Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

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13

Am Allerseelentag fiel der erste Schnee über die Dächer des Dorfes, während er auf den Bergen schon fußhoch lag. – Franzl blieb in der Dippelhütte, um den Flug der Adler zu überwachen. Mitte November erhielt er aus Siebenbürgen von Graf Egge die telegraphische Anfrage: »Sind sie noch da?« Vier Wochen später kam die gleiche Frage aus dem Banat, wohin Graf Egge zu den Bärenjagden gereist war.

Am Tag vor Weihnachten suchte Franzl unter wirbelndem Schneegestöber den Heimweg ins Dorf.

Im Park von Hubertus war weiße Stille. Schmal ausgetretene Fußwege führten durch den hohen Schnee. Am Schloß waren alle Fensterläden geschlossen, die Hirschgeweihe von der Mauer abgenommen. Der Adlerkäfig in der Ulmenallee stand leer, und in dicken Klumpen hing der Schnee am Drahtgitter – die Sommergäste des Käfigs hatten das Winterquartier in der Remise bezogen.

Für Franzl kamen harte Wochen. Die Überwachung der Wildfütterung, die Zurichtung der Marderfallen und das Legen der Fuchseisen hielt ihn vom Morgen bis zum Abend auf den Beinen. Wohl waren für Pattscheider und Schipper zwei neue Jäger in Dienst getreten, aber sie mußten das Revier erst kennenlernen, bevor ihnen Franzl einen Teil der Arbeit übertragen konnte. Und jede zweite Woche stieg er durch den zähen Schnee zum Palais Dippel hinauf, um den Adlern frische Kirrung zu legen.

Noch in jeder Schneezeit hatte Franzl die gleichen Strapazen gesund und lachend übertaucht. In diesem Winter wurde sein Gesicht so schmal, seine Gestalt so hager, daß die Horneggerin mit Sorgen kein Ende fand.

Die letzte Märzwoche brachte einen brausenden Föhnsturm. Auf allen sonnseitigen Gehängen der Berge schmolz der Schnee, und das Hochwild verließ – für den Jäger das erste Frühlingszeichen – die Futterplätze, um zu den Almen hinaufzusteigen.

Franzl quartierte sich wieder im Palais Dippel ein. Seine stille Schwermut blieb auch da droben unverändert, obwohl ihm die Arbeit keine Zeit zu zwecklosem Grübeln vergönnte. Während er dem neuen Kameraden, der mit ihm das Heulager teilte, den Schutzdienst im Bezirk überließ, war er vom ersten Morgengrauen bis zum sinkenden Abend auf den Füßen, um hoch im Gewänd den Kirrungsplatz der Adler zu überwachen oder tief im Bergwald die Balzplätze der Auerhähne aufzusuchen.

In der ersten Maiwoche schickte ihm Moser einen Zettel des Inhaltes: »Morgen kommt der gnädig Herr Graf, er will dich gleich haben, hat er dellagrafiert. Um zehne kommt er, also schau, daß bei der Hand bist, sonst gibt's Spitakl – dein lieber Moser.« Franzl trat sofort den Heimweg an und stellte sich rechtzeitig in Hubertus ein. Das Schloß hatte schon Frühlingstoilette gemacht: die Geweihe hingen an der Mauer, die Fontäne plätscherte, die Rosenstämmchen waren aufgebunden, und in der Ulmenallee, deren Bäume von einem zartgrünen Schimmer überhauchte waren, saßen die fünf Adler hinter dem Gitter. Einer der Vögel trauerte. Den Kopf zwischen die Schulter geduckt, saß er auf der Stange und blähte das Gefieder auf, als wäre ihm nicht mehr behaglich in seiner Haut.

Moser, der gerade die Fütterung erledigte, sagte zu Franzl: »Ich kann mir gar net denken, was der Vogel hat. Die Gschicht is wie verhext. Ich bin net abergläubisch. Aber da gschieht wieder ebbes im Haus! Nix Guts!« Moser verstummte, denn er hörte von der Straße her das Rollen eines Wagens.

Mit raschem Trab, dessen Hufschlag der weiche Kiesgrund dämpfte, kamen die Pferde durch die Ulmenallee. Den Schoß von einer rot eingefaßten Pantherdecke überbreitet, saß Graf Egge allein in der offenen Kalesche; er trug einen dunkelgrünen Jagdanzug mit Lederknöpfen, einen neuen, grauen Havelock und dazu seinen alten verwitterten Filzhut, auf dem ein dickes Büschel der Reiherfedern nickte, die er im Winter an der unteren Donau erbeutet hatte.

Franzl eilte dem Wagen entgegen. »Grüß Gott, Herr Graf, und Weidmanns Heil daheim!« Bis ins Herz erschrak er, als er das Gesicht seines Herrn in der Nähe sah; es hatte eine fahlgelbe Färbung, wie verregnetes Heu, der Mund war bitter verzerrt, jede Furche schärfer geschnitten, und die tiefliegenden Augen hatten einen fieberhaften Glanz.

Graf Egge stieg mit gebeugtem Rücken und etwas steifem Fuß aus dem Wagen; er dankte für den Gruß des Jägers nicht; sein erstes Wort war die Frage: »Was machen die Adler?«

»Sie horsten bei uns.«

Langsam streckte sich Graf Egges Gestalt, und in Erregung spannten sich seine schlaffen Züge. Er legte die Hand auf Franzls Schulter, atmete tief und nickte lächelnd. Ohne ein Wort zu sprechen, ließ er sich von Fritz und Moser begrüßen und trat ins Schloß. Zuerst öffnete er die Tür der Kruckenstube und warf einen Blick über die Wände; dann ging er in das Speisezimmer, wo zum Frühstück für ihn gedeckt war. Neben dem Teller lag die in den letzten Tagen eingetroffene Post.

»Hornegger soll kommen!« befahl Graf Egge, als Fritz zu servieren begann.

Franzl mußte am Tisch Platz nehmen und die Reviergeschichte des Winters erzählen. Graf Egge aß dazu einige Bissen und öffnete die Briefe. Unter ihnen war ein Nachzügler der schwarzen Rechnungen: eine Forderung für »Kranzschleifen mit Golddruck«.

Graf Egges Gesicht entstellte sich, und im Zorn warf er das zerknüllte Blatt unter den Tisch. »Das nimmt kein Ende mehr! Ich will Ruhe haben! Ruhe!« Er drückte die Fäuste an seinen Kopf und sagte nach einer Weile zu Franzl: »Erzähle weiter! Wann hast du die Hütte bezogen?«

»Am 10. April, Herr Graf! Und da hab ich mir gleich denkt, daß die Adler horsten müssen. 's Weiberl is verschwunden gwesen, und die ganze Zeit her hab ich nur allweil 's kleinere Manndl streichen sehen. Seit fürgestern sind s' wieder alle zwei am Flug. Es müssen die Jungen schon ausgfallen sein.«

Diese Meldung schien Graf Egges Erregung zu beschwichtigen. »Wo liegt der Horst?«

»Den hab ich net gfunden, Herr Graf!« gab Franzl kleinlaut zur Antwort.

»Was? Den Horst nicht gefunden?« Es gewitterte auf Graf Egges Stirn.

»Ich hab mir kein Weg verdrießen lassen. Aber ich kann den Horst net finden.«

»Schipper findet ihn schon. Willst du wetten?«

Franzl gab keine Antwort. Und Graf Egge sprach nicht weiter, weil er auf einem der noch uneröffneten Briefe die Handschrift der Adresse erkannte. Hastig öffnete er und las:

 
Schloß Eggeberg, den 30. April

Verehrte Erlaucht!            

Seit acht Wochen hatten wir nicht mehr die Freude, über Erlaucht Aufenthalt und Befinden eine Nachricht zu erhalten. Da gegenwärtig die Auerhähne balzen, darf ich wohl vermuten, daß diese Zeilen Erlaucht in Hubertus finden werden. Leider muß ich Erlaucht in Ihrem Jagdvergnügen durch eine Familiensorge stören. Die Pflichten meiner Stellung zwingen mich, Erlaucht die Mitteilung zu machen, daß Komtesse Kittys schwermütiger Seelenzustand sich während der letzten beiden Monate in besorgniserregender Weise verschlimmerte. Da wir dem hiesigen Dorfarzte nicht genügend Vertrauen schenken, sah Graf Bruno sich veranlaßt, eine medizinische Kapazität aus Würzburg zu berufen. Der Professor vermochte ein akutes Leiden nicht zu erkennen. Doch konstatierte er durch Gemütserschütterungen verursachte Depression, die zu ernstlichen Dingen führen könnte, wenn sie nicht bald durch mildes Klima und Aufheiterung behoben würde. In Eggeberg ist es zum Einschlafen langweilig, und immer friert man, auch wenn die Sonne scheint. Es wurde die Frage erörtert, ob nicht von einer Reise nach dem Süden eine heilsame Wirkung zu erhoffen wäre. Der Professor brachte Sorrent oder Capri in Vorschlag. Und nun bitte ich Erlaucht, eine möglichst rasche Entscheidung zu treffen. Hätten Erlaucht für den von Monat zu Monat verschobenen Besuch in Eggeberg endlich Zeit gefunden, so würde das blasse Gesichtchen des armen Kindes so eindringlich zum Herzen des Vaters gesprochen haben, daß Erlaucht selbst die Notwendigkeit eines energischen Eingreifens erkannt hätte. Indem ich hoffe, daß diese Zeilen Erlaucht bei wünschenswertem Wohlsein und in bester Jagdlaune finden möchten, grüße ich als

            Erlaucht ergebenste

Gundi Kleesberg.«
 

Graf Egge ließ den Brief sinken und sah zur Zimmerdecke hinauf, an der die ausgestopften Adler hingen. Sorge und Ärger sprach aus dem unruhigen Spiel seiner Züge. Die Stirn in wulstige Falten gelegt, erhob er sich und wanderte mit langen Schritten um den Tisch. Vor einem Fenster blieb er stehen und drückte die Hand an den Hinterkopf, als hätte er Schmerzen im Genick. »Die arme Geiß! Reise ich morgen früh, so kann ich übermorgen bei ihr sein!« Er zog die Finger durch den Bart und wandte sich dem Jäger zu. »Seit wann, sagst du, streichen die beiden Adler wieder?«

»Seit fürgestern, Herr Graf!«

»Dann sind schon die Jungen im Horst! Die könnten flügg sein, bevor ich wiederkäme!« Überlegend sah Graf Egge durch das Fenster gegen die Berge und schüttelte den Kopf. »Es geht nicht. Mit dem besten Willen nicht!« Er ging zum Tisch, riß von Tante Gundis Brief ein unbeschriebenes Blatt ab und kritzelte mit Bleistift die Depesche: »Gundi Kleesberg, Schloß Eggeberg. Willige in alles, da sehr in Sorge um die arme Geiß. Reisen Sie sofort und senden Sie wöchentlich ausführliche Nachricht. Gruß und Kuß für Kitty. Wäre selbst gekommen, doch leider dringend abgehalten. Reisegeld telegraphisch angewiesen – Egge.« Bedächtig überlas er das Geschriebene, strich die überflüssigen Worte und schrieb die telegraphische Anweisung an das Bankhaus. »Hornegger! Trag die beiden Depeschen auf die Post! Eil' dich! Bis du zurückkommst, bin ich fertig für den Berg. Und bin ich einmal droben, so wird der Horst bald gefunden sein. Also weiter!«

Franzl machte lange Füße. Als er durch die Ulmenallee rannte, erschien im Parktor ein Leiterwagen, beladen mit sieben riesigen Elchgeweihen und vier großen Kisten, in denen sich die von Graf Egge auf der Winterreise erbeuteten Bärenfelle und Vogelbälge befanden. Neben dem Kutscher, auf einem über die Leitern gelegten Brett, saß Schipper in der durch die lange Reise übel mitgenommenen Büchsenspanner-Livre, das Lederfutteral mit Graf Egges Lieblingsbüchse über den Knien. Als er den Jäger gewahrte, machte er die grauen Augen klein und verzog den Mund.

Wie eine Flamme schlug es über Franzls Gesicht, dann erblaßte er wieder. Zögernd griff er an den Hut und ging vorüber.

Während er im Postbureau vor dem Schalter stand, hinter dem der junge Beamte die Worte der beiden Depeschen zählte, kam der Pointner-Andres mit einem dich gesiegelten Geldbrief in der klobigen Hand, die Kleider bedeckt vom Staub des Steinbruchs.

»Grüß Gott, Andres!« sagte Franzl zerstreut. »Hast auch was zum Fortschicken?«

»Ja! Wieder an Schüppel voll Avakatengelder! Noch allweil Hochzeitskösten!« Die Augen des ungeschlachten Menschen funkelten zornig in den Postschalter hinein. »Der Spaß, Brüderl, is teuer gwesen! Und ich mein' schier, er kostet mich noch mehr als Geld!«

»Drei Mark vierzig!« sagte der Beamte verdrießlich.

Franzl bezahlte und sah den jungen Bauer an. »Was is denn, Andres? Hast an Verdruß?«

»Ich? Gott bewahr!« Der Pointner-Andres lachte. »Ich sitz drin im Glück wie der Kuchelschwab in der Zuckerbüx! Hab Haus und Hof und die allerschönste Bäuerin. Ja, die allerschönste! Hab ich net recht, Herr Praktikant?«

Der Beamte hinter dem Schalter zuckte die Achseln und brummte ein paar unverständliche Worte.

»So reden S' doch, Herr Praktikant, schenieren S' Ihnen net!« Die Stimme des Pointner-Andres wurde heiser. »Sie müssen doch wissen, wie schön mein Lieserl is! Wie d' Leut sagen, kommen S' oft auf Bsuch zu mir. Schad, daß ich nie daheim bin. Es tät mich freuen, wenn wir zwei amal zammtreffen möchten!«

Der Praktikant fuhr auf: »Ich verbitte mir diese Redereien! Hier ist Amtsstunde. Geben Sie Ihren Brief her!«

Der Pointner-Andres warf den Brief auf das Zahlbrett und lachte.

»Bhüt dich Gott, Andres!« wollte Franzl sagen, aber es verschlug ihm die Rede. Den Kopf schüttelnd ging er davon.

In Schloß Hubertus fand er den ganzen Flur mit ausgepackten Kisten verstellt. Moser sortierte die Vogelbälge, deren bunte Federn den Boden des Flurs mit leuchtenden Farben bedeckten. Graf Egge, schon für die Bergfahrt gerüstet und mit der Büchse auf dem Rücken, diktierte dem Diener die Adressen der Präparatoren, an die man die Bälge zum Ausstopfen schicken sollte. Dann sagte er zu Franzl: »Komm! Mir brennt die Ungeduld in allen Knochen. Ich will die Adler heute noch streichen sehen.«

Einige Minuten später wanderten sie durch die Ulmenallee. Graf Egge legte die Hand auf Franzls Schulter. »Du bleibst bei mir! Der andere soll wieder seinen Bezirk übernehmen. Der Kerl hat mich während der Reise grün und blau geärgert und hat mir das Geld aus der Tasche geholt wie mit dem Stopselzieher.«

Eine Weile folgten sie der Straße, dann lenkte Graf Egge in die Wiesen ein und suchte auf einem Umweg die Kirche. Fast eine Viertelstunde blieb er im Friedhof, während Franzl vor dem Gitter warten mußte.

Als die beiden ihren Weg wieder aufnahmen, rannte ein derbknochiges Weibsbild an ihnen vorüber.

Es war die Magd des Bruckner. Sie lief, daß ihre Röcke flatterten; und als sie die Wohnung des Doktors erreichte, riß sie an der Glücke, daß der Hall das ganze Haus durchschrillte.

Der alte Herr öffnete selbst die Tür.

»Ich bitt, zum Bruckner, aber gleich! Unser Büberl hat's im Hals und kriegt kei Luft nimmer.«

Der Doktor sprang in die Stube, kam mit Hut und Ledertasche und folgte der Magd. Ohne Frage wußte er, zu welcher Krankheit er gerufen wurde. Seit Wochen ging im Dorf ein böses Gespenst von Haus zu Haus, der grausame Würgeengel der Kinder. Seit dem Fasching war der Friedhof schon um sieben kleine Gräber reicher geworden.

Als der Doktor eine Stunde später das Haus des Bruckner verließ, begleitete ihn der Bauer bis zur Straße. Lenzi ging gebeugt wie ein Greis, sein Gesicht war nur noch Haut und Knochen; die Sorgen des Winters hatten ihm die Haare grau bestäubt, und seine Augen blickten unstet und kummervoll.

»Ich komme nach Tisch und am Abend wieder,« sagte der Arzt, »befolgen Sie nur genau, was ich verordnet habe. Und vor allem: die Magd mit den beiden anderen Kindern muß hinauf ins Giebelzimmer, sie dürfen mit dem kranken Kind in keine Berührung kommen.«

»Um Gotts willen!« Nur mühsam brachte der Bauer Wort um Wort heraus. »Steht's denn schon so schlecht, Herr Doktor? Is am End kei Hoffnung nimmer?«

»Solange man lebt, ist immer Hoffnung. Beruhigen Sie sich, Bruckner! Aber ein bißchen spät haben Sie nach mir geschickt.«

Dem Bauer zog es den Kopf zwischen die Schultern. »Wie der Mensch halt is! Ich hab mir denkt, der Hascher wird sich a bißl verkühlt haben, und drum kachezt er halt!«

»Vor allem brauchen Sie jetzt für das Kind eine verläßliche Pflegerin. Die Magd hat für die zwei anderen Kinder zu sorgen und darf die Krankenstube nicht betreten. Wie wär's mit Ihrer Schwester? Das Mädel ist verläßlich und hat zur Kinderpflege eine glückliche Hand. Das haben Sie am Netterl gesehen! Wenn die Mali wiederkäme, das wär' der beste Ausweg.«

Heftig schüttelte Bruckner den Kopf. »D' Mali is in Horgau beim Schwager. Der kann d' Schwester net graten.«

»So? Na, vielleicht läßt sich drüber noch reden. Nach Tisch komme ich wieder.«

Der Doktor ging vom Bruckner weg zur Post und schickte ein Telegramm ab: »Amalie Bruckner, Horgau. Ein Kind Ihres Bruders schwer erkrankt. Brauche Sie zur Pflege. Doktor Eisler.«

Am Abend des folgenden Tages kam Mali mit dem Botenwagen vor das Brucknerhaus gefahren. Auch ihr war es anzusehen, daß sie einen harten Winter hinter sich hatte. Mit einem Sorgenblick überflog sie das Haus des Bruders, und es beängstigte sie, daß niemand kam, als der Wagen hielt und ihr Koffer abgeladen wurde. Nun war sie im Hof, und da trat ein Mann in Hemdärmeln und mit blauer Leinenschürze aus dem Haus, in den Händen einen Zollstab, den er zusammenklappte – der Meister Schreiner. »So?« sagte er. »Kommst dein Bruder trösten? Grad hab ich Maß gnommen. Dös kleine Schluckerl braucht keine langen Bretter.«

»Jesus!« stammelte Mali erblassend. Sie ließ ihr Bündel fallen und rannte ins Haus.

Graues Zwielicht lag in der Stube. Die anstoßende Kammer stand offen, und der Kerzenschein, der aus der Tür fiel, beleuchtete den Bauer; er saß neben dem Tisch auf der Holzbank, die Fäuste über den Knien. Langsam hob er das entstellte Gesicht. »Du? So? Bist da?« Der unerwartete Anblick der Schwester rüttelte ihn nicht auf aus seinem dumpfen Schmerz. Er deutete mit dem Arm gegen die Kammer. »Schau, was da drinliegt! Wo mein Fuß hintritt, wachst kein Halmerl nimmer. Da geht alles z' Grund!«

Es wurde immer dunkler in der Stube, und immer heller strahlten in der Kammer die kleinen tanzenden Kerzenflammen.

Die ganze Nacht hindurch, bis zum Morgen, wachten die Geschwister miteinander.

Am zweiten Nachmittage kam der Geistliche mit dem Mesner. Eine Viertelstunde später war alles erledigt. Die paar Nachbarsleute, die dem kleinen Sarg das Geleit gegeben hatten, wurden von Mali zum »Gsturitrunk« geladen; er wurde beim Seewirt in der Schifferschwemme abgehalten; es gab Bier und Branntwein, Brot und Käse. Die »Schmausleut« nahmen nur einen der Tische ein; an den anderen Tischen saßen die zechenden Schiffer und Holzknechte, die bei Zitherklang und vollen Krügen sich wenig um den Tod bekümmerten, der in der stillen Ecke nach alter Sitte begossen wurde. Aber je tiefer der Abend sank, je mehr der Pfeifenqualm die trübe Hängelampe verschleierte, desto lebendiger wurde es auch am »Gsturitisch«: die Männer sprachen vom Viehhandel, die Weiber erinnerten sich der schönen »Grafenleich« vom vergangenen Herbst. »Ja, wann so a Graf stirbt, der hat's gut!«

Wortlos saß der Bruckner in diesem heiter werdenden Lärm und leerte ein Glas ums andere. Immer sorgenvoller betrachtete ihn die Schwester. Als die paar Stunden, die man schicklicherweise am »Gsturitisch« verbringen mußte, endlich vorüber waren, flüsterte sie ihm zu: »Komm, Lenzi, geh mit heim!«

Er schob sie mit dem Ellbogen von sich. »Ich muß aufgießen, oder es bringt mich um.«

»Lenzi! Sei gscheit! Komm mit heim zu deine Kinder!«

»Laß mich sitzen! Ich muß was haben, was mir 's Blut in Ruh bringt. Saufen oder wildern! Büchs rühr ich keine mehr an. Muß halt der Schnaps helfen.«

Mali, mit kalkweißem Gesicht, reichte jedem Gast zum Abschied die Hand und sagte mit erloschener Stimme zum Bruder: »Kommst bald nach, Lenzi, gelt?«

Als sie ins Freie trat, schlug ihr ein schwüler Windstoß ins Gesicht und faßte die Röcke. Aus dem nachtschwarzen Seekessel quoll dumpfes Sausen und Gebrumm heraus. Ein Föhnsturm!

Schon wollte Mali die Lände überschreiten, als sie das Gepolter eines ans Ufer stoßenden Nachens hörte und im Dunkel eine Mannsgestalt mit Büchse und Bergstock aus dem Boot steigen sah. Erschrocken drückte sie sich in die Finsternis der nächsten Schiffshütte. Nun vernahm sie die Stimme des Jägers, der mit dem Schiffer sprach. Sie hatte sich umsonst geängstigt. Es war Graf Egge, der allein von der Jagdhütte nach Hubertus zurückkehrte.

Mali rannte über die Lände. Noch ehe sie das Haus des Bruders erreichte, fiel der Sturm mit voller Gewalt über das Tal. Die Schindeln flogen von den Dächern, in den Kronen der knospenden Bäume brachen die morschen Äste, und in das Heulen des Windes mischte sich das Gepolter fallender Bretter und das Gerassel der losen Fensterläden.

Am Brucknerhaus waren alle Scheiben dunkel. Mali trat in den Flur und konnte, gegen einen Windstoß ankämpfend, nur mühsam die Haustür wieder schließen. Unter dem tobenden Lärm, der um die Wände sauste, klang aus der Giebelstube herunter das Weinen eines Kindes und eine scheltende Stimme. Mali sprang über die Treppe hinauf und trat in die dunkle Stube. »Aber Madl! Was bleibst denn mit die Kinder in der Finsternis? Warum machst denn kein Licht net?«

»Wenn mich die Kinder net dazu kommen lassen!« brummte die Magd. »'s Netterl geht mir net vom Arm, und d' Hanni macht so Gschichten mit der Wehleidigkeit.«

Weinend war Hannerl auf Mali zugegangen und hängte sich an ihren Rock. »Mir tut's so weh, Malimahm, mir tut's so weh da drin!«

»Wo denn, Schatzerl, wo tut's dir denn weg?«

»Da drin!«

Mali, die im Dunkel der Stube nicht zu sehen vermochte, griff erschrocken mit den Händen zu und fühlte, daß das Kind die Fingerchen am Hals hatte. »Mar' und Joseph!« Ein paar Augenblicke stand sie wie gelähmt. Dann kreischte sie: »Schaff das Kind ins Bett! Und gib mir 's Netterl her!« In verzweifelter Angst riß sie das Jüngste vom Arm der Magd und stürzte zur Stube hinaus, über die Treppe hinunter und ins Freie. Das Köpfchen des Kindes mit der Schürze verhüllend, rannte sie durch den tobenden Sturm zum Nachbarhaus. Mit der Faust schlug sie an die Tür und schrie: »Nachberin!«

Eine alte Bäuerin öffnete.

»Um tausend Gotts willen, Nachberin, nimm mein Netterl ins Haus! Bei uns daheim is kein Bleiben nimmer. Jetzt fangt's beim Hannerl an!« Ohne die Antwort abzuwarten, drückte Mali der Nachbarin das Kind in die Arme und rannte wieder zum Haus des Bruders.

Immer tosender wuchs der Sturm, und krachend stürzte im Garten des Bruckner ein Apfelbaum, dessen Stamm seit Jahren im Kern faul gewesen.


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