Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17

Graf Egge war in schlechter Laune. Zwei Triebe seit dem Morgen. Und er hatte noch keinen Schuß getan. Er schalt über den »hundsmiserablen« Wind, ließ seinen Ärger an den Treibern und Jägern aus und schien doch einen gelinden Trost in der Tatsache zu finden, daß auch seine Söhne leer ausgegangen waren. Willy hatte zwar fünf Patronen »verpulvert«; aber die Gemsgeiß und die beiden Kitz, die sich in seinem sprudelnden Bericht zu »kapitalen Böcken« auswuchsen, waren von seiner feuerflinken Büchse gesund an Leib und Gliedern entlassen worden.

Nun ging es auf Mittag, und es sollte der dritte Bogen beginnen. Die Treiber waren schon abmarschiert und mit ihnen Tassilo und Franzl, die den Rückwechsel zu besetzen hatten. Robert und wieder warteten auf Schipper, der mit seinem Herrn in flüsterndem Gespräche abseits stand.

»Sieh nur, wie die beiden die Köpfe zusammenstecken,« sagte Robert zu seinem Bruder, »Papa scheint seinem Hof- und Staatsrat geheime Order zu geben.«

Das war nicht weit vom Ziel geschossen. »Den Bertl stell' auf den nächsten Stand!« befahl Graf Egge seinem Büchsenspanner. »Der kann allein bleiben. Bei dem bin ich sicher, daß er mir den Anlauf nicht verdirbt. Und du geh mit dem anderen! Sonst brennt er mir am End' wirklich noch eine Geiß nieder. Wenn er auf einen Bock zu Schuß kommt, in Gottes Namen!« Dieses Zugeständnis löste sich etwas zögernd von Graf Egges Lippen. »Aber nicht zu früh! Das bitt' ich mir aus!«

Schipper schien verstanden zu haben und nickte lächelnd.

Graf Egge trat zu seinem Stand, Robert und Willy wünschten ihm »Weidmanns Heil!« und begannen mit Schipper bergan zu steigen. Als Robert seinen Stand erreicht hatte, flüsterte Schipper ihm zu: »Sind S' g'scheit, Herr Graf! Sie wissen schon, was ich mein'!« Robert schien nicht in der Stimmung zu sein, um vertrauliche Ratschläge anzunehmen. Gelangweilt zog er die Brauen auf und maß den Jäger mit einem hoheitsvollen Blick.

Auch Willy machte ein verdrießliches Gesicht. Als er sich mit Schipper den kahlen Felsen näherte, brummte er: »Papa hat mir wohl den schlechtesten Stand gegeben? Ja?«

»Gott bewahre! Den besten im ganzen Trieb. Da schießen S' gwiß a paar gute Böck!«

Noch ehe der Stand erreicht war, krachte schon der Losschuß auf der Treiberlinie. Willy nahm auf einer Felsstufe Platz, und hinter ihm ließ Schipper sich nieder. Es währte nicht lange, da hörten sie in den Latschen das leise Kollern kleiner Steine. »Es kommt was!« zischelte Willy, von heißem Jagdfieber befallen.

»Ja, ja, halten S' Ihnen nur stad!« mahnte Schipper und streckte den Hals.

Auf zweihundert Schritt erschien ein Gemsbock zwischen den schütteren Büschen. Willy wollte mit der Büchse auffahren, doch Schipper hielt seinen Arm gefesselt. »Zeit lassen! Der Bock is ganz vertraut. Lassen S' ihn her auf hundert Schritt, sonst fehlen S' ihn, und der Herr Graf macht an Spitakel!«

Willy saß in zitternder Ungeduld und hing mit brennenden Augen an dem näher ziehenden Wilde. Schipper lächelte, griff in die Joppentasche, zog lautlos sein rotgesprenkeltes Schnupftuch hervor und hielt es wie ein Fähnlein über Willys Kopf. Flink eräugte der Gemsbock das grell leuchtende Warnungssignal und war im nächsten Augenblick mit jagender Flucht hinter die Büsche geprasselt.

»Natürlich, jetzt hab' ich das Nachsehen!« brummte Willy, während Schipper sich duckte und das rote Taschentuch verschwinden ließ.

»Aber junger Herr! Was haben S' denn gmacht! Warum haben S' denn net gschossen? So an Bock auslassen, Mar' und Josef!«

Zwischen den beiden entwickelte sich ein mit Flüsterstimme geführter Disput, den der Hall eines Schusses unterbrach.

Drunten auf dem Hauptstand wurde Graf Egge durch diesen Schuß aus seinem regungslosen Spähen und Lauschen geweckt; als er hastig das Gesicht gegen die Höhe wandte, auf welcher Robert seinen Stand hatte, sah er den Pulverdampf über die Latschen gleiten und einen verendeten Gemsbock mit schlagenden Läufen über den steilen Grashang herunterrollen. Wütend, mit übereinandergepreßten Zähnen, lachte Graf Egge vor sich hin. »Natürlich, jetzt hat er das Geld! Wenn es für ein Telegramm nicht schon zu spät wär', ich möcht' ihm einen Strich durch die Rechnung machen!«

Über das weite Latschenfeld herunter klang der Juchzer eines Treibers. Graf Egge schien die Bedeutung dieses Rufes zu verstehen; ein Ruck ging durch seine Gestalt, seine Hände schlossen sich fester um die Büchse, und die funkelnden Augen hefteten sich auf ein Gehäng, auf dem die Hauptwechsel des Triebes zusammenliefen. Zwischen dem fernen Grün sah er einen rötlichen Schimmer gleiten; mit vorsichtiger Bewegung hob er den Feldstecher, und der Blick, den er durch das Glas warf, steigerte seine leidenschaftliche Erregung. Über den Büschen sah er die Kronen eines mächtigen Hirschgeweihs erscheinen und wieder verschwinden. Schon hörte er, näher und immer näher, das leise Brechen der Äste. Er atmete tief und legte die Büchse an die Wange, um schußfertig zu sein, wenn der Hirsch aus der Dickung träte.

Da krachte auf Roberts Stand der zweite Schuß, eine Gemse mit baumelndem Vorderlauf schleppte sich über den Grashang, und vor dem Hauptstand im Dickicht schwankten die Äste, während die Sprünge eines flüchtenden Wildes sich entfernten.

Zornröte goß sich über Graf Egges Gesicht, und mit einem Fluch setzte er die Büchse ab. In der Treiberkette erhob sich wirres Geschrei, aus dem eine einzelne Stimme herausschallte: »Obacht, ruckwärts! Ruckwärts!«

Franzl, der mit Tassilo am Saum eines steilen Lärchenwaldes saß, spitzte bei diesem Ruf die Ohren und flüsterte: »Passen S' auf, Herr Graf!« Im gleichen Augenblick sah er schon, noch außer Schußweite, den flüchtigen Hirsch zwischen den Latschen auftauchen und stammelte: »Heilige Dreifaltigkeit! Der Sechzehnender von gestern! Sie haben a Glück, so was gibt's nimmer!«

Auch Tassilo hatte den Hirsch schon gewahrt und hob die Waffe.

»Jetzt halten S' aber sauber hin! Wann wieder a Malör passiert, gibt's den ärgsten Verdruß mit Ihrem Herrn Vater.«

Das schien auch Tassilo zu befürchten, und dieser Gedanke machte ihn unruhig. »Nehmen Sie Ihre Büchse,« sagte er leis, »und wenn der Hirsch mit meiner Kugel weitergeht, so geben Sie einen Fangschuß ab!«

»Gut! Aber treffen müssen S' ihn! Sonst komm ich in die schönste Suppen eini, wenn ich schieß!« Dem Jäger zitterte vor Erregung die Hand, mit der er lautlos den Hahn seiner Büchse spannte.

Steine klapperten im Dickicht, laut krachten die brechenden Äste, eine stäubende Erdscholle wirbelte in die Luft, und mit zurückgelegtem Geweih, die Vorderläufe eingezogen, sauste der Hirsch aus den Latschen hervor, mit herrlichem Sprung eine tiefe Wasserrinne übersetzend.

Da krachte der Schuß. Tassilo ließ die rauchende Büchse sinken und sah den Hirsch mit jagenden Sprüngen den Saum des Waldes gewinnen. Wohl hatte Franzl seine Waffe an die Wange gerissen, doch es schien, als wollte er sie unschlüssig wieder sinken lassen.

»Aber so schießen Sie doch!« stammelte Tassilo.

Da reckte sich Franzl, und in seinem Gesicht, das er an den Kolben der Büchse drückte, spannte sich jeder Zug. Gleitend folgte der blinkende Gewehrlauf dem Weg des Wildes – hallend blitzte der Schuß – mit einer steilen Flucht quittierte der Hirsch den Empfang der tödlichen Kugel und verschwand in einer Senkung des Waldes. Lachend setzte Franzl die Büchse ab. »Der muß liegen, Herr Graf, der hat mein Schuß mitten auf'm Blatt. Aber wo meinen S' denn, daß der Ihrige stecken könnt?«

Tassilo zuckte die Achseln.

Der Jäger wurde unruhig. »Um aller Heiligen willen Sie werden ihn doch getroffen haben?«

»Ich glaube. Wenigstens hab' ich Rot gesehen, als mir der Schuß brach.«

»Gott sei Dank, da kann's ja so weit net fehlen! Aber setzen S' Ihnen nieder! Wir dürfen vom Stand net weg, eh 's Treiben net aus is.«

Sie nahmen ihre Plätze wieder ein, und immer weiter entfernten sich die Rufe der Treiber. Es fiel kein Schuß mehr.

Noch ehe die Treiberwehr sich aufzulösen begann, hatte Graf Egge schon die Büchse auf den Rücken genommen und stapfte ungeduldig vor seinem Stand umher, als wäre er lange Stunden in grimmiger Kälte gesessen und wollte sich nun die Glieder warm machen. Dabei brannte sein Gesicht in dunkler Röte, und immer wieder fuhr er mit zuckenden Fingern durch die Bartsträhne. Als er Robert über den Berghang herunterkommen sah, drehte er ihm den Rücken.

Robert lächelte und ging auf den Vater zu. »Ich habe zwei gute Böcke, Papa!«

Die Antwort ließ auf sich warten. »Natürlich! Hast sie mir ja vor der Nase weggeschossen.«

»Pardon, Papa! Ich war leider allein auf meinem Stand und mußte zweifeln, ob dir die Böcke noch kommen würden. Da trug ich Bedenken, sie unbeschossen durchzulassen. Die Szene, die Tassilo gestern zu genießen bekam, war mir eine Warnung.«

Langsam drehte Graf Egge das Gesicht und streifte Robert mit wütendem Blick.

»Was hast du, Papa? Ich würde es sehr beklagen, wenn du in meinem weidmännisch korrekten Verhalten Ursache zur Unzufriedenheit fändest.«

Ohne zu antworten, verließ Graf Egge den Stand, und als er einen Treiber aus den Latschen hervortreten sah, schrie er ihn mit heiserer Stimme an: »Heut habt ihr wieder einmal getrieben wie die Schweine!« Das war die Einleitung zu einem Ungewitter, das sich unter Blitz und Donner entlud. Von allen Seiten kamen die Treiber angerannt, drückten sich auf ein Häuflein zusammen wie geduldige Schafe und ließen schweigend die Köpfe hängen. Sie wußten aus Erfahrung, daß sie mit wortloser Zerknirschung dem Zorn ihres Jagdherrn flinker entrannen als mit dem Versuch einer Verteidigung. Schließlich unterbrach Graf Egge seinen mit Flüchen reich gespickten Erguß und fragte: »Was hat denn der Kerl da hinten geschossen?«

»Dem Grafen Tassilo muß an Endtrumm Hirsch kommen sein,« sagte einer der Treiber, »aber ich weiß net, ob er ihn hat.«

»Das wäre noch schöner!« Mit diesem mystischen Ausspruch, der nach Art der delphischen Orakel eine doppelte Auslegung zuließ, eilte Graf Egge langen Schrittes davon. Schweigend trotteten die Treiber hinter ihm her, Robert blieb zurück und steckte lachend eine Zigarette in Brand, und während Willy hoch im Geröll des Latschenfeldes auftauchte, kam Schipper, der für die Laune seines Herrn die richtige Witterung zu haben schien, mit langen Sätzen über den Berghang heruntergesprungen.

Inzwischen hatten Franzl und Tassilo auf dem Rückwechsel die Suche nach dem Hirsch begonnen. Sie brauchten nicht weit zu gehen. Mitten im Sprung war das Wild zusammengebrochen, mit der Kugel im Herzen. »Dort liegt er schon!« lachte Franzl und begann zu rennen. Als er den Hirsch erreichte, verging ihm das Lachen. Mit blassem Gesichte stand er, schob den Hut in die Stirn, kraute sich ratlos hinter den Ohren und stotterte: »Herr Graf, da wird's was Schöns absetzen! Da schauen S' her! Der Hirsch hat bloß mein Schuß. Der Ihrige is gfehlt gwesen.«

Auch Tassilo zeigte ein Gesicht, als wäre ihm diese Entdeckung nicht willkommen.

»'s Personal darf nix Guts net schießen, dös is der strengste Auftrag vom gnädigen Herrn!« sagte Franzl, dessen Erregung mit jeder Sekunde wuchs. »A Fangschuß is was anders. Aber der gnädig Herr is mißtrauisch. Nix für ungut, Herr Tassilo, es is Ihr Vater! Aber der glaubt jetzt, daß ich den Hirsch allein gschossen hab, damit er uns net wieder durchkommt.« Franzl würgte an jedem Wort. »Ich bitt, Herr Graf, jetzt müssen Sie's schon mir zlieb tun und müssen sagen: Sie haben alle zwei Schuß gmacht.«

»Nein, lieber Hornegger, auf solche Dinge kann ich mich nicht einlassen.«

Franzl atmete schwer und ließ den Kopf sinken. »Freilich, ich kann's Ihnen net verdenken. Lügen tut keiner gern. Aber beim Herrn Grafen kommt man net aus mit die graden Weg. Dös hab ich schon bitter schmecken müssen. No also, mein Klampferl hab ich schon droben am Buckel, jetzt kommt noch a Span dazu!«

»Seien Sie ohne Sorge, Hornegger,« sagte Tassilo mit mühsam bewahrter Ruhe, »ich stehe dafür ein, daß Ihnen jeder Verdruß erspart bleibt. Wenn mein Vater hört, daß Sie nur auf meine Weisung geschossen haben –«

»Dös wird net viel helfen! Natürlich, Ihnen ins Gesicht wird der Herr Vater sagen: es ist alles gut. Aber hinterrucks krieg ich mein Putzer. Es wär net 's erstemal.«

Franzl verstummte, denn Graf Egge kam mit ungeduldiger Hast aus der Senkung des Waldes heraufgestiegen; hinter ihm erschienen die Treiber, und als Graf Egge zu dem Hirsch herantrat, rannte auch Schipper zwischen den Bäumen daher, keuchend und mit verschwitztem Gesicht; seine spähenden Augen streiften den Hirsch, überflogen die stumme Gruppe und blieben lauernd an Franzl haften.

Beim Anblick des mächtigen Hirsches mit dem Riesengeweih bekam Graf Egges Gesicht einen Stich ins Gelbliche. Hinter ihm rief ein alter Treiber: »Herrgott, is dös a Hirsch! So an Hirsch hat der gnädig Herr selber nimmer gschossen, ich weiß net wie lang!« Graf Egge drehte das Gesicht nach dem Schwätzer; dann stieß er mit dem Stachel des Bergstocks an die blutende Wunde des Hirsches und lachte trocken. »Ein schöner Schuß! Wie gezirkelt!« Er hob die Augen zu Tassilo. »Ich gratuliere dir!«

Tassilo wollte sprechen, doch sein Vater kehrte ihm den Rücken zu und schritt davon. Betroffen eilte Schipper ihm nach und stotterte: »Aber Herr Graf! Der nächste Trieb liegt auf der anderen Seite!«

»Schluß für heute! Ich habe genug!« erklärte Graf Egge. »Du brich den Hirsch auf und verdiene dir das Trinkgeld bei denen, die geschossen haben! Ich finde meinen Weg allein.« Die letzten Worte klangen so laut, als wären sie auch für andere Ohren gesprochen.

Tassilo warf die Büchse auf den Rücken und wollte dem Vater folgen. Franzl hielt ihn am Arm zurück und flüsterte: »Sagen Sie's ihm erst daheim in der Hütten! Jetzt is er im ärgsten Zorn. Und wissen S', warum? Mir scheint, den Hirsch hätt er lieber selber gschossen. Jetzt is die Gschicht doppelt zwider.«

Graf Egge war schon im Schatten des Waldes verschwunden. Manchmal bewegte er die Lippen, als wären sie durch Trockenheit gespannt, und stieß den Bergstock auf die Steine, daß es weithin klirrte.

Eine halbe Wegstunde hatte er zurückgelegt; da hörte er neben dem Pfad ein Rascheln im Gebüsch, aus dem sich die Gestalt eines schwarzbärtigen Jägers hervorschob.

»Pattscheider? Du?« Das klang nicht freundlich. Graf Egge schien diese Begegnung als eine willkommene Gelegenheit zu begrüßen, um seinen Zorn zu kühlen. »Was hast du hier zu schaffen? Warum bist du nicht in deinem Bezirk? Oder kommst du mir schon wieder mit der Zumutung, daß ich deinen Gehalt –« Graf Egge verstummte, als er das fahle Gesicht des Jägers sah. Eine unbehagliche Ahnung mochte in ihm aufdämmern. »Pattscheider?«

Der Jäger ließ einen scheuen Blick über den Weg auf- und niedergleiten. »Ich bitt, Herr Graf,« sagte er mit gepreßter Stimme, »bei mir drüben liegt einer.«

»Pfui Teufel! Das is zwider!« fuhr es über Graf Egges Lippen.

Eine Weile standen sie schweigend voreinander; dann begann der Jäger flüsternd zu berichten: »Seit zwei Tag hab ich den Kerl schon allweil gspürt. Kein Bissen mehr hab ich gessen, kein Stündl mehr gschlafen. Und richtig, heut in der Fruh, grad wie's Tag worden is, bin ich mit ihm zammgrumpelt, net weit von der Grenz. Vor ich ihn hab anrufen können, hat er mich schon gsehen und is mit der Büchs aufgfahren. Er oder ich! Der Herr Graf is mir eingfallen, und – meine Kinder! Hab ich's halt krachen lassen! Mitten in der Brust muß er die Kugel haben. Er is aufs Gsicht gfallen.« Die Stimme des Jägers erlosch.

Graf Egge zauste am Bart. »Verflucht! Wer war's denn?«

»Ich hab ihn net kennt. Er muß über der Grenz daheim sein, in Bernbichl, mein ich. A reicher Bauernsohn. Er hat a guts Gwand anghabt.«

»Wo liegt er?«

»Gleich unter der Grenzwand, bei der Salzleck in die Latschen drin.«

»Da schau! Gleich bei der Salzleck möchten mir die Lumpen meine Hirsche wegschießen! Aber du bist doch hoffentlich net hin zu ihm, daß man net am End deine Fährt findet?«

»Na, Herr Graf! Ich hätt ihn auch gar nimmer anschauen können. So was bremselt im Blut. Was soll geschehen? Ich mein', ich geh nunter zum Gricht und mach die Meldung?«

»Bist du verrückt?« fuhr Graf Egge auf. »Diese Laufereien und das Geschrei in der ganzen Gegend! Das könnte mir grad noch abgehen!«

»Aber ich bitt, Herr Graf,« stammelte Pattscheider, »wenn ich die Sach net zur Anzeig bring, da kann ich in die ärgste Schlamastik einikommen. Aber wenn ich den rechtlichen Weg geh – ich hab am End net mehr als mei' Pflicht erfüllt und in Notwehr gehandelt.«

»So? Notwehr? Hat der ander geschossen auf dich?«

Pattscheider starrte zu Boden.

»Na also, du Tepp! Ein paar Monat kannst du eingesperrt werden. So fein sind unsere Gesetze, daß sich der Jäger vom Lumpen zuerst erschießen lassen soll, vor er sich wehren darf. Nix da! Die Sach muß vertuschelt werden. Wenn das Interesse der Jagd in Frage kommt, muß alles andere zurückstehen.« Graf Egge besann sich eine Weile. »Paß auf! Du geh heim zu deinem Weib! Such dir einen Weg, auf dem dir niemand begegnet! Dein Haus liegt einschichtig am Walde, da sieht dich keiner kommen. Und dein Weib wird dir im Notfall bezeugen können, daß du seit gestern mittag daheim warst. Um alles andere brauchst du dich nicht zu kümmern. Und heut abend zeig dich im Wirtshaus und sei lustig!«

»Dös wird sich hart machen, Herr Graf!«

»Probier's nur, es wird schon gehen. Und damit dir's leichter gelingt – von heut an bist du um hundertfünfzig Mark im Gehalt aufgebessert.«

Pattscheider hob die Augen; in seinem bleichen Gesicht zuckte keine Miene; er nickte nur vor sich hin, ohne ein Wort des Dankes zu finden.

Hinter einer Biegung des Pfades ließ sich Stimmenklang und das Klirren der Bergstöcke vernehmen. »Fort!« murrte Graf Egge, und Pattscheider sprang mit einem hastigen Satz in die Büsche. Graf Egge stand noch eine Weile und sah brütend vor sich hin. Ein Schauer des Unbehagens rüttelte ihm die Schultern; wütend stampfte er mit dem Fuß und spuckte aus. »Eine verwünschte Geschichte! Heut kommt mir aber auch alles über den Hals!« Er spähte über den Steg zurück, auf dem die Stimmen näher kamen, rückte mit zornigem Stoß die Büchse und begann langspurig auszuschreiten.

Nach einigen Minuten tauchte Schipper auf, spähte über den Pfad und schlug, als er seinen Herrn nicht gewahrte, ein flinkeres Tempo an. Er holte ihn nicht mehr ein. Ehe Schipper das offene Latschental erreichte, war Graf Egge bereits vor dem »Palais Dippel« angelangt und trat in die Hütte.

Mit der gewohnten Vorsicht, an der seine kochende Erregung nichts zu ändern vermochte, hängte er die Büchse an den Gewehrrechen. Seine Bergschuhe waren ihm zwar auch noch heilig, aber sie wurden schon etwas derber behandelt, als er sie von den Füßen zerrte, ohne die Riemen zu lösen. Übel kam die Joppe weg; ein paar Nähte krachten, und zu einem Klumpen geballt flog sie in einen Winkel. Hemdärmelig und in Filzpantoffeln, vorgebeugten Kopfes und mit den Fäusten auf dem Rücken wanderte Graf Egge in der engen Stube auf und nieder, wie ein gereizter Löwe in seinem Käfig. Nach allem Jagdpech dieses Morgens war ihm die Nachricht, die er soeben hatte hören müssen, bös in die Quere gekommen. Am folgenden Morgen hätten die viertägigen Treibjagden in Pattscheiders Bezirk beginnen sollen. Damit war's nun aus. Man mußte wohl oder übel so lange warten, bis »da drüben« alles wieder »in Ordnung« war.

Ungeduldig sprang er zum Fenster. »Gott sei Dank, da kommt er schon!« murmelte er, als zwischen den Latschen der graue Kopf seines »Hof- und Geheimrats« auftauchte. Wieder begann er den Marsch durch die Stube, und während er den Plan entwarf, nach welchem Schipper »da drüben« wirtschaften sollte, stieg mit unbehaglicher Deutlichkeit vor ihm das Bild eines Menschen auf, der zwischen blutbesprengten Büschen regungslos auf dem Gesichte lag.

Schipper erschien. Mit raschem Blick spähte er nach dem Gesicht seines Herrn und sagte: »Es is mir unangnehm, Herr Graf, aber ich muß leider an zwidern Fürfall melden.«

»Noch was?« fuhr Graf Egge auf, als wäre ihm das Maß dessen, was dieser Tag gebracht hatte, schon mehr als genügend.

»Es tut mir leid, daß ich gegen Ihren Herrn Sohn reden muß. Aber es is mei' Pflicht. Da geh ich durch dick und dünn. Ich hab den Hirsch da drüben aufgebrochen. Und schauen S' her: die Kugel hab ich im Hirsch gfunden. Er hat bloß den einzigen Schuß.« Schipper hielt seinem Herrn auf der flachen Hand eine Bleikugel hin, deren Spitze breitgedrückt war wie der Kopf eines Pilzes.

Graf Egge nahm das Blei. »Was soll das heißen? Das ist doch das kleine Kaliber, das der Hornegger schießt? Wie kommt die Kugel in den Hirsch?« Das Blut stieg ihm in die Stirn, und die Adern an seinen Schläfen schwollen zu dicken Schnüren.

»Ich bitt, Herr Graf, nehmen S' die Sach net gar so krumm! Es is doch um Gotts willen kein Verbrechen! Der Herr Tassilo wird halt gforchten haben, es gibt noch an ärgern Spitakl wie gestern, wann er den Hirsch wieder durchlaßt. Da wird er halt dem Franzl an Wink geben haben.«

»Und dieses Rabenaas hat die Frechheit und schießt mir den Hirsch nieder!« schrie Graf Egge, der nun endlich Gelegenheit fand, alles auszuschütten, was an Ärger und Erregung in ihm kochte. »Die vorige Woch schlagt er meinem Staatsbock die Kruck herunter, gestern lügt er mich an, und heut brennt er mir einen Hirsch nieder, wie ich selber keinen geschossen hab', ich weiß nicht, wie lang!«

»Aber Herr Graf! Sind S' doch gscheit!« versuchte Schipper zu trösten. »Lassen S' Ihnen doch sagen –«

»Nichts laß ich mir sagen! Solche Schweinereien duld' ich nicht. Das ist eine unerhörte Gemeinheit!« Graf Egge schleuderte die Kugel auf den Tisch und ließ einen dröhnenden Faustschlag folgen. »Mit dem Kerl bin ich fertig. Und den anderen, der mein Personal zu solchen Manklereien verleitet – den staub' ich aus. Natürlich! Der hat jahraus und -ein mit Spitzbuben zu tun. Da ist ihm nicht wohl unter anständigen Jägern. Aber meine Jagd soll er mir in Ruh' lassen. Da versteh ich keinen Spaß.«

Jammernd schlug Schipper die Hände ineinander. »Lieber, lieber Herr Graf, ich bitt Ihnen um Gotts willen –« Er verstummte. Tassilo und Franzl betraten die Stube, der eine mit brennendem Gesicht, der andere mit kalkweißer Stirn. Schon vor der Hütte hatten sie die wetternde Stimme gehört und schienen zu wissen, was ihrer wartete. Schipper, den ein funkelnder Blick aus Franzls Augen traf, zuckte die Achseln und drückte sich zur Tür hinaus.

Wie ein angeschossener Eber fuhr Graf Egge auf Franzl los: »Du unterstehst dich noch, zu mir in die Stube zu kommen?« Dieser Empfang machte den Jäger sprachlos; der Hut zitterte in seinen Händen, und verstört suchte er Hilfe bei Tassilo, während Graf Egge weiterschrie: »Oder hast du vergessen, daß es meinem Personal aufs strengste verboten ist, Jagd auf eigene Faust zu treiben? Glaubst du vielleicht, ich bezahle jährlich sechzigtausend Mark für meine Jagd, um dir eine Privatvergnügen zu machen?«

Tassilo hatte die Büchse auf den Tisch gelegt und trat zwischen seinen Vater und den Jäger. »Ich bitte dich, Papa, mich in Ruhe anzuhören.«

»Mit dir hab' ich nichts zu verhandeln, du warst nie ein Jäger, und du wirst nie einer. Über Dummheiten, die du machst, ärgere ich mich schon lange nicht mehr. Hornegger aber hat gegen mein ausdrückliches Verbot gehandelt.«

»Nein, Papa!«

»Ja!«

»Den Jäger trifft keine Schuld. Ich war der Meinung, den Hirsch getroffen zu haben, und befahl dem Jäger, einen Fangschuß abzugeben.«

»Das geht mich gar nichts an! Mein Personal hat sich an meine Vorschriften zu halten. Und einen Jäger, der nicht unterscheiden kann, ob ein Hirsch getroffen ist, den kann ich nicht brauchen!« Graf Egge wandte sich an Franzl. »Wir beide sind fertig miteinander. Du kannst gehen! Sofort! Der nächste Monat wird dir ausbezahlt. Dann such' dir einen anderen Dienst.«

Graf Egge kehrte sich ab und stellte sich vor das Fenster und stützte die Fäuste auf das Gesims.

Draußen in der Küche erhob sich Schipper schmunzelnd von der Tür, an der er gelauscht hatte.

Franzl stand mit weißem Gesicht, und Tassilo sah den Vater an, als hätte er einen Wahnsinnigen vor sich.

»Herr Graf?« stammelte der Jäger endlich. »Dös kann doch net Ihr Ernst sein?«

»Nein, Hornegger,« fiel Tassilo mit bebender Stimme ein, »mein Vater hat im Ärger ein Wort gesprochen, das er gern zurücknehmen wird, wenn er ruhiger geworden.«

Graf Egge fuhr mit dem Gesicht herum. »Da kennst du mich schlecht.«

Tassilo trat vor den Vater hin, und ihre Augen kreuzten sich. »Ich wiederhole dir, Papa, daß ich allein der Schuldige bin. Und ich muß dich bitten, mir nicht die Demütigung zuzufügen, daß der schuldlose Jäger für mein Vergehen gestraft wird. Ich ersuche dich –«

»Jetzt will ich meine Ruhe haben!« Graf Egge ging zur Tür.

»Vater!« Tassilo wollte dem Vater folgen.

Franzl hielt ihn am Arm zurück. Das Gesicht des Jägers hatte keinen Tropfen Blut, aber seine Stimme klang ruhig: »Ich bitt, Herr Tassilo, lassen Sie's gut sein! Seit acht Tagen wirft mir der Herr Graf allbot den Dienst vor die Füß. In Gotts Namen, jetzt soll's an End haben. Mei' Stellung is mir lieb gwesen, aber schließlich hat der Mensch doch an Ehrgfühl.«

Graf Egge hörte diese Worte noch, als er hinaustrat in die Küche und hinter sich die Tür zuwarf. Einen Augenblick zögerte er und schien wieder in die Stube zurückkehren zu wollen, um noch ein Wort in dieser Sache zu sprechen. Aber Schippers Anblick erinnerte ihn an die »verfluchte Geschichte da drüben«. Das mußte zuerst erledigt werden. Dann war noch immer Zeit, um die Suppe, die in der Stube so heiß gekocht worden war, in kühlerem Zustand auszulöffeln.

Mit einer stummen Bewegung winkte Graf Egge seinem Büchsenspanner und verließ mit ihm die Hütte. Sie schritten einer über das Tal hinausgebauten Graskuppe zu, auf der im Schatten moosbehangener Fichten eine plump gezimmerte Holzbank stand. Schipper, der den Zweck dieses Weges nicht erriet und dem Landfrieden nicht völlig zu trauen schien, studierte forschend das Gesicht seines Herrn. Graf Egge war ruhig. Der Blitz, den er in der Stube losgelassen, hatte das Ungewitter seines Grolles einigermaßen beschwichtigt.

Als er die Bank erreichte, ließ er sich seufzend nieder, kraute sich mit beiden Händen im Haar und brummte nach einer Weile: »Ein scheußlicher Tag heut, Schipper!«

»Ja, Herr Graf, heut is alles schief gangen.«

»Und hinter allem noch als Trumpf die rote Aß! Auf dem Heimweg hat mich der Pattscheider abgefaßt. Der arme Kerl hätte heut in der Früh beinah Malheur gehabt.«

»Mar' und Josef!« murmelte Schipper. Er kannte zur Genüge die Bedeutung, die dieses Wort im Sprachgebrauch der Jagdhütte besitzt. »Die Sach ist doch hoffentlich gut ausgangen?«

Zögernd nickte Graf Egge. »Für den Pattscheider ja! Der ander liegt!«

»Recht so!« lachte Schipper mit vorsichtig gedämpftem Jubel. »So an Lumpen nur allweil gleich niederpracken! Dös steigt den andern in d' Nasen. Da is wieder fünf Jahr lang Ruh im Revier.«

»Das Exempel hat wohl seine gute Wirkung, aber so was bleibt doch immer eine böse Sache. Ich bin kein Freund von Geschrei und Scherereien. Am liebsten wär' mir's, wenn Staub über die Geschichte fiele. Pattscheider hat als Jäger seine Pflicht getan, ich will nicht, daß er Unannehmlichkeiten hat. Da drüben muß sauber gemacht werden, noch heut. Wenn dann das Laufen und Suchen der Verwandten angeht – im Gebirg' ist überall Unglück möglich. Wenn einer vermißt wird, muß man ihn noch lang nicht erschossen haben. Was meinst du? Kann ich mich auf dich verlassen?«

»Herr Graf –« Schipper blies die Backen auf und griff nach seiner Nase, »da tät ich schon lieber wieder a Kitz auf d' Seit räumen. Aber wenn's der Jagd z'lieb sein muß, in Gotts Namen!«

Er setzte sich dicht an die Seite seines Herrn, und flüsternd steckten sie die Köpfe zusammen. Als Schipper sich nach einer Weile erhob, sagte Graf Egge: »Sei vorsichtig! Und drüben geh barfuß, die Bauern kennen deine Nagelfährte.«

»Dem Pattscheider seine Sachen nimm ich drüben gleich von der Hütten fort. Er wird wohl an anderen Posten im Revier kriegen müssen? Oder net?«

»Da hast du recht! Der arme Kerl hätte in der ersten Zeit ein schlechtes Schlafen da drüben. Ich nehm' ihn zu mir und schicke den Hornegger hinüber.«

»Den Franzl?« Schipper machte ein verblüfftes Gesicht. »Aber Herr Graf –«

»Ach so!« brummte Graf Egge, der über dem wichtigen Thema des Augenblicks die Szene völlig vergessen hatte, die vor wenigen Minuten in der Hütte spielte. Er strich die Hand über den Scheitel und lachte. »Schon gut! Darüber reden wir noch. Oder – aaah, mir scheint, das Kapitel soll gleiche wieder von vorn anfangen?« Diese Vermutung erwachte in Graf Egge, als er Tassilo gewahrte, der von der Hütte kam. Ein spöttisches Lächeln. Dann nickte Graf Egge seinem Büchsenspanner zu: »Mach' weiter!«

Wortlos zog Schipper den Hut und schritt der Hütte zu. Als er an Tassilo vorbeiging, schien sich die Sorge, die Graf Egges Vergeßlichkeit in ihm geweckt hatte, wieder zu beschwichtigen. Der Blick, mit welchem Tassilo den Vater suchte, war für den Jäger ein Wetterzeichen, das auf alles andere eher deutete als auf friedlichen Sonnenschein zwischen Vater und Sohn. Schmunzelnd duckte Schipper den Kopf zwischen die Schultern und zog den grauen Bart durch die Hand. »Der is gladen! Da kracht's. Es hilft dir nix, Franzerl, heut bist gliefert!« Dieser Gedanke beschäftigte ihn so sehr, daß er eine Felsschrunde übersah. Er strauchelte und schlug sich auf dem steinigen Grund das Knie blutig.

Graf Egge rückte tiefer in die Bank, ließ die Füße baumeln und blickte zwinkernd seinem Sohn entgegen, halb neugierig, halb gereizt.

Tassilo vermochte vor Erregung kaum zu sprechen. »Ich bitte dich, Papa, mit mir zur Hütte zu kommen.«

»Was soll ich dort?«

»Diesem armen Burschen sollst du sagen, daß du seine Entlassung nur in einem Augenblick der Erregung ausgesprochen. Und daß du jetzt, nachdem du ruhiger geworden, dieses harte Wort auch gern wieder zurücknimmst.«

»So?« Graf Egge zog die Brauen auf. »Du scheinst wohl zu glauben, daß ich unter Kuratel stehe, weil du so kategorisch über mich verfügst?«

»Ich verfüge nicht über dich. Ich bitte. Und ich kann nicht glauben, daß du einen braven Menschen, der dir lange Jahre treu gedient hat, wegen eines belanglosen Versehens wirklich in so harter Weise bestrafen könntest. Ich bitte dich, komm!«

Die Antwort ließ auf sich warten. »Ob das Versehen belanglos ist oder nicht, darüber will ich mit dir nicht streiten. Kümmere du dich um deine Pandekten! Was für meine Jagd von Nutzen oder Schaden ist, diese Entscheidung überlasse gefälligst mir! Und wenn ich mein Wort schon ändern wollte? Hat denn die Sache gar so große Eile?«

»Hornegger packt seinen Rucksack und will gehen.«

»Er will? Wiegt ihm die Stellung in meinem Dienst so leicht?« Graf Egge zeigte eine geärgerte Miene. »Gut! Er soll gehen.«

»Papa! Das kann nicht dein Ernst sein!«

»Ernst oder nicht, jetzt gerade soll er gehen! Er soll nur ein paar Wochen dunsten. Das wird für ihn eine gesunde Warnung sein.«

Auf Tassilos Stirn erschien die gleiche Furche, wie sie tief gezeichnet zwischen den Brauen seines Vaters lag. »Du hast da ein Wort gesprochen, das mir unfaßbar ist!« sagte er, sich mühsam zur Ruhe zwingend. »Die Bitte, mir eine Kränkung zu ersparen, hast du überhört, und ich will sie nicht wiederholen. Mir ist es nur um diesen armen Menschen zu tun. Ich bitte dich eindringlich, die Folgen der unverdienten Strafe, die du über Hornegger ausgesprochen, ernster abzuwägen.«

»Oho!« fuhr Graf Egge auf; er kreuzte die Arme und bohrte seinen Falkenblick in Tassilos Augen. »Das ist eine nette Sprache, die du gegen mich anschlägst!«

»Verzeih' mir, wenn ich in der Erregung nicht die richtigen Worte finde. Ich wollte nur sagen, daß du dich in Hornegger zu irren scheinst. Bei ihm wird die Sache nicht damit abgetan sein, daß er – um dein Wort zu gebrauchen – ein paar Wochen ›dunstet‹ und in schwitzender Ungeduld auf die Stunde wartet, in der dir die Laune kommt, ihn wieder in Gnaden aufzunehmen. Du gibst ihm heut einen Stoß fürs ganze Leben. In ihm steckt eine tüchtige Natur, er liebt seine Stellung nicht nur um des Brotes willen, das sie ihm bietet, sie ist ihm die Freude, der ganze Inhalt seines Lebens. Und an ihr hängt seine Ehre. Er wird dich mit dem Bewußtsein verlassen, daß ihm ein schweres Unrecht geschah, und wird doch beim ersten Schritt ins Dorf den Makel des Davongejagten an sich empfinden müssen. Jedes Gemunkel der Leute, jedes anzügliche Wort, jedes spöttische Lächeln wird ihn treffen wie ein Stich ins Herz. Und dieser unverdienten Kränkung steht er wehrlos gegenüber.«

»Du predigst warm für ihn!« fiel Graf Egge mit scharf klingenden Worten ein. »Du willst ihn wohl dir erhalten? Für später? Natürlich! Er hält ja schon jetzt zu dir. Er schießt für dich, er lügt für dich –«

»Vater!« stammelte Tassilo.

Graf Egge erhob sich. Als er den Jäger von der Hütte kommen sah, ließ er sich lächelnd wieder auf die Holzbank nieder. Geradewegs, Büchse und Bergstock in der Hand und hinter den Schultern den dick angepackten Rucksack, ging Franzl auf seinen Herrn zu. Tassilos Hände begannen zu zittern, als er den Jäger gewahrte; alles überwindend, was er um seiner selbst willen in diesem Augenblick empfinden mußte, faßte er den Arm seines Vaters: »Ich bitte dich, Papa! Ich bitte dich –«

Graf Egge rührte sich nicht; die Fäuste auf seine gespreizten Knie gestützt, blickte er zu dem Jäger auf, so ruhig, als wäre ihm keine Spur von Ärger zurückgeblieben, nur eine Art von Neugier, wie diese Szene sich entwickeln würde.

In militärischer Haltung stellte sich Franzl vor ihm auf und zog den Hut; sein Gesicht war weiß, aber seine Stimme hatte festen Klang. »Ich meld mich aus'm Dienst, Herr Graf!« Er zögerte. »Und wenn mir der Herr Graf noch a Wörtl verlauben – was der Herr Graf gsagt haben wegen dem Ghalt vom nächsten Monat, dös lassen wir gut sein. Ich hab net viel Übrigs. Aber schenken muß ich mir nix lassen. Wo ich kein Dienst net mach, da brauch ich kein Ghalt! Nix für ungut, Herr Graf!« Nun schwankte ihm doch die Stimme. »Ich bhüt Ihnen Gott!« Ein Zucken kam über sein Gesicht, und das Kinn an die Brust drückend, wandte er sich ab.

Tassilo stand wortlos. Graf Egge schlug die Faust auf die Holzbank und schrie: »So schau nur einer den Lümmel an! Jetzt kehrt er gar noch den Hochmut heraus und wirft mir die achtzig Mark vor die Füße!«

Franzl hörte diese Worte noch, und das Wasser schoß ihm in die Augen. Hastig suchte er den Steig zu erreichen. Als er an der Hütte vorüberkam, trat Schipper aus der Tür, marschfertig für den Weg zur »Arbeit«, die er »da drüben« zu erledigen hatte. Beim Anblick des grauen Kameraden schien es mit Franzls Selbstbeherrschung ein jähes Ende zu haben. »Schipper!« Er hob die Faust. »Für den heutigen Tag muß ich mich wohl bei dir bedanken?« Er trat auf den Büchsenspanner zu, der den Bergstock wehrend vor sich hinstreckte. »Schau mir in d' Augen, du! Und sag mir ins Gsicht: was muß ich im Leben an dir verbrochen haben, daß Tag und Nacht kei Ruh net geben hast, bis ich draußen war bei der Tür?«

Schippers Antwort war ein dünnes Lächeln, und in seinen halbgeschlossenen Augen funkelte ein Blick, so heiß, wie ihn nur die Freude des Hasses kennt.

Franzl sah diesen Blick, und es fuhr ihm etwas durch den Kopf – er wußte nicht, was. Aber es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Wie angewurzelt stand er und starrte dem Jäger nach, der gegen den Saum des Latschenfeldes ging und in den Büschen verschwand.

Drüben bei der Holzbank war zwischen Vater und Sohn noch immer kein Wort gefallen. Graf Egge saß mit verschränkten Armen und guckte zum Himmel hinauf, an dem sich schwere Wolken zu sammeln begannen. Und Tassilos Augen waren bei Franzl; als er den Jäger in eine Senke des Weges niedersteigen sah, rief er ihm mit lauter Stimme zu: »Hornegger!«

»Ja, Herr Tassilo?« klang die unsichere Antwort.

»Erwarten Sie mich bei der ersten Sennhütte, ich komme nach und gehe mit Ihnen.«

Verwundert drehte Graf Egge das Gesicht. »Was soll das heißen?«

Aus Tassilos Zügen schien jede Erregung geschwunden. In seinen Augen war ruhiger Ernst, als er sagte: »Du wirst es begreiflich finden, daß ich nicht bleiben kann, wenn der Jäger geht, der um meinetwillen entlassen wurde. Ich fühle mich verpflichtet, für ihn zu sorgen, ihm so rasch wie möglich eine neue Stellung zu verschaffen.«

Graf Egge blies die Backen auf, schob die Fäuste in die Taschen seiner Lederhose und nickte mit dem Anschein zustimmender Wichtigkeit. »Aaaah! Höchst ehrenwert! Unter solchen Umständen müßte ich mir ein Gewissen daraus machen, dich noch länger halten zu wollen. Bitte!« Dieses letzte Wort war von einer gnädig entlassenden Handbewegung begleitet.

»Bevor ich gehe, hab' ich mit dir noch von einer Angelegenheit zu sprechen, für deren Erledigung ich mir allerdings eine freundlichere Stunde erhofft hatte als die jetzige.«

Graf Egge lächelte. »Das ist eine Einleitung, die mich neugierig macht.«

»Ich gedenke mich zu verheiraten und bitte dich um deine Zustimmung.«

In sprachloser Verblüffung sah Graf Egge zu Tassilo auf; dann sagte er trocken: »Du bist majorenn. Ich habe keine Veranlassung, dir Hindernisse in den Weg zu legen. Daß ich von deiner Eröffnung sonderlich gerührt sein würde, hast du wohl selbst nicht erwartet. Du hast dich mir gegenüber nie auf einen Fuß gestellt, auf dem sich eine besondere Intimität hätte entwickeln können.«

»Das war nicht meine Schuld.«

»Laß das! Du hast niemals Anteil an meinen Interessen genommen, so wirst du auch nicht verlangen, daß ich ohne Ursache plötzlich sentimental werde und über die Aussicht, daß du mich zum Großvater machen willst, vor Vergnügen aus der Haut fahre. Heirate! Ich ersuche dich nur, den Tag der Hochzeit nicht gerade in die Zeit der Hirschbrunft zu verlegen. Da könnte ich schwer abkommen. In allem übrigen hast du meine Zustimmung. Ich wünsche in deinem eigenen Interesse, daß du eine gute Wahl getroffen hast.«

»Die beste, um glücklich zu werden.«

»Glücklich?« Für Graf Egge schien dieses Wort einen zweifelhaften Wert zu haben. »Deine Braut ist reich?«

»Nein. Auf das bescheidene Vermögen, das sie besitzt, wird sie verzichten, um die Existenz ihrer Mutter und Schwester zu sichern.«

Graf Egge zog die Brauen auf und blies den Atem vor sich hin wie Pfeifenrauch. »Ach sooo? Ein idyllischer Herzensbund, mit Romantik und Edelmut garniert wie die gebratene Schnepfe mit bestrichenen Schnitten? Das war von dir zu erwarten.« Er vergrub die Fäuste wieder in den Taschen. »Du bist alt genug, um zu wissen, was du tun willst. Und da du mich bei deiner Wahl entbehren konntest, wirst du auch bei allem anderen nicht auf meine Hilfe rechnen. Eine Spekulation auf meinen Geldbeutel? Das wäre fehlgeschossen wie heute auf den Hirsch, zu dem dir der Franzl verhelfen mußte.«

»Ich glaube nicht, daß ich ein Wort gesprochen habe, das dich zu einer solchen Befürchtung veranlassen konnte. Du irrst dich in mir.«

»Ich irre mich? Schon wieder? Zuerst in diesem Lapp von Jäger. Und jetzt in dir? Um so besser. Aber du hast recht, ich hätte dich weniger praktisch taxieren sollen. Wie Hornegger vor einer Viertelstunde die achtzig Mark, so hast du mir ja gestern die zwölftausend deiner Apanage vor die Füße geworfen. Der Stolz ist von jeher die einzige Patrone gewesen, mit der du zu schießen verstanden. Gut, stell' dich auf eigene Füße! Wenn es dir gelingt, alle Anerkennung! Verdienst du wirklich soviel?«

»Genügend, um mir auch ohne fremde Hilfe einen behaglichen Hausstand gründen zu können.«

»Fremde Hilfe?« Graf Egge lächelte, als hätte er einen leidlich guten Scherz gehört. »Brav! Du hast ja auch noch die freie Verfügung über das Erbteil deiner Mutter. Was dir im übrigen noch zusteht, darauf wirst du ein paar ausgiebige Jahre warten müssen. Meine Gesundheit, die ich der Jagd verdanke, hat eisernen Halt. Der Rest meines irdischen Pirschganges soll noch zwanzig Jahre dauern. Und darüber.«

»Das wünsche ich dir!« Bei allem Ernst klangen diese Worte warm und herzlich.

Graf Egge blickte langsam auf, als wäre dieser Ton an seinem Ohr nicht wirkungslos vorübergegangen. »Danke!« Nach Art eines Bauern, dem das Denken einige Mühe verursacht, strich er mit beiden Händen das Haar aus der Stirn. »Also, du hast aus Neigung gewählt? Armut ist ja schließlich keine Schande, nur ein unwillkommenes Übel, an welchem leider unsere besten und ältesten Namen kranken. Wie heißt die Familie deiner Braut?«

»Herwegh.«

»Herwegh? Herwegh?« Halblaut wiederholte Graf Egge den Namen; nach einigem Besinnen schüttelte er den Kopf; es zuckte um seine Nasenflügel. »Hör', Junge, die zwei Silben klingen verdächtig! Oder ist das österreichischer Adel?«

»Nein, Vater. Aber der Name meiner Braut hat guten Klang und sollte dir auch nicht unbekannt sein – Anna Herwegh?«

»Die Sängerin!« Graf Egge sprang auf, als wäre Feuer unter der Bank entstanden. »Bist du verrückt?«

Tassilo streckte sich, und ruhig begegneten seine Augen dem funkelnden Blick des Vaters. »Ich bin bei Vernunft und gesunden Sinnen.«

»Dann sag' mir doch um Gottes willen: wie kommst du auf die Idee, so etwas heiraten zu wollen?«

Tassilos Stimme bebte. »Anna ist eine gefeierte Künstlerin, sie stammt aus guter Familie, und ihr Ruf ist ein tadelloser. Ich liebe sie.«

»Liebe, Liebe!« schrie Graf Egge, und die Stumme wurde ihm heiser. »Laß mich mit diesem Komödiantenwort in Ruhe! Du bist vernarrt. Und weil dir die Einkünfte deiner Kanzlei oder deine sogenannten Prinzipien nicht gestatten, diese Person zu deiner Geliebten zu machen – deshalb willst du sie heiraten?«

»Vater!«

Schweigen folgte diesem Wort. Aug' in Auge standen die beiden voreinander, Tassilo bleich, Graf Egge mit weißem Gesicht und geballten Fäusten.

Über das Latschenfeld herüber klangen lachende Stimmen, vom stärker ziehenden Winde getragen, und der klirrende Aufschlag zweier Bergstücke.

»Rede!« brach Graf Egge das Schweigen. »Ich glaube noch immer, daß du dir einen übel angebrachten Jux mit mir erlaubst.«

»Nein, Vater, das glaubst du nicht. Die Jagd hat dich allerdings immer so sehr in Anspruch genommen, daß dir keine Zeit verblieb, dich viel um die Charakterentwicklung deiner Kinder zu kümmern. Aber so weit kennst du mich doch, um zu wissen, daß ich mir niemals einen Scherz mir dir erlauben würde. Im übrigen hat mich das beleidigende Wort, das du gesprochen, der Mühe enthoben, meine Wahl noch weiter vor dir zu rechtfertigen.«

Graf Egge lachte. Und jählings erlosch in seinem Gesicht jeder Ausdruck von Erregung. »Schluß!« Er strich mit der Hand durch die Luft. »Tue, was dir beliebt! Es hätte mich ohnehin gewundert, wenn du einmal deinen gewohnten Neigungen nach abwärts untreu geworden wärest.« Mit beiden Händen zog er die Lederhose höher an die Hüften. »Was stehst du noch? Meine Zustimmung hast du. Ich habe sie gegeben und widerrufe sie nicht. Du hast ja heut schon einmal erfahren, daß ich ein voreilig gesprochenes Wort, auch wenn es mich reut, nicht mehr zurücknehme. Mir ist leid um den Hornegger. Aber er wollte gehen. Gut! Mir ist auch leid um dich, trotz allem! Aber du gehst Wege, die sich mit den meinen nicht vertragen. Auch gut! Doch eins merke dir: Zwischen deinem Haus und dem meinen, da geht jetzt die Jagdgrenze. Da gibt's kein Hinüber und Herüber. Oder es brennt auf der Pfanne. So! Jetzt werde glücklich!«

Graf Egge setzte sich auf die Bank und streckte die Beine. Seine weiten Hemdärmel flatterten im Wind, und sacht bewegten sich die grauen Strähnen seines Bartes.

Mit schmerzlichem Ernst hing Tassilo am Gesicht des Vaters. »Du hast einen Stein auf den Weg geworfen, auf dem ich mein Glück zu finden hoffe. Die Folgen dieser Stunde werden schwer auf mir liegen, doppelt schwer, wenn du mir auch den Verkehr mit meinen Geschwistern versagen wolltest.«

»Ich habe deutsch gesprochen und glaube, daß du diese Sprache verstehst. Oder bist du der Meinung, daß du an deiner Frau nicht so viel gewinnst, um deine Geschwister entbehren zu können?«

Tassilos Stimme verschärfte sich. »Ich habe in diesem Augenblick weniger an mich gedacht als an meine Geschwister.«

»Schade, daß Robert nicht da ist! Er würde sich für deine brüderliche Zärtlichkeit bedanken.«

»Daß meine Sorge um ihn nicht unbegründet ist, das weißt du selbst am besten. Auch hab' ich noch andere Geschwister. Willy und Kitty werden den Verkehr mit mir und meinen brüderlichen Rat um so härter entbehren, da ihnen auch der Vater fehlt.«

»Ach so? Darauf läuft's hinaus! Du willst zum Abschied noch mit einer Lektion über Pädagogik losschießen? Ich denke zuviel an meine Hirsche und Gamsböcke, zuwenig an meine Kinder? Vielleicht hast du recht. Den deutlichsten Beweis, wie schlecht ich meine Kinder zu erziehen verstand, hast du selbst in dieser Stunde geliefert. Für die Zukunft will ich den Daumen etwas fester aufdrücken. Auf den Weg, den du einschlägst, soll sich weder deine Schwester noch einer deiner Brüder verirren. Wie sie im übrigen geraten, das muß ich ihrer Natur überlassen. Hoffentlich hat in ihren Adern der gesunde Tropfen Jägerblut, den sie von mir bekommen, das Übergewicht über das böse Blut der Mutter, von welchem du, ich merke, zuviel abbekommen hast. Es führt dich auf die gleichen Wege.«

»Vater!« Das Wort hatte schneidenden Klang. »Beleidige mich, und ich werde dir wehrlos gegenüberstehen. Aber du sollst die Mutter nicht vor ihrem Sohn beschimpfen!«

»Ich soll sie für die Erfahrung, die ich mit ihr machen mußte, wohl noch heiligsprechen?« Unter zornigem Lachen zerrte Graf Egge mit beiden Händen an seinem Bart. »Das ist zuviel verlangt!«

»Ich entschuldige nicht die Frau, die dich verließ. Aber diese Frau war meine Mutter. Da dulde ich keinen verletztenden Eingriff. Auch nicht von dir!«

Sie hat wohl an euch Kindern ein großes Werk der mütterlichen Liebe getan?«

»Nein, Vater, ein schweres Unrecht! Aber sie allein war nicht die Schuldige –«

»Eine großartige Weisheit!« unterbrach Graf Egge mit heiserer Stimme. »Natürlich! Sie hat ihre Schuld ausgiebig mit einem anderen geteilt.«

»Nein, Vater, nicht geteilt! Die größere Schuld hat dieser andere begangen. Und dieser andere bist du!«

Betroffen sah Graf Egge auf. Er wollte sprechen und wußte doch dem entfesselten Strom dieser glühenden Erregung gegenüber kein Wort zu finden.

»Ja, Vater, du! Als das Traurige sich vorbereitete und geschah, war ich ein Knabe. Aber ich hatte schon Augen, die sehen konnten. Was ich gewahren mußte, ohne es ganz zu erkennen, hat mich ernst gemacht in einer Zeit, in welcher andere Kinder lachend ihre Jugend genießen. Es hat über mein Leben einen Schatten geworfen, der nie wieder von mir gewichen ist. Und was ich damals nur halb erfaßte, das begriff ich erst in den folgenden Jahren, in denen du mich und meine Geschwister der gleichen Vereinsamung und dem Verkehr mit fremden Menschen überlassen hast wie einst die Mutter. Sie war, als sie deine Frau wurde, noch halb ein Kind – wie jetzt meine Schwester, für die du wegen Jagd und Jagd so selten eine Stunde findest, daß sie gewahren kann, um wieviel grauer in der Zwischenzeit dein Bart geworden. Ich erinnere mich aus meiner Knabenzeit, daß du deinen Jägern zu erzählen pflegtest, auf welch eine echt weidmännische Hochzeitsreise du deine junge Frau geführt hättest: zuerst zur Fuchshetze nach England, dann zu den Elchjagden nach Schweden, dann zur Hirschbrunft in die Bukowina. Da durfte sie, während du deine Pirschgänge machtest, in der Jagdhütte die Gesellschaft des Büchsenspanners teilen und ihm helfen, deine abgeschossenen Patronen frisch zu laden.«

Graf Egge war aufgesprungen. »Hätte sie Sinn für die Jagd gehabt, so hätt' ihr diese Reise besser gefallen als jede andre, denn gerade damals hab' ich meine stärksten Hirsche geschossen!« schrie er mit dunkelrotem Gesicht. »Aber für so was hatte sie keinen Funken von Verständnis. Ich hab' mir die redlichste Mühe gegeben, sie zu mir heraufzuziehen. Alles umsonst! Da ist es kein Wunder, wenn mir schließlich die Geduld verging.«

»Aber auch kein Wunder, wenn die junge Frau, die Monat um Monat einsam in Hubertus saß, ferne von ihren Kindern –«

»Kinder! Kinder! Hätt' ich vielleicht diesen ganzen Plärrapparat auf meinen Jagdreisen immer mit mir herumschleppen sollen?«

»Es fragt sich nur, ob diese Jagdreisen so wichtig waren, daß um ihretwillen jede Forderung schweigen mußte, die deine Frau und deine Kinder an dich zu stellen hatten.«

»Ach was! Forderung! Hätt' eure Mutter Sinn für das gehabt, was mir Freude machte, so hätt' sie nicht Trübsal blasen müssen, sondern Zerstreuung in Hülle und Fülle gefunden. Aber natürlich, in der Jagdhütte konnte sie nicht schlafen, da hat sie das Heu gekitzelt. Und der Geruch einer Lederhose war für ihre feine Nase eine Katastrophe! Ist es da meine Schuld, wenn sie allein in Hubertus sitzen mußte? Und was euch betrifft? Ihr habt in München euer warmes Nest gehabt, mit Governessen und Hofmeistern, die mich ein Heidengeld gekostet haben. Ich tat meine Schuldigkeit redlich! Aber schließlich existiert man auch um seiner selbst willen. Ich lebe und sterbe für die Jagd. Damit hat man zu rechnen. In erster Linie kommt für mich die Jagd, dann lange nichts mehr und dann erst alles andere.«

»Diese Wahrheit hat niemand schwerer empfunden als unsere Mutter.«

»Mutter! Immer Mutter! Jetzt hab' ich die Geschichte satt!« Mit zuckenden Händen tastete Graf Egge an seiner Brust umher, als hätte er die Joppe an und möchte die Knöpfe schließen. »Ich bin ein Narr, daß ich mich von diesem ganzen Krempel so erregen lasse. Fertig! Schluß! Das ist abgetan. Geh deiner Wege! Und wenn du in Zukunft an deine Mutter denkst, und es fällt dir dabei dein Vater ein, so kannst du dir sagen: das alles liegt hinter ihm! Wenn ihn an der ganzen Geschichte heute noch was ärgert, so ist es nur das einzige, daß er das Geweih, das deine verehrte Mutter ihm aufzusetzen beliebte, nicht in seine Sammlung hängen konnte. Das wär' ein Prachtexemplar gewesen, das alle meine anderen Hirsche geschlagen hätte – sogar die kapitalsten aus der Bukowina! Und nun Gott befohlen!« Er wandte sich ab und faßte mit beiden Händen den Stamm der nächsten Fichte, als bedürfte er für den in seinen Fingern arbeitenden Zorn eines festen Spielzeugs.

In Tassilos Augen war eine tiefe Trauer. Fast versagte ihm die Stimme. »Ich gehe. Nicht in Groll. Du erbarmst mich, Vater! Was ich aus dir reden höre, ist nicht mehr menschliche Stimme, sondern der Dämon einer Leidenschaft, die ich nicht begreife, obwohl ich ihre Wirkungen sehe. Sie hat das Leben meiner Mutter auf Irrwege und in einen frühen Tod getrieben. Sie hat dich gelöst von deinen Kindern, hat unser Heim und unsere Jugend vernichtet, hat unser Schicksal dem Spiel des Zufalls überlassen – und sie wird dich selbst zerstören!«

Mit zornigem Lachen riß Graf Egge von der Fichte zwei Rindenstücke los und zerdrückte sie in seinen Fäusten. Dann trat er langsam auf Tassilo zu, öffnete die Finger und ließ die Splitter fallen. Keuchend ging sein Atem, und seine Lippen bewegten sich, als fände er das Wort nicht, das er sprechen wollte. Schritte, die er hörte, machten ihn aufblicken. Willy war in die Hütte getreten, und Robert kam, mit erstaunten Augen den Vater und Bruder musternd. Noch einmal streifte Graf Egge mit funkelndem Blick das Gesicht seines Sohnes. Trocken lachend wandte er sich ab, winkte Robert mit beiden Händen zu und rief: »Ich gratulier euch, Kinder! Heute habt ihr gute Jagd gemacht! Jeder von euch dreien ist heute reicher um eine Million. Ich hab' einen Erben weniger, und das hat mich nicht einmal einen Schuß gekostet!«

Robert riß die verblüfften Augen auf, während der Vater an ihm vorüberschritt. Als Graf Egge zur Hütte kam, sah er über die Schulter und gewahrte, daß Tassilo dem zu den Almen führenden Steige zuschritt. »Da läuft der Narr ohne Stecken davon! – Willy!« Sein Jüngster erschien unter der Tür, mit gerötetem Gesicht und schimmernden Augen, als hätte er im Geheimdepot der Holzerhütte dem Niersteiner allzu beharrlich zugesprochen. »Bring' dem Windhund seinen Bergstock! Nach der Büchse wird er kein Verlangen haben. Er hat ausgejagt in meinem Revier!«

Willy begriff nicht. »Aber Papa? Was ist denn los?«

»Tu, was ich dir sage!«

Willy faßte einen der Bergstöcke, die neben der Hüttentür lehnten. Da sah er Robert kommen, eilte auf ihn zu und flüsterte: »Bertl? Hast du eine Ahnung, was für ein Blitz da schon wieder eingeschlagen hat?«

Robert zuckte die Achseln und trat in die Hütte.

Eine Weile stand Willy unschlüssig. Dann rief er mit lauter Stimme: »Tas! Tas!« und rannte dem Bruder nach. In einer Senkung des Pfades holte er ihn ein und erschrak beim Anblick seines Gesichtes. »Tas? Um Gottes willen, was ist denn geschehen?«

Ein müdes Lächeln. »Was unausbleiblich war – ob heut oder morgen. Ich bin im Begriff, eine Heirat zu schließen, von der ich mein Glück erhoffe. Sie findet nicht den Beifall deines Vaters. Deshalb will er nun einen Sohn weniger haben.«

»Ach du lieber Himmel –« stammelte Willy in hilfloser Bestürzung.

Tassilo nahm den Bergstock. »Nicht wahr, Junge, wenn unsere Wege auch nach dem Willen deines Vaters auseinandergehen, wir wollen gute Brüder bleiben?« Herzlich sag er dem Bruder in die Augen und bot ihm die Hand. »Und willst du mir eine Liebe erweisen, so vergiß nicht, was und mir gestern in die Hand gelobt hast! Willst du?«

Willy brachte kein Wort heraus; er nickte nur, umklammerte Tassilos Hand und sah ihm ratlos ins Gesicht.

»Hast du mich nötig, so schreib mir eine Zeile, und ich werde dich finden. Und sei gut mit Kitty! Ihr fehlt die Mutter. Der Vater hat wenig Zeit für sie. Sei du jetzt der Bruder, den sie braucht.«

Da erwachte Willy aus seiner Erstarrung. »Tas! Lieber Tas! Ich fasse das alles nicht. Ich bin wie mit einem Prügel vor die Stirn geschlagen. Sag' mir, ich bitte dich –«

Tassilo schüttelte den Kopf. »Laß uns kurzen Abschied halten! Und geh zum Vater! Dein Platz ist bei ihm. Und der Vater könnte es dich entgelten lassen, wenn er allzulange auf dich warten müßte.« Er schlang den Arm um Willys Hals, küßte den Bruder, riß sich los und eilte talwärts mit jagendem Schritt.


 << zurück weiter >>