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Über der langen Kette der Berge hingen die Regenwolken, grau in blau getönt. Doch je weiter es hinausging gegen das Vorland und die Ebene, desto freundlicher wurde der Himmel. Mit sommerlichem Stillvergnügen lächelte die Morgensonne über den Lauf der Isar und über die gute Stadt München herab, machte die Knäufe der Frauentürme funkeln und vergoldete die Dächer.
Unter den wenigen Passanten, die an diesem Morgen der letzten Augustwoche die breite Ludwigstraße spärlich bedeckten, fiel die hohe Gestalt eines fünfzigjährigen Mannes auf, in grauem Sommerpaletot, mit schwarzem Filzhut. Das Haar, das unter dem Hutrand hervorquoll, hatte noch tiefes Braun, während der schmale Vollbart schon eine graue Melierung zeigte. Ein gedankenvolles Lächeln, wie es starken, im Kampf mit dem Leben gefesteten Naturen eigen ist, milderte den Ernst der durchgeistigten Züge. Man würden den Künstler in ihm erraten haben, auch wenn er nicht den Weg zur Akademie genommen hätte.
Weder in den jungen Parkanlagen der Akademie noch in dem prunkvollen Treppenhaus begegnete ihm eine Seele. Im obersten Stockwerk hielt er vor einer Tür, die ein kleines Porzellanschild trug – »Professor Georg Werner« – und darunter eine mit Reißnägeln befestigte Visitenkarte: »Hans Forbeck«. In dem großen Atelier, dessen Nordwand ein einziges Riesenfenster bildete, standen viere Staffeleien. Eine von ihnen trug Professor Werners jüngste Arbeit, die der Vollendung nahe war und bereits ihren Goldrahmen hatte; ein blankes Täfelchen nannte den Namen des Künstlers und den Titel des Bildes: »Die lange Straße«. Zwischen herbstlich belaubten Feldhecken und kahlen Wiesen, hinter denen der geschlängelte Lauf eines Baches aufleuchtet, zieht eine gerade, staubige Pappelallee in endlos scheinende Ferne. Das Zwielicht eines nebligen Herbstabends liegt wie ein Schleier über der Landschaft. Nur am Horizonte glänzt ein helles Licht, als wäre in jener Ferne reiner Himmel und letzte Sonne. Auf der Straße steht ein bejahrter Mann; er hat ein schweres Bündel zu Boden gestellt, die Last der weiten Wanderung hat ihn müde gemacht, und nun deckt er die magere Hand über die Augen und späht sehnsüchtig in jene lichte Ferne, in der ihm das Ziel und die Ruhe winkt.
Werner trat vor die Staffelei. Als er nach der Palette greifen wollte, sah er auf dem Maltisch eine Depesche liegen. Er öffnete und las: »Ich bitte Dich, Werner, komm – Dein Hans!«
Betroffen sah er auf das Blatt und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Wie konnte der Junge bei gesunder Vernunft eine solche Depesche schicken, solch ein halbes Wort, das unruhig machen muß? Ob er krank ist? Und nun da draußen liegt, ohne Hilfe, ohne einen Menschen, der ihn kennt?
Im Sturmschritt zum Tor hinaus, in die nahe Wohnung, mit einer hetzenden Droschke zum Bahnhof!
Nach zweistündiger Bahnfahrt erreichte Werner die Station, von der die Sekundärbahn in die Berge abzweigte. Hier hatte er fünfzehn Minuten Aufenthalt, und das war für ihn eine schwere Geduldprobe. Zwei Züge kamen. Ein Schwarm von Reisenden, Gebirgstouristen und Landleuten suchte in dem nach München gehenden Zuge unterzukommen. Zerstreut sah Werner über das lärmende Getriebe hin, wurde aufmerksam auf einen Herrn und drängte sich durch das Leutegewühl: »Doktor Egge! Doktor Egge!«
Tassilo streckte dem Professor die Hand entgegen.
»Doktor! Kommen Sie von Hubertus? Sind Sie da draußen nicht mit Forbeck zusammengetroffen?«
»Gewiß! Und ich habe –«
Werner ließ ihn nicht aussprechen. »Was ist denn mit dem Jungen? Was fehlt ihm? Sehen Sie nur die Depesche, die er mir geschickt hat!« Werner zerrte das Blatt heraus.
Tassilo las.
Eine Glocke läutete, und die Kondukteure schrien: »München! Höchste Zeit!«
Lächelnd gab Tassilo dem Professor die Depesche zurück. »Ich glaube zu wissen, was hinter der Sache steckt. Allerdings sollte ich Ihnen die Überraschung nicht verderben. Aber ich sehe, Sie sind in Sorge. Forbeck hat ein Bild begonnen, das Aufsehen machen wird; ich merke mich bei Ihnen gleich als Käufer vor. Es ist Feuer und Flamme für die Arbeit, und da vermute ich, daß er ungeduldig wurde und Ihr Urteil nicht mehr erwarten kann. Aber verzeihen Sie, mein Zug! Grüßen Sie Forbeck! Auf Wiedersehen!«
Der Zug dampfte zur Halle hinaus. Werner, von seiner Sorge erlöst, rückte den Hut und atmete auf. »Gott sei Dank!«
Gegen fünf Uhr abends erreichte er das von Wolken überlagerte Dorf, stieg beim Seewirt ab und ließ sich hinüberführen zum Brucknerhof. Der Bauer kam aus der Tür; mit Interesse betrachtete Werner die zähe Gestalt und das bleiche, vom schwarzen Bart wie von einem Schatten umrahmte Gesicht; Bruckner schien den prüfenden Blick mit Unbehagen zu empfinden und fragte wenig freundlich: »Was schafft der Herr?«
»Wohnt bei Ihnen Herr Forbeck aus München?«
Der Bauer nickte und schlug einen anderen Ton an. »Er is net daheim. A halbs Stündl kann's her sein, da is er gegen 's Schloß aussi marschiert. Bitt, Herr, kommen S' eini ins Haus. Ich führ Ihnen nauf in sein Stüberl. Da können S' warten.«
Bruckner gab die Tür frei, und Werner trat in den Flur. –
Wenige Minuten früher, ehe Werners Einspänner an Schloß Hubertus vorübergefahren war, hatte Forbeck den Park betreten, um sich nach Fräulein von Kleesbergs Befinden zu erkundigen. Er hörte von Fritz, daß »die Sache den günstigsten Verlauf nähme«, und daß die Patientin bereits einen Teil des Nachmittags außer Bett zugebracht hätte.
Wortlos gab Forbeck zwei Karten ab und trat den Rückweg an. Müden Schrittes folgte er der Ulmenallee. Ein gellender Vogelschrei weckte ihn aus seinem Brüten. Er stand vor dem Käfig, in dem die Adler mit Gier die blutige Leber des Sechzehnenders verschlangen. Jeder von ihnen hatte seinen Anteil erhascht und hielt ihn unter den gespreizten Fängen; ein Riß mit dem Schnabel, und ein dicker Knollen bewegte sich unter Würgen langsam durch den Hals hinunter, an dem sich die Federn sträubten. Einer von den Adlern hielt in seiner Mahlzeit inne, duckte den Kopf zwischen die Flügel und spähte mit funkelndem Blick nach Forbecks Augen.
Eine Erinnerung befiel ihn – ihm war, als hätte er diesen gleichen Blick vor nicht langer Zeit im Gesicht eines Menschen gesehen – diesen scharfen, mißtrauischen Falkenblick!
Er wandte sich ab. Raschen Ganges gewann er die Straße. Als er das Brucknerhaus erreichte, sah er Mali, mit dem Netterl auf den Armen, hastig gegen die Scheune gehen. Das hatte den Anschein, als wollte das Mädchen eine Begegnung mit ihm vermeiden. Dieser ihm unverständlichen Wahrnehmung nachsinnend, trat er ins Haus; auf der Treppe hielt er betroffen inne – es war ihm vorgekommen, als hätte er in seinem Zimmer Tritte gehört. Aber als er die Stube betrat, war sie leer. Doch fiel es ihm auf, daß sein Bild, das er vor einer Stunde mit dem Tuch bedeckt hatte, unverhüllt auf der Staffelei stand. Und am unteren Rand des Bildes war ein weißer Zettel befestigt. Befremdet ging Forbeck auf die Leinwand zu und sah auf dem Zettel in einer ihm wohlbekannten festen Schrift die beiden Worte: »Goldene Medaille!«
»Werner!« stammelte er. Da klang hinter ihm ein frohes Lachen, und als er sich umwandte, stand Werner auf der Schwelle der Schlafkammer.
»Hans! Junge! Du hast mir einen Willkomm bereitet, wie ich ihn mir bei allem Vertrauen zu deinem Talent nicht hätte träumen lassen!« Werner zog den Wortlosen an seine Brust und küßte ihn auf beide Wangen. Forbeck hatte den Blick eines Trunkenen. Er fühlte, daß diese Zärtlichkeit seines Lehrers für ihn ein Lob bedeutete, wie es kein Wort ihm hätte spenden können.
Draußen wollte schon der Abend sinken, und dennoch wurde es plötzlich heller in der Stube. Die Wolken hatten sich geklüftet, und eine leuchtende Flut von goldrotem Sonnenschein ergoß sich über das Tal und seine Häuser.
Werner war vor das Bild getreten. »Sag' mir, Hans, wie hast du das fertigbringen können in diesen lumpigen paar Tagen? Das muß aus dir herausgefahren sein wie ein Löwensprung! Und wie glücklich du das gefunden hast, diesen Überschlag vom letzten Augenblick der Ruhe in den tobenden Sturm! Wie das kämpft miteinander: das weichende Licht in seiner letzten, gesteigerten Schönheit und die anstürmenden Schatten in ihrer Wucht und Tiefe! Und diese Landschaft! Wo hast du nur diesen gesegneten Fleck Erde entdeckt? Und diese Menschen! Das Pärchen da! Junge! Das ist mehr als ein gelungener Diebstahl an der Natur, das ist eine künstlerische Offenbarung. Was du da gibst, das hast du in dir aus einer Tiefe herausgeholt, in die ich noch keinen Blick getan. Du hast alle Schule von dir abgeschüttelt, hast dich auf eigene Füße gestellt. Hans! Jetzt bist du wer!« Werner schlug seine Hand auf Forbecks Schulter und sah ihm mit glücklichem Stolz in die Augen. »Um mir das zu sagen, hättest du in deinem Telegramm etwas weniger sparsam mit den Worten sein dürfen! Ich, in der ersten Verblüffung, glaubte, daß du krank wärest. Und jetzt!« Er lachte.
Forbeck, in dessen Augen die Freude sich umschleierte, wollte sprechen. Werner ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Aber jetzt diesen Zettel weg!« Er zerknüllte das Blatt, das er an die Leinwand geheftet hatte. »Weißt du, Junge, das war nur der erste Jubelschuß. Jetzt kommt der Ernst. Bis das Bild in den Rahmen taugt, wird es noch ein tüchtiges Stück Arbeit brauchen. Da sollst du keine Zeit verlieren. Unsere italienische Reise schieben wir auf, Italien läuft dir nicht davon. Aber die Stimmung, in der du das begonnen hast, die mußt du festhalten wie mit Eisen. So was verträgt keinen Riß, das will sich ausströmen in einem Zug. Morgen kutschieren wir heim nach München.« Werner lachte wieder. »Ohne ein paar Hahnenkämpfe wird es da zwischen uns nicht abgehen, denn hier, und hier,« er deutete auf verschiedene Stellen des Bildes, »da hab' ich meine Bedenken. Aber diese Mittelgruppe! Das bleibt. Da sollst du mir keinen Strich mehr ändern. Dieser Jäger! Wie er dasteht in gesunder Kraft, in seiner Glückseligkeit! Und das Mädel erst! Wie bist du denn zu diesem Modell gekommen? Du Sonntagskind! Und wie du das gestellt hast! So mitten hinein ins höchste Licht! Dieser letzte Sonnenstrahl, der sie umschmeichelt wie ein Verliebter, scheint zu ihr sagen zu wollen: ›Dich hab' ich, und dich laß ich nimmer!‹ Hast du für das Bild schon einen Titel gefunden?«
»Ja, Werner! Jetzt!«
»Wie soll es heißen?«
»Der letzte Sonnenstrahl.«
»Richtig, Junge! Damit ist alles gesagt!« Werner verstummte und sah betroffen zu Forbeck auf, der die schwimmenden Augen auf die leuchtende Mädchengestalt gerichtet hielt. »Hans? Was ist dir?«
Forbeck hörte nicht.
Ein Lächeln. »Hans? Wer ist dieses Mädchen?«
Forbecks Stimme war rauh. »Eine Gräfin Egge.«
Werner erblaßte. »Hans? Auch du?« Dann faßte er Forbeck an den Schultern und rüttelte ihn. »Hans! Rede doch! Nimm diese Sorge von mir!«
»Ich mache dir Kummer, Werner? Vergib mir! Das ist über mich hergefallen wie ein Sturm, mit dem Schmerz schon in der ersten Freude.«
Eine Weile war Stille. »Komm, Hans! Wir müssen in frische Luft! Wir beide!«
Sie verließen das Haus. Es dämmerte schon im Tal. Über das zerfließende Gewölk her traf noch ein glühender Sonnengruß die Zinnen der Berge und die Almen; alle Höhen waren so scharf beleuchtet, daß man jede Sennhütte und jeden einzelnen Felsblock deutlich unterscheiden konnte; mit klaren Linien hob sich jeder Baum aus dem schimmernden Hintergrund, und die kahlen Felswände ragten gleich erstarrten Flammen in das tiefe Blau des sich klärenden Himmels.
»Sieh, Hans,« sagte Werner, »wie schön das ist!«
Forbeck nickte.
»Und siehst du über dem langgestreckten Lärchenwald den blitzenden Streif? Das muß ein Wasserfall sein. Sieht es nicht aus, als hätten die Felsen sich gespalten wie im Märchen, um für einen Augenblick die funkelnde Schatzkammer der Zwerge vor einem erstaunten Menschenkind zu öffnen? Und weiter oben jener seltsam geformte Felsklotz? Gleicht er nicht einem goldgekrönten Riesenhaupt, das sich aus den Tiefen der Erde hervorhebt? Ich sag's immer: Wer verstehen will, wie die Märchen wachsen, muß in die Berge gehen.«
So plauderte Werner mit seinem ruhigen Lächeln weiter, jeden Reiz erfassend, den der herrliche Abend zeigte. Nur manchmal verriet ein Blick, mit dem er Forbeck streifte, daß diese äußerliche Ruhe mit der Stimmung seines Innern nicht in Einklang stand.
Als sie bei Einbruch der Dunkelheit in die Nähe des Seehofes kamen, dessen Terrasse mit vergnügten Menschen besetzt war, sagte Werner: »Komm, suchen wir uns ein Plätzchen! In mir beginnt sich das Tier zu rühren. Ich habe heut in der Eile vergessen, Mittag zu machen.«
Sie fanden einen freien Tisch, und mit dem Anschein ernster Wichtigkeit studierte Werner die Speisekarte. Ringsumher die heiteren Stimmen der Gäste. Aus der Schifferschwemme hörte man die Töne einer Ziehharmonika und den stampfenden Taktschritt tanzender Paare.
»Was willst du nehmen, Hans?«
»Ich kann nicht essen.«
»Doch, Hans! Das muß man!« Wieder vertiefte Werner sich in die Speisekarte. »Aaaah! Renken am Rost und Rebhuhn mit Rotkraut. Was sagst du zu dieser kulinarischen Alliteration? Das sind zwei Stabreime, die es verdient hätten, von Wagner in Musik gesetzt zu werden.« Er haschte die am Tisch vorüberschießende Kellnerin. »Holde Jungfrau!«
»Nur net beleidigen!« lachte das Mädel. »Was schaffen S' denn?«
Werner bestellte. Während der Mahlzeit trug er die Kosten der Unterhaltung. Die Mühe, die er sich gab, um eine ruhige Stimmung zu erzwingen, war von geringem Erfolg. Schließlich schwiegen sie alle beide. Dann erhob sich Werner. »Du hast recht, Hans! Dieser vergnügte Spektakel muß dir wie Schmerz in die Ohren gehen. Komm!«
Sie folgten der spärlich erleuchteten Promenade, die an den Ufervillen vorüberführte. Hinter den letzten Häusern endete der Weg auf einem Hügel, vor einer halbkreisförmigen Bank. Hier ließen sie sich nieder.
Es war Nacht geworden. In tiefer Schwärze lag der See und spiegelte die Fensterhelle der gegenüberliegenden Häuser.
»Hans? Glaubst du, daß sie dich liebhat?«
Forbeck vermochte nicht gleich zu antworten. »Kann man lieben, ohne zu hoffen?«
»So habt ihr euch noch nicht ausgesprochen?« klang es in rascher Folge.
»Nein!«
Werner atmete tief, als wäre ihm die schwerste Sorge von der Seele gefallen.
»Liebe begehrt. Sie kann nicht anders. Vielleicht darf ich auch glauben, daß ich ihr nicht gleichgültig bin, daß es mir gelingen könnte, ihre Liebe zu verdienen. Aber was dann? Ihr Vater hat dafür gesorgt, daß sie gerade jetzt die Schranke, die zwischen uns beiden liegt, in rauher Wirklichkeit vor Augen sieht.«
»Was meinst du damit?« fragte Werner und hörte schweigend zu, als ihm Forbeck von Tassilos Verlobung mit Anna Herwegh erzählte, von dem Bruch zwischen Vater und Sohn.
»Dieses Zerwürfnis wird ihm den Weg zu seinem Glück erschweren, doch nicht verlegen. Der Mann, wenn ihm eine Vergangenheit zerstört wurde, kann sich eine Zukunft bauen. Aber ein Mädchen! Das mit hundert Banden an die Familie gekettet ist, an alle Erinnerungen der Kindheit, an jeden Grundsatz, in dem es erzogen wurde! Ich liebe sie mit jeder Fiber meines Herzens, ich vergehe in meiner Sehnsucht, aber was liegt an mir! Wenn nur ihr erspart bleibt, was auf mich gefallen ist. Ich muß fort, Werner! Haben diese Tage in ihr ein wärmeres Gefühl für mich erweckt, so kann es nur erst der Keim einer Empfindung sein, den die Zeit wieder ersticken wird, ohne tieferen Schmerz. Was mit mir geschieht, ist gleichgültig. Aber ich will nicht die Ursache sein, daß auf ihren Lebensweg nur ein einziger Schatten fällt. Sie ist geschaffen für die Sonne.«
»Hans! Das war ein braves Wort! Ein anderer in deiner Lage hätte wohl anders gehandelt. Es ist schwer, die schreiende Stimme seiner Sehnsucht stumm zu machen. Da rennt man vor seiner treibenden Leidenschaft einher, taumelt blind hinein in den Rausch des Augenblicks und will im Erwachen nicht begreifen, daß man für immer verlor, was man zu gewinnen meinte!« Werner legte den Arm um Forbecks Schultern. »Die Redlichkeit deines Herzens hat böse Dinge verhütet.«
»Wie bettelarm wäre meine Liebe, wenn sie nicht die Kraft besäße, mehr an den Frieden des geliebten Wesens zu denken als an den eigenen Hunger. Du würdest mich begreifen, Werner, wenn du sie gesehen hättest. Sie ist wie eine Blüte, die ein Frühlingsmorgen eben erst aus der Knospe weckt. Als ich sie zum ersten Male sah, was ich da empfand! Ich meinte, es wäre die Himmelsfreude des Künstlers, der plötzlich fühlt, daß vor seinem gefesselten Können ein Riegel sprang! Wenn du wüßtest, wie es gekommen ist –«
»Das sollst du nicht erzählen! Nicht jetzt! Es würde dich nur erregen. Und wie soll es gekommen sein? Wie es immer kommt! Das Spiel, das die brave Mutter Natur mit ihren sogenannten Mustergeschöpfen treibt, ist immer das gleiche. Zur Abwechselung ändert sie nur den Stil. Wie ihr die Laune steht, läßt sie den alten Einfall bald als Posse mimen, bald als Trauerspiel. Ich kenne das, Hans! Mehr als mir lieb ist!«
»Werner!« stammelte Forbeck. »Das hättest du erfahren? An dir selbst?«
Ein kurzes Schweigen. »Ich? Nein! Aber mit fünfzig Jahren hat man sich umgesehen in der Welt.« Werner blickte über den finsteren See hinaus. »Ich habe meine Mutter geliebt, meine Kunst und dich!«
»Was ich dir schulde, hab' ich nie so drückend empfunden wie jetzt. Du hast mir die Hälfte deines Lebens geschenkt, hast dir das Anrecht auf mein ungeteiltes Herz erworben. Und wie komm ich zu dir zurück?«
»Rede keinen Unsinn, lieber Junge! Was solltet du mir schulden? Du weißt, wie ich über gewisse Dinge denke. Es liegt als unerschütterliche Überzeugung in mir, daß es mit uns Menschen für immer ein Ende hat in dem Augenblick, in dem wir die Lider schließen. Wozu noch eine Ewigkeit? Das Leben vergönnt uns Zeit genug, um das zu erfüllen, was der Zweck eines Menschen sein kann. Aber man ist eitel. Es ist unbehaglich zu denken, daß wir mit unserer fliegenden Phantasie und unserem bohrenden Intellekt nicht viel höher stehen sollen als der Hund, den wir füttern, als der Ochse, der den Weg alles Fleisches über unseren Teller nimmt. Man möchte ›dauern‹! Das lehrt den einen glauben und beten, den anderen schaffen. Dieser Trieb ist auch in mir. Ich will nicht vergehen ohne Spur. Hinter mir soll etwas bleiben, nicht nur ein totes Werk meiner Hände, auch ein Pulsschlag meines Lebens, ein Funke des Feuers, das in mir brannte. Ich habe gesucht. Und es war nur mein Glück, daß ich gerade dich gefunden habe. Ich erkannte dein Talent und sagte mir: Hier ist gute Erde, hier kannst du säen; was du ihr anvertraust, wird Früchte tragen, wenn du nicht mehr bist.«
»Werner!«
»Was anderen ihre Seele ist, das bist mir du! Ich gebe dir, was ich habe, weil du mir bist, was ich brauche. Aus keinem anderen Grund. Warum also Dank? Wir beide sind quitt. Fühlst du dich im übrigen noch ein bißchen verpflichtet durch die Erbschaft, die ich auf die gelegt, so richte dich auf, Hans, sei so stark, wie du redlich bist! Nütze dein Leben, laß Glück oder Schmerzen kommen, wie sie mögen! Und ehe dir die Hände sinken, lege den Kern deines Wesens wieder in das Herz eines anderen. Dann wirst du ›dauern‹!« Werner erhob sich. »Komm! Das alles reden wir heute nicht zu Ende. Wir brauchen Ruhe, um morgen mit klarem Kopf unseren Weg zu suchen. Und wenn du jetzt nach Hause kommst, dann brenn' dir die Lampe an und setze dich vor dein Bild. Dieser erste dicke Regenguß, der von recht in die Kronen der Bäume schlägt, scheint mir denn doch ein bißchen zu aschig in seinem schweren Grau. Da sollte mehr Durchsicht bleiben, sonst macht dir das ein böses Loch in die Farbe. Auch im tiefsten Schatten steckt noch immer ein Licht. Nur herausholen muß man's. Komm!«
Forbeck schwieg, und langsam wanderten sie über den finsteren Weg zurück.
In tiefer Stille lag der Seehof mit der verödeten Terrasse. Ein großes Boot war halb an die Lände gezogen, und glucksend schlug das Wasser gegen die Bretter.