts, dann wieder links in ein Seitental ein und kletterte einen ziemlich steilen Berg hinauf, der ihm beinahe so aussah wie der, an dessen Fuß der Turon floß. Er hoffte zumindest, einen Überblick da oben zu bekommen, aber er wurde enttäuscht. Er konnte weder das Klappern der Waschmaschinen vernehmen noch weiter blicken als bis auf den nächsten Hügel, der genauso aussah wie dieser. Es blieb dem Kapitän nichts übrig, als zurückzugehen.
Das tat er länger als eine Stunde. Aber nun erkannte er auch diese Gegend nicht wieder und setzte sich schließlich erschöpft auf einen Stein, um ruhig zu überlegen, wie er gegangen sei und wohin er jetzt müsse.
»'s ist eine alte Regel«, murmelte er vor sich hin, »und ich habe sie oft gehört, daß man, wenn man glaubt, man hätte sich verlaufen, nur um Gottes willen nicht den Kopf verlieren soll. Ruhig Blut ist die Hauptsache, nachher geht alles. Wie bin ich also hier umhermarschiert – das wollen wir einmal untersuchen.«
Damit nahm er sein Messer heraus und bemerkte, daß er wahrscheinlich bei dem Sturz vorhin seinen Revolver aus dem Gürtel verloren hatte. Den brauchte er zwar jetzt nicht, aber was das schlimmste war, er vermißte auch seine Feldflasche. Das war unangenehm, ließ sich aber nicht ändern. Um so notwendiger wurde es, daß er herausbekam, wo er sich befand, damit er aus dieser fatalen Lage herauskam. Mit dem Messer zeichnete er sich einen Kompaß in den Boden und überlegte, indem er die Sonne mit seiner Uhr und der nördlichen Richtung verglich, wie er heute morgen »gesegelt« sei.
»Vom Lager an erst einmal etwas West-Südwest, dann strich der verfluchte Junge gerade West, vielleicht einen halben Strich Nord ab. Etwa eine halbe Meile die Richtung, dann schräg den Hang hinunter, halbe Meile wieder Südwest mit einem halben Strich Abdrift in den miserablen lockeren Steinen. Jetzt so hinüber drei Viertelmeilen und nun hier gerade Süd hinunter, bis ich da unten vor Anker kam. Gut, von da an gerad' Nordost bis auf die zweite Schneide, nachher in das eine Seitental Ost-halb-Nord, wieder zurück West-halb-Süd Viertelmeile, dann Nordwest Viertelmeile hinein und Südost wieder zurück, und jetzt von da unten auf, gerade von Nord-halb-Ost herüber, also nach Süd-halb-West zu etwa eine halbe Meile, und demnach wäre ich etwa hier.« Dabei stieß er sein Messer in den bezeichneten Punkt. »Der Turon fließt aber gerade dort drüben, und wenn ich also jetzt eine genaue Richtung Nordost, vielleicht mit einem halben Strich mehr Nord einschlage, so muß ich den kleinen Fluß irgendwo, ein Stück weiter unten oder oben ist egal, erwischen. Dann bin ich auch wieder zu Haus. Hol's der Geier, ich wollte, ich hätte mir die Sache richtig überlegt und wäre nicht den halben Tag wie blind umhergelaufen. Jetzt könnte ich im Lager bei einer ordentlichen Mahlzeit und einem Glas Porter sitzen, und an allem ist der verdammte Junge schuld.«
Weiterer Zorn half nichts, der Kapitän steckte deshalb sein Messer gelassen ein, setzte seinen Hut auf und stieg den nächsten Hang in die Richtung hinab, die er für die zweckmäßige hielt. Aber umsonst marschierte und kletterte er, bis er kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Er erreichte nicht einmal den Bach, an dem sie die Mannschaft gefunden und den er längst passiert haben müßte. Die Sonne sank inzwischen tiefer und tiefer. Hunger und Durst quälten ihn, und als die Nacht hereinbrach, konnte er sich die furchtbare Tatsache nicht mehr verheimlichen: Er hatte sich im Busch verirrt, und wenn er nicht zufällig auf Menschen traf, so lief er Gefahr, in der trostlosen Wildnis elend zu verschmachten.
Todmatt sank der Unglückliche unter einen Baum. Er dachte gar nicht daran, mit Stahl und Schwamm vielleicht ein Feuer zu entfachen, er hätte es nicht mehr gekonnt. Seine Kräfte waren erschöpft, sein Mut, der ihn bislang noch keine Sekunde verlassen, war gebrochen. Verzweifelt legte er die Stirn auf seinen Arm und lag regungslos, bewußtlos viele Stunden lang.
Der Frost schüttelte ihn endlich wieder wach und zur Besinnung zurück. Und welch ein Erwachen! Er versuchte aufzustehen und sich durch Gehen zu erwärmen, aber er konnte es nicht. Die Glieder waren ihm so schwer wie Blei, und eine Zentnerlast lag auf seiner Stirn. Er wickelte sich fest in seine Jacke, um sich gegen die kühle Nachtluft zu schützen. Es nützte auch nichts, daß er sich gegen die Steine schmiegte, seine Zähne schlugen wie im Fieber zusammen, und er konnte nicht einschlafen.
Aber auch diese Nacht verging. Als es hell genug war, um den stillen, gleichförmigen Wald um sich zu erkennen, raffte sich der Seemann auf und begann seine mühselige Wanderung erneut, heute aber nach einem anderen Plan.
»Wenn ich dorthin gehe, wo ich glaube, daß der Turon liegt, find ich im Leben nicht zu Menschen zurück. Ich will deshalb ein verzweifeltes Mittel wagen und dahin gehen, wo ich bislang geglaubt habe, daß die australische Wüste liegt. Soll ich untergehen, kann ich's da so gut wie in der anderen Richtung. Und ich will auch nicht mehr bergan gehen. Wenn der Talboden auch trocken ist, wird er mich doch zu einer tieferen Stelle führen, wo ich Wasser finde, und da sind auch Menschen. Also, frisch gewagt und mit Gott! Lange halt ich's ohnehin nicht mehr aus, aber solange ich noch Kräfte habe, will ich marschieren.«
Jetzt ging die Sonne auf, und der Kapitän blieb kopfschüttelnd stehen.
»Wunderbar, wunderbar!« sagte er dabei. »Nun begreife ich auch, was ich bislang nicht glaubte, daß ein Mensch, der sich zwei oder drei Tage in der Wildnis verirrt hat, den Verstand verlieren kann. Wüßt ich nicht so genau, daß die Sonne nicht im Westen aufgehen kann, hätte ich nicht tausendmal meine Berechnungen nach den Himmelskörpern gemacht, würde ich darauf schwören, daß die Welt umgedreht ist und die Sonne ihre Bahn rückwärts macht. Es ist ja beinahe nicht möglich, daß dort Osten liegt, und trotzdem kann es nicht anders sein. Also vorwärts, Bernhard, vorwärts, immer talab, heute halt ich's noch aus. Am Abend aber suche ich mir einen anständigen Baum, kratze meinen Namen in die Rinde, und wenn ich die Kraft habe, vermerke ich auch noch, was für ein guter Mensch ich gewesen bin. Dann leg ich mich drunter, mache die Augen zu und träume mich in die Ewigkeit hinüber – vorwärts, Bernhard!«
Kapitän Becker war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Er hatte dem Tod oft ins Auge gesehen und nicht gezittert. Er begegnete jetzt auch dem, was er schon für unvermeidlich hielt, mit der gewohnten Fassung. Wenn ihm auch dabei das Auge etwas feucht wurde, so hatte die Träne darin nichts mit ihm selbst zu tun, sondern galt einem anderen, lieben und teuren Wesen, weit, weit von hier und Gott sei Dank in Ruhe und Sicherheit lebend. Aber auch das schüttelte er bald von sich und achtete wieder mehr auf seinen Weg, auf seine Umgebung.
Es war ein langes, weites Tal, dem er jetzt folgte. Aber selbst hier gab es keinen Bach, nicht einmal in der Regenzeit. Nur einige kleine, jetzt trockene Rinnen fand er, bei denen er vergeblich nach einer Quelle suchte. Da die trockenen Rinnen oft in steile Schluchten liefen, mochte er ihnen nicht folgen. Er war entschlossen, jetzt wenigstens die Richtung einzuhalten. Was half es ihm auch, wenn er mal links, mal rechts einbog, er kam dann gar nicht mehr von der Stelle.
Die Hänge an beiden Seiten waren mit den gewöhnlichen Gumbäumen bewachsen, und nur gelegentlich standen kleine Gebüsche wundervoll goldgelb blühender Wattelbäume, die ihren Duft weit durch den Wald sandten. Zweimal sprang auch ein Kängeruh vor ihm auf und mit langen, mächtigen Sätzen jedesmal den Hang hinab – aber was half ihm das. Er hatte nicht einmal mehr seinen Revolver, um auch nur eine Jagd zu versuchen. Und wenn er ihn gehabt hätte, keine Zeit dazu. Er mußte fort – weiter – weiter –, um sein eigenes Grab zu suchen.
Keine menschliche Spur in der furchtbaren Wildnis. Der Wald schien wie ausgestorben. Dem Verirrten blieb kaum noch ein Zweifel, daß er sich immer weiter von den Minen entfernte. Aber sollte er umkehren? Die furchtbare Einöde noch einmal durchwandern, durch die er kam? Nein. Sein Ziel lag vor ihm, und dem folgte er.
Still und schweigend schritt er weiter, der Hunger plagte ihn, der Durst brannte ihm im Gaumen, aber er biß die Zähne aufeinander. Was auch kam, es sollte ihn gerüstet finden. Er war nicht der Mann, der von einem Mißgeschick erreicht und niedergeworfen wurde. Er wollte sich erst hinlegen, wenn er die Zeit für passend hielt. Aber bis die kam, hielt er den Kopf oben und ließ sich den entschlossenen Sinn nicht beugen.
Die Sonne stieg höher und höher, stand im Zenit und sank wieder gegen Westen. Noch wanderte der Einsame in einem Strich fort, ohne sich auch nur einmal auszuruhen. Aber es war schon fast nur noch mechanisch, daß er einen Fuß vor den anderen setzte und sich selber im Gleichgewicht hielt. Er hörte nicht mehr, was um ihn her vorging, vor seinen Ohren entstand ein dumpfes Brausen, vor seine Augen legte sich ein Schimmer, der die Umrisse von Baum und Fels mit Regenbogenkanten überzog. Er fühlte, daß seine Kräfte abnahmen, aber er wollte bis Sonnenuntergang aushalten. Nur noch so lange, bis der untere Rand der Sonnenscheibe den Rücken der Berge berührte, dann sich einen Baum aussuchen, um unter dem zu sterben.
Weiter schritt er und weiter – wieder kreuzte seinen Weg ein schmales Tal. Er wollte es eben, wie die früheren, gleichgültig überschreiten, als er wie gebannt auf der Stelle stehenblieb und mit ausgestreckten Händen und weit aufgerissenen Augen vor sich niederstarrte. Denn vor ihm lief ein Weg, ein nicht breiter, aber ein betretener Weg. Was das Unglück nicht geschafft hatte, erzwang das Glück: Die Tränen liefen ihm aus den Augen, und er warf sich auf den Boden nieder und küßte die Spuren, die von Menschen in den harten Boden getreten waren.
Aber selbst das geschah nur im ersten Moment der Überraschung. Das erste Gefühl der Seligkeit, das ihm Rettung versprach, denn er wußte jetzt, er war gerettet. Diese Spuren gehörten keinem einzelnen Schäfer, der seine Herde hier durch den Busch trieb. Da waren Radgleise, die von schwerbeladenen Karren herrührten, da waren die Eindrücke beschlagener Pferdehufe. Wenn der Weg nicht direkt in die Minen führte, so war es doch eine oft benutzte Verbindungsstraße zwischen zwei Stationen, und die eine oder die andere mußte er jetzt erreichen, ob er nun nach rechts oder links ging.
Das Bewußtsein, von einem furchtbaren Tod erlöst zu sein, hatte ihm frische Kräfte gegeben. Er fühlte jetzt, daß er, wenn es sein müßte, noch eine weite Strecke wandern und selbst noch eine Nacht im Freien aushalten könne. Aber er mußte sich vor allen Dingen erst sammeln, er mußte sich überlegen, welche Richtung er nun einschlagen sollte, welche die wahrscheinlichste war, damit er so rasch wie möglich unter Menschen kam.
Nach den Gleisen und Fährten ließ sich das nicht unterscheiden. Der Kopf wirbelte ihm von all den neuen Gedanken und Empfindungen, denn er kam sich vor wie ein neugeborener Mensch. Deshalb beschloß er, sich vor allen Dingen im Schatten eines der alten Gumbäume etwas auszuruhen. Der Körper sollte erst sein Recht haben und dann mit neuem Mut die Wanderung fortgesetzt werden.
Aber er legte sich nicht dicht an den Weg. Es war ein eigenes Gefühl, das ihn dabei leitete. Er wollte in die Wildnis hineingehen, wollte sich ausmalen, daß er noch allein, verirrt, verloren draußen im wilden Wald läge, und dann, indem er nur den Kopf etwas zur Seite drehte, den betretenen Weg sehen, den er gewonnen hatte und der ihm wie mit einem Zauberschlag all die lieben Bilder von rauschendem Wasser, von plaudernden Menschen, von lustig loderndem Lagerfeuer und brodelnden Kesseln vor Augen führte.
Gleich rechts vom Weg war so ein lauschiges Plätzchen gerade unter einem blühenden Wattelbusch, der ihm auch Schatten gegen die noch etwa zwei Stunden hochstehende Sonne gab. Dorthin legte er sich und nahm sich vor, daß er im Falle einer weiteren Übernachtung im Freien nicht weitermarschieren würde, als er den Weg klar und deutlich erkennen konnte. Nicht einen Augenblick länger, damit er ihn um Gottes willen nicht wieder verliere. Dann konnte er sich dicht daneben hinlegen und schlafen. Und morgen, wenn die Sonne aufging, setzte er seine Bahn fort und – kam zu Menschen.
Was für ein herrliches Gefühl war es, hier im Gefühl der Sicherheit zu rasten, einen Faden gefunden zu haben, der ihn zurück zu seinesgleichen führte. Er empfand kaum noch Hunger und Durst und sog in vollen Zügen den balsamischen Duft der gelben Blüten ein.
Und wie das wunderbar in den Bäumen rauschte. Er erinnerte sich gar nicht, je im australischen Busch diesen melodischen Laut gehört zu haben. Wie das klang und zwitscherte, und jetzt flatterte da oben vor ihm in dem alten Gumbaum ein ganz wundervoller Vogel auf einen Zweig und schlug ständig mit den Flügeln und rief und pfiff dabei, fast so, als würde er mit jemand zanken.
Der Kapitän wußte, daß Australien wegen seiner herrlich gefiederten Vögel berühmt ist, unter denen besonders die Familien der Papageien und Tauben prächtig ausgestattet sind. Aber einen solchen Vogel hatte er noch nie im Leben gesehen – was er da nur wollte? Lag er vielleicht in der Nähe seines Nestes, und scheute sich deshalb das kleine Tier, näher zu kommen? Zwitscherte und zankte es deshalb so, um ihn wegzulocken?
Du lieber Gott, er war müde genug und der Platz hier so bequem und einladend, daß er gerne noch länger liegengeblieben wäre. Aber er fühlte sich selbst so glücklich und seelenfroh, daß er keine andere Kreatur kränken mochte. Deshalb wollte er schon aufstehen und dem kleinen Schreier den Platz überlassen, da hörte er es plötzlich überall um sich im trockenen Gumlaub und unter den verstreuten Rindenstücken des Stringybark rascheln und arbeiten. Als er sich erstaunt danach umsah, schauten überall kleine, winzige Menschenköpfe mit klugen, blitzenden Augen darunter hervor. Jetzt kam es ihm vor, als ob der Vogel gar nicht mit ihm gezankt, sondern nur das kleine Volk da aus seinem Versteck gerufen hätte.
Gab es denn Elfen? Er hatte davon in Märchen- und Kinderbüchern gelesen. Aber sollte das, was er nur für Dichtung gehalten hatte, jetzt wirklich um ihn herum sein? Aber es blieb ihm keine Zeit zum Überlegen, denn jetzt pfiff der Vogel da oben grell. Als ob sie nur auf dieses Zeichen gewartet hätten, sprang und drängte plötzlich alles aus den Blätterhüllen hervor. Nicht nur unter dem dürren Laub kamen sie hervor, aus den Blütenkelchen des Wattelbusches flatterten sie wie Schmetterlinge heraus, aus den Astlöchern der trockenen Gumbäume wimmelten sie daher, der ganze Wald schien zu leben, und in wenigen Minuten war der Raum um ihn mit Hunderten der kleinen Wesen gefüllt. Sie sammelten sich alle um ihn, lachend und einander neckend.
Es war ein reizendes kleines Volk, die winzigen, halbnackten Gestalten, die nur eine Art duftiges Gewand trugen. Zuerst glaubte er, sie hätten ihn hier gar nicht bemerkt und er sei nur zufällig Zeuge ihrer fröhlichen Zusammenkünfte in der Wildnis geworden. Aber bald sah er, daß er sich völlig geirrt hatte. Sie drängten sich nicht nur um ihn und schienen sich dabei überhaupt nicht zu fürchten, sondern jedes von ihnen trug auch eine Gabe für ihn, wie er jetzt entdeckte. In winzigen Schalen und Blumenkelchen brachten sie Tautropfen. Auch auf einem großen gelben Blatt vom Wattelbusch trugen sie einen Tropfen Tau. Als sie um ihn standen, kicherten und lachten sie, denn sie wußten ganz gut, daß er mit den einzelnen Tropfen nichts anfangen konnte.
Da pfiff der Vogel oben wieder, und jetzt dröhnte es in den Büschen wie der Hufschlag eines Pferdes. Als er aber genauer hinsah, entdeckte er einen kleinen kräftigen Burschen, der auf einer Kängeruhratte angaloppiert kam und den Kelch einer großen, mächtigen Glockenblume in den Armen hielt.
Ihm machten alle anderen Platz. Erst als er mitten zwischen sie hineinsprengte, drängten sie sich um ihn, nahmen ihm die große blaue Glockenblume ab, stellten sie auf den Boden und gossen jeder ihren Tropfen da hinein, bis der Kelch zum oberen Rand mit dem kristallklaren Labsal gefüllt war.
Ganz komisch sah es aus, wie sich die kleinen, lustigen Gesellen abmühten, den schwer gewordenen Kelch zu ihm emporzuheben und nichts dabei zu verschütten. Es knisterte und knatterte um ihn her, kicherte und lachte und zwitscherte in den Zweigen, und dazwischen konnte er verstehen, wie sie ihm zuriefen, er solle ihnen helfen und zulangen, denn sie wüßten ja, wie entsetzlich durstig er sei. Aber er wagte es nicht, denn so dicht umdrängten und umschwirrten sie ihn, daß er befürchtete, bei der geringsten Bewegung eines der niedlichen Wesen zu beschädigen. Doch der Kelch winkte so verlockend und einladend, daß er zu gern daraus getrunken hätte.
Da sprang der kleine kräftige Bursche von seiner Kängeruhratte herunter und kam auf ihn zu. Es klang, als ob er Sporen an den Füßen hätte. Mit einem Satz war er bei ihm und rief lachend:
»Wenn du denn so ungeschickt bist, du großer fremder Mann, dann muß ich dir ja wohl helfen«, und dabei nahm er seine beiden Hände, so leicht, als hätten sie gar kein Gewicht, und legte sie zusammen.
In diesem Augenblick war es aber dem Kapitän, als ob sich eine kalte, harte Schlange um seine Handgelenke winde. Er wollte die Hände erschrocken wegziehen, aber er konnte nicht. Die Schlange hielt ihn fest umspannt. Jetzt sah er auch erst, daß die kleine stämmige Gestalt das boshafte, hämische Gesicht seines Schiffsjungen trug, und mit einem Schrei fuhr er aus seinem Traum empor.
»Halt, mein Bursche«, sagte da eine sehr wirkliche, rauh und heiser lachende Stimme. »Nur geduldig. Geduld ist die Hauptsache. Du bist fest und sicher in den Darbies und kannst dir nicht helfen. Nimm's gelassen, wie Puddy sagt, oder ich klopfe dir noch außerdem eins auf den Kopf. Verstanden?«
Der Kapitän sah verstört umher. Die kleinen lustigen Gestalten waren wie in den Boden hinein verschwunden. Nur die Schlange um seine Hände blieb: Es waren eiserne Handschellen, und über ihn gebeugt stand einer der berittenen Polizisten und nickte ihm freundlich grinsend zu.
Was war denn geschehen? Die letzten Phantasiebilder schwirrten ihm noch im Kopf, und er war noch nicht in der Lage, sie von der jetzigen Wirklichkeit zu trennen. Er wollte reden, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen, und er brachte keinen Ton über die Lippen. Endlich faßte er klare Gedanken. Die Sonne ging gerade unter, er mußte unter dem Busch eingeschlafen sein. Er hatte sich verirrt und dann den Weg gefunden. Aber dieser Polizist? Was um Himmels willen wollte der von ihm?
»Na? Noch nicht munter?« lachte der Mann. »Du hast einen guten Schlaf, mein Bursche, das ist wohl wahr. Aber du hast ja auch eine tüchtige Wegstrecke zurückgelegt, kein Wunder, daß du müde geworden bist. Aber nun komm, ich habe keine Lust, die Nacht in deiner Gesellschaft im Busch zu verbringen. Wir wollen machen, daß wir auf die nächste Station kommen.«
Becker erkannte, daß hier ein Mißverständnis vorliegen mußte, und wollte es aufklären, aber er konnte nicht. Die Kehle war ihm so ausgedörrt, daß er keinen Ton heraus brachte. Das einzige, was er jetzt mit kaum hörbarer Stimme flüstern konnte, war:
»Wasser – einen Schluck Wasser!«
»Aha, du hast Durst. Ja, tut mir leid, Wasser habe ich nicht, aber nimm einen Schluck davon, das wird dich auch wieder auf die Hacken bringen.«
Er nahm eine kleine Feldflasche aus der Tasche, öffnete Korken und hielt sie ihm an die Lippen.
Becker nahm einen kräftigen Schluck, den ihn aber der Polizist nicht wiederholen ließ.
»Halt, Kamerad!« rief er lachend und nahm die Flasche wieder an sich, wischte sie ab und stöpselte sie zu. »Wir wissen nicht, ob wir heute abend im Quartier einen Schluck bekommen können, und besser ist besser. Jetzt aber marsch, denn wir müssen fort!«
Becker fühlte seine Kehle jetzt wenigstens angefeuchtet, er konnte sprechen und sagte:
»Lieber Freund, Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue, Sie zu sehen.«
»Kann ich mir denken«, lachte der Mann.
»Ich hatte mich verirrt«, fuhr der Kapitän fort. »Erst vor kurzer Zeit habe ich den Weg hier gefunden, ich weiß noch nicht einmal, wo ich eigentlich bin. Aber das schadet nichts, ich befinde mich wenigstens unter Menschen und werde zu essen und zu trinken bekommen.«
»Damper, Hammelfleisch und Tee«, bestätigte der Polizist. »Also marsch, damit wir's nicht versäumen.«
»Dann tun Sie mir nur den Gefallen«, sagte der Kapitän ruhig, »und nehmen Sie mir die verdammten Eisen ab, denn ich bin kein Verbrecher und Sie müssen wirklich nicht befürchten, daß ich Ihnen weglaufe. Ich habe im Gegenteil viel größere Angst, daß Sie mir durchbrennen.«
»Keine Angst«, nickte ihm der Mann freundlich zu. »Wir beide bleiben jetzt eine Weile zusammen. Und jetzt vorwärts, denn ich gehöre nicht zu den Grünen, Mate, und lasse mich so nicht leimen.«
»Aber ich gebe Ihnen mein Wort...«
»Vorwärts!« rief der Mann, ungeduldig werdend, und machte eine drohende Bewegung. »Jetzt habe ich's satt!«
Kapitän Becker fühlte, daß sich hier nichts machen ließ. Der Bursche hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß er ein Verbrecher sei, den er glücklicherweise im Schlaf überrascht und gefangen hatte. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als sich dem zu fügen. Jedenfalls brachte ihn dieser Führer wieder unter Dach und Fach, zu Essen und Trinken. Wenn er dann zu Leutnant Beatty gebracht wurde – wie der wohl lachen würde!
»Verdammter Junge«, murmelte er leise vor sich hin, als ihm die Ursache seiner Abenteuer wieder einfiel.
»Wenn Sie schimpfen, gibt's eins auf den Kopf«, sagte der Mann, der die Worte gehört hatte.
Becker lachte. »Ich habe Sie nicht gemeint und dachte an etwas ganz anderes. Also vorwärts dann, wenn's nicht anders sein kann! Wie weit haben wir noch bis zum ersten Haus?«
»Etwa eine Stunde, wenn wir tüchtig marschieren.«
»Das werd ich wohl nicht können, ich bin todmüde.«
»Gut, dann brauchen wir etwas länger. Denk nur immer, mein Bursche, daß du, je schneller du deine Spazierhölzer bewegst, desto früher an einen Topf Tee und ein Stück Fleisch und Damper kommst. Diese Vorstellung wird dir wohl am besten Beine machen. Damit wir aber nicht aus Versehen auseinanderkommen, wollen wir lieber noch eine Vorsicht gebrauchen.«
Damit nahm er eine lange Hanfleine aus der Tasche, die er um Beckers Arm befestigte. Das andere Ende nahm er in die Hand und ging dann zu seinem Pferd und stieg in den Sattel.
»Nur noch eine Warnung«, setzte er hinzu. »Mach keinen Versuch zur Flucht. Mit dem Eisen kommst du nicht weit, der Busch ist außerdem hier sehr licht, und große Rücksichten kann ich nicht nehmen. Wenn du Miene machst, auszureißen, haue ich dich zusammen, das laß dir gesagt sein. Und nun vorwärts!«
Der Kapitän dachte gar nicht an Flucht. Nicht für alle Goldklumpen Australiens wäre er jetzt auch nur einen Schritt wieder allein in den australischen Busch gegangen. Er war selbst zu müde geworden, um nur auf die Warnung zu antworten. Deshalb nickte er nur und ging dann, so rasch es seine Kräfte erlaubten, neben dem Pferd her. Der Mann hatte recht gehabt. Ein Topf Tee und ein Stück Fleisch waren das beste Lockmittel für ihn, und dem strebte er jetzt mit aller Anstrengung entgegen.
Eine gute Viertelstunde mochten sie wohl so marschiert sein. Die Sonne war eben hinter den westlichen Hängen verschwunden, und das violette Dämmerlicht legte sich auf die Waldung. Darüber stand klar und rein die Sichel des wieder wachsenden Mondes am blauen Himmel, nur für uns im Norden in verkehrter Stellung.
Der Weg war bis hierher in dem breiten Tal hingelaufen, und verschiedene ausgebrannte Lagerstätten machten es wahrscheinlich, daß er in die Minen führte. Sie begegneten weiter keinem Menschen. Möglich, daß der Weg von einer der kleinen Binnenstädte herkam, möglich auch, daß er nur zwei Stationen miteinander verband, wie der Kapitän vermutete. Aber er war jetzt viel zu schwach, um danach zu fragen. Das konnte er alles heute abend erfahren, wenn er sich erst ordentlich gestärkt und ausgeruht hatte.
Jetzt machte der Weg plötzlich eine kurze Biegung nach links, rechts zweigte ein kleines, ziemlich enges Tal ab. Dem gegenüber zog sich wieder ein waldbewachsener Hang hinauf. In der Regenzeit mochte hier ein Bach quer durchlaufen, denn große Steine waren an der rechten Seite so gelegt, daß man trockenen Fußes darübergehen konnte. Jetzt brauchte man sie allerdings nicht. Durch die zeitweilige Feuchtigkeit begünstigt, standen hier die Büsche üppiger und dichter, und einzelne Felsblöcke waren malerisch bewachsen. Selbst eine Kasuarine hatte an der Stelle Wurzeln geschlagen, und ihr langes, wehendes, schachtelhalmartiges Laub zitterte im Abendwind.
Als sich der Polizist diesem Dickicht näherte, hatte er einen Blick vorsichtig nach rechts und links geworfen, aber wohl nichts Verdächtiges bemerkt, denn er ritt ruhig weiter. Jetzt passierten sie die Kasuarine und waren noch nicht zehn Schritte daran vorbei, als von dort ein Schuß fiel. Das Pferd flog mit einem wilden Satz nach vorn und riß den Kapitän um. Glücklicherweise verlor der Polizist bei dem Ruck die Leine aus der Hand, sonst wäre der Gefangene noch ein Stück von dem durchgehenden Pferd mitgeschleift worden. Erschrocken richtete er sich auf, als zwei Männer aus dem Gebüsch sprangen, ihn an den Armen griffen und an den Rand des Hanges rissen. Das alles geschah so schnell, daß Becker keinen Widerstand leisten konnte und gar nicht wußte, wie er sich verhalten sollte. Die beiden Männer hielten ihn an den Seiten und setzten ihre Flucht den Hang hinunter fort.
Er konnte noch sehen, wie der Polizist sein durchgegangenes Pferd zügelte und herumwarf. Aber eine zweite auf ihn abgefeuerte Ladung machte das Pferd zum zweitenmal wild. Vielleicht sah der Mann auch ein, daß er gegen die bewaffneten Bushranger nichts ausrichten konnte, und gleich darauf hörten sie auf dem harten Boden die davongaloppierenden Hufe.
In wilder Flucht ging es den steilen, rauhen Hang hinunter. Der Kapitän, der schon geglaubt hatte, daß er auf dem verhältnismäßig ebenen Weg vor Ermattung kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte, sah sich hier noch einmal gezwungen, seine letzten Kräfte zusammenzunehmen, um wenigstens nicht zu stürzen. Ein Sturz hier, bei der Schnelligkeit, mit der er ins Tal gerissen wurde, hätte zwischen den vielen scharfen Steinen schlimm für ihn ausgehen können.
Außerdem war es hier in dem dichten Gebüsch schon völlig dunkel, so daß er seine Begleiter nicht einmal richtig erkennen konnte. An eine Unterhaltung war auch nicht zu denken, denn jeder hatte mit sich genug zu tun, um sein Gleichgewicht zu behaupten und den Gefesselten zu stützen. Endlich langten sie glücklich unten an, und Kapitän Becker wollte jetzt gegen diese Behandlung protestieren, aber es wurde ihm nicht gestattet.
»Pst, kein Wort!« warnte einer. »Wir sind hier noch nicht sicher.«
»Ach was«, sagte der andere. »Glaubst du, daß der Polizist so verrückt ist, den Hang hier bei Nacht und Nebel herunterzureiten? Er wüßte, daß er nie wieder Sonnenschein sehen würde.«
»Besser ist besser«, beharrte der eine. »Sind wir erst im Loch unten, dann wissen wir genau, daß er nicht nach kann. Es ist überhaupt höchste Zeit, daß wir hinunterkommen, sonst brechen wir in der Dunkelheit Hals und Bein.«
Na, das hätte noch gefehlt, dachte Kapitän Becker. Aber er war so völlig willenlos geworden, daß er alles mit sich geschehen ließ. In der Nacht konnte er doch nicht mehr fort, und er mußte Ruhe und Nahrung haben, ob das nun unter einer Bande Verbrecher oder im Arrest mit Handschellen war.
»Hierher, Mate«, sagte einer der Leute, faßte ihn am Arm und zog ihn weiter. »Tritt vorsichtig auf, unten schlagen wir dir die Eisen rasch genug ab. Donnerwetter, diesmal kamen wir gerade zur richtigen Zeit.«
Becker konnte nichts erwidern, denn es ging hier steil hinab. Es war eine Art Mauer, die aus übereinandergewachsenen Steinblöcken zu bestehen schien. Zu sehen war fast gar nichts, und mit den Füßen mußte er jedesmal nach einem Halt fühlen und sich dann oben mit den beiden gefesselten Händen festhalten.
Glücklicherweise war der Absatz nicht hoch, und die vorstehenden Felsen boten auch genug Fußhalt. Unten angelangt, pfiff der eine seiner beiden Führer leise. Das Zeichen wurde kaum hundert Schritt weiter unten beantwortet. Nach einem kurzen, aber beschwerlichen Weg über lockeres Geröll, zwischen dem Becker zweimal stürzte und sich Ellbogen und Knie wund schlug, bogen sie plötzlich in eine von der Natur geschaffene kleine Schlucht ein, die Menschenhände nicht besser zu einem Schlupfwinkel im Wald herrichten konnten.
Die Felsen bildeten hier ein richtiges Haus, das nach hinten in eine warme, aber geräumige Höhle auslief. Vorstehende Seitenwände fingen nicht nur den Wind völlig ab, sondern deckten auch den Schein des Feuers nach allen Seiten hin.
Vor dem Feuer standen drei Männer, die sie erwarteten. Das Gespräch war kurz und bündig.
»Was war's? Wer schoß?«
»Wir trafen einen der Polizeihunde, der Jim geschnappt hatte, und jagten ihm den Gefangenen ab.«
»Ist er tot?«
»Nein, 's waren nur ein paar Schrotschüsse hinten aufs Pferd, um ihm Beine zu machen, das half.«
»Um so besser, Blut ist schon genug geflossen. Wo ist Bill?«
»Wahrscheinlich noch oben geblieben, um aufzupassen, ob der Bursche nicht zurückkommt. Er wird sich aber hüten.«
Die Männer hatten inzwischen ihren »Befreiten« zum Feuer geführt. Derjenige, der sie angesprochen hatte und mit dem Rücken zur Flamme stand, rief jetzt verwundert aus:
»Ist das vielleicht Jim?«
»Alle Teufel!« fluchten die beiden anderen und betrachteten den Fremden beim Feuerschein erstaunt.
»Wen haben wir denn da? Aber er trägt Darbies.«
»Gebt mir zu trinken«, stöhnte der Kapitän, der nicht mehr aufrecht bleiben konnte und erschöpft neben dem Feuer zusammenbrach. »Um Gottes Barmherzigkeit, einen Schluck Wasser!«
»Da steht kalter Tee«, sagte der Sprecher wieder. »Reich mal den Becher rüber, Smith. Er scheint's nötig zu haben.«
Becker streckte zitternd die gefesselten Hände dem Becher entgegen und hob ihn an die Lippen. Es war einer der normalen Quarttöpfe, und er leerte ihn auf einen langen Zug.
»Wie lange hast du nicht getrunken, Mate?«
»Zwei Tage«, stöhnte der arme Teufel. »Ich hatte mich verirrt.«
»Donnerwetter, kein Wunder, daß du Durst hast. Weshalb hast du die Eisen?«
Aber Becker konnte heute abend keine Fragen mehr beantworten. Er war völlig gebrochen. Die Leute breiteten gutmütig eine ihrer Decken hinten in der Höhle aus, schoben ihm etwas Rinde und Laub als Kissen unter den Kopf und führten ihn dann auf sein rauhes, aber doch bequemes Lager. Vorher schlugen sie aber die Handschellen herunter, wobei sie eine ganz besondere Fertigkeit zeigten. Es ging so rasch und leicht, und dann boten sie ihm zu essen an. Doch er konnte heute nichts mehr genießen, wollte nur noch einmal trinken, dann fiel er in einen tiefen Schlaf, der einer Betäubung ähnelte. Erst am nächsten Morgen sollte er wieder erwachen.
Die Leute am Feuer kümmerten sich inzwischen nicht weiter um ihren Gast, denn die Handschellen waren bei ihnen die beste Empfehlung. Er gehörte zu ihnen, sonst hätte sich die Polizei nicht um ihn gekümmert. Wenn er sich erst erholt hatte, konnte man immer noch Einzelheiten erfahren. Jetzt gingen ihnen andere Dinge im Kopf herum. Daß sie sich so kurz vor dem Dunkelwerden, ja, eigentlich schon mit eingebrochener Nacht hier gezeigt hatten, verriet ihren Schlupfwinkel. Sie mußten damit rechnen, daß diese Gegend morgen abgesucht würde.
Um alles weitere zu bereden, verbrachten sie die halbe Nacht. Aber Becker hörte nichts von ihnen. In seine Decke fest eingewickelt lag er und stöhnte nur manchmal schwer im tiefen Schlaf. Er träumte, daß er wieder hinter dem Schiffsjungen herlief, und vor ihm galoppierte der kleine Bursche auf der Känguruhratte und hatte die Handschellen dabei wie einen Gürtel um seinen dünnen, schmächtigen Körper.