Ludwig Ganghofer
Schloß Hubertus
Ludwig Ganghofer

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9

Mit sprachlosem Schreck hatte Fräulein von Kleesberg am Morgen die Nachricht von Kittys Verschwinden aufgenommen. Der Brief, der in Kittys Zimmer gefunden wurde, beschwichtigte ihre Sorge, brachte aber einen neuen Sturm von Erregung. Dabei liefert sie eine Konfusion um die andre. Beim Frühstück goß sie den Tee in die Zuckerdose statt in die Tasse, gebrauchte den wunden Arm und legte den gesunden in die seidene Schlinge. Dann ließ sie den Lehnstuhl an das offene Fenster rücken; hier saß sie und träumte vor sich hin. Immer von neuem las sie Kittys Brief. »Natürlich! Sie mußte nach München! Ob sie wollte oder nicht! Zu Tas? So? Wirklich? Nur zu Tas?«

Beim Gedanken an Graf Egge lief ihr freilich ein kaltes Gruseln über den Rücken. Aber Graf Egge saß vorerst noch weit da droben in seiner Jagdhütte. Und schließlich mußte Willy alle Schuld an diesem Streich auf sich nehmen; er hatte leichteres Spiel beim Vater und konnte sagen, daß er die Schwester zu dieser Reise beredet hätte. Nein, die nächste Sorge war nicht Graf Egge, sondern Robert! Sie grübelte sich eine Geschichte aus von einer Landpartie, die Kitty mit Willy unternommen hätte. Aber sie sollte keine Gelegenheit finden, diese Geschichte an den Mann zu bringen. Robert war früh am Morgen in den Sattel gestiegen und mit dem Stallburschen davongeritten. Als er gegen neun Uhr nach Hubertus zurückkehrte – da kam auch ein anderer in das väterliche Haus zurück, auf fremden Füßen.

Der Fischer hatte in der Seebachklamm den »Verunglückten« gefunden; auf seinen Armen brachte er den Toten in das Schloß getragen, umringt von einem Schwarm erregter Menschen. Unter ihnen befand sich auch der Pointner-Andres, den das Geschrei, das auf der Straße entstanden war, aus dem Zaunerhaus gerufen hatte. Mitleidig betrachtete er den Toten; aber sein junges Glück war so groß, daß in seinem überfüllten Herzen das Erbarmen keinen ausreichenden Platz mehr fand.

Als der wirre Menschenhauf in der Ulmenallee an dem Käfig vorüberkam, wurden die Adler scheu und tobten hinter dem Gitter. Der alte Moser, der den Vögeln das Futter bringen wollte, war von den Bewohnern des Schlosses der erste, der hören und sehen mußte, was geschehen war. Er ließ die blutige Schüssel fallen. »Jesus, Maria! So an Unglück! Aber gleich hab ich's gsagt, wie der Adler hin worden is: dös bedeut nix Guts!«

Man trug den Entseelten in seine Stube. Auf der Treppe fiel Gundi von Kleesberg beim Anblick des Toten ohnmächtig zu Boden. Als sie wieder zum Bewußtsein kam, lag sie in ihrem Bett, und vor ihr saß der Doktor. Sie war vom Schreck so betäubt, daß sie nur zur Hälfte verstand, was man ihr sagte. Robert wäre mit dem Fischer zu Berg gestiegen, um Graf Egge zu holen und ihn schonend auf das Unabänderliche vorzubereiten. Von Hilfe keine Rede mehr. Der Tod mußte schon vor Stunden eingetreten sein. Der Doktor schrieb die Katastrophe einer inneren Verblutung zu, da er an dem Körper des Verunglückten nur unbedeutende Schrammen und auf der Stirn einen blauen Fleck gefunden hatte, der als Überbleibsel einer harmlosen Beule zu erkennen war. Die äußerliche Ursache des unglücklichen Sturzes erschien nicht rätselhaft; es war bekanntgeworden, daß Graf Willy vergangenen Abend bis Mitternacht beim Seewirt schwer gekneipt hatte. Drei Flaschen Monopol – da war ein Fehltritt begreiflich.

In Jammer aufgelöst, wurde die Kleesberg auch noch gepeinigt durch den Gedanken an Kitty. »Willy begleitet mich, also mach dir keine Sorge!« So hatte die Komtesse geschrieben. Nun lag Willy da drüben, still und kalt. Was war aus Kitty geworden?

Fritz und Moser wurden ins Dorf geschickt, um Nachfrage bei jedem Bauern zu halten, der ein Fuhrwerk besaß. Gegen zwölf Uhr kam Fritz mit der Nachricht gelaufen, daß der Mooshofer das gnädige Fräulein zur Bahn gebracht hätte. Diese Entdeckung genügte nicht, um die Kleesberg zu beruhigen. Die Tränen rollten ihr über die ungeschminkten Wangen, während sie dem Diener ein Telegramm an Professor Werner diktierte. Dann unerträgliche Stunden eines angstvollen Wartens! Erst nach fünf Uhr kam die Antwort, die von Gundi Kleesberg bei allem Jammer, der sie erfüllte mit einem Freudenschrei empfangen wurde.

Wenige Minuten später traf, von Robert begleitet, Graf Egge in Schloß Hubertus ein. Wie sonst bei der Heimkehr hängte er im Flur die Büchse an das Zapfenbrett. Sein Gesicht war von kalkiger Blässe und schien gealtert. »Wo liegt er?«

»In seinem Zimmer.« Robert sprach mit gedämpfter Stimme. »Willst du dich nicht vorher umkleiden?«

Der Vater streifte ihn mit einem Blick, wie man etwas Fremdes, Unbehagliches betrachtet. Dann stieg er langsam über die Treppe hinauf; seine genagelten Bergschuhe klappten auf den roten Marmorstufen wie müde Hammerschläge. Vor Willys Zimmer blieb er stehen und stützte sich eine Weile an die Mauer. Dann öffnete er die Tür.

Das Zimmer war ausgeräumt, das Bett in die Mitte gerückt. Durch die beiden Fenster fiel das Abendlicht über die mit der Uniform bekleidete Gestalt und über das wächserne Gesicht des Toten. Die gefalteten Hände umschlossen ein kleines, elfenbeinernes Kruzifix und ein Sträußchen Edelweißblüten, die der alte Moser gespendet hatte. An den Kanten des Bettes brannten vier dicke Wachskerzen auf hohen, silbernen Leuchtern.

Ein röchelnder Laut. Wie von einem Keulenschlag getroffen, warf Graf Egge sich über den Leichnam. »Mein Bub!« Er schluchzte wie ein Kind.

Als er nach einer Weile das verzerrte Gesicht hob, um den Toten zu betrachten, sah er auf der wachsbleichen Stirn den bläulichen Fleck. Mit langsamer Hand, wie ein Träumender, griff er an die eigene Stirn und befühlte die Beule, die er sich beim Verlassen der Jagdhütte an der niederen Tür geholt hatte. Ein Zittern befiel ihn.

Da legte sich sanft eine Hand auf seine Schulter. »Papa –«

Jäh erhob sich Graf Egge, und in Zorn funkelten seine rot geränderten Augen, als sie an Robert auf und nieder glitten, der mit würdevoller Gefaßtheit vor dem Vater stand.

»Laß mich allein!« Graf Egges Stimme klang rauh und heiser. »Ich brauche niemand.«

»Wenn du befiehlst!« Robert verließ das Zimmer und hörte, daß innen an der Tür der Riegel vorgeschoben wurde.

Im Billardzimmer ließ Robert Papier und Schreibzeug in den Erker bringen, um die Todesanzeige aufzusetzen, die mit der letzten Post an die Druckerei nach München abgehen sollte. Während er schrieb, rannte Gundi Kleesberg in schwarzem Mantel und verschleiert aus dem Haus und durch die Ulmenallee zum Parktor; hier wartete sie, bis der Wagen nachkam, der sie zur Bahn bringen sollte.

Die Dämmerung sank und legte sich wie dunkler Flor um die Mauern von Hubertus und um alle Wipfel des Parkes.

Gegen neun Uhr kam der Wagen von der Bahn zurück; Fritz, der ihn kommen hörte, erschien mit einer Lampe auf der Veranda.

Kitty war so schwach, so zerschlagen an Herz und Gliedern, daß sie taumelte und im Flut auf einen Sessel fiel. Der Diener reichte ihr zwei Depeschen, die gekommen waren.

»Wo ist der Herr?»fragte Gundi Kleesberg scheu.

»Noch immer oben,« flüsterte Fritz, »die Tür ist noch immer versperrt. Auch der Herr Pfarrer mußte wieder fortgehen.

»Und Robert?«

»Graf Robert sind mit Hochwürden ins Dorf gegangen, um vor Postschluß die Depeschen aufzugeben.«

Gundi Kleesberg hatte den Mantel abgeworfen, trat zu Kitty und legte den Arm um ihre Schultern.

Kitty hob das bleiche, vergrämte Gesicht und reichte der Kleesberg ein Telegramm. »Von Tas. Er sorgt sich um mich und ahnt nicht, welche Antwort ich ihm schicken muß.«

Die Depesche war in Augsburg aufgegeben: »Erbitte Drahtantwort nah Stuttgart, ob Du wohlbehalten zu Hause eingetroffen. Tassilo. Hotel Marquardt.« Während Gundi Kleesberg las, machte ein schluchzender Laut sie aufblicken.

Kitty hielt die zweite Depesche an die Lippen gepreßt. Ein Strom von Tränen ging über ihre blassen Wangen. In verstörter Hast verbarg sie den Zettel an ihrer Brust und streckte die Arme ins Leere. »Ich will zu Papa!«

Droben fand sie die Tür verschlossen. Schluchzend warf sie sich gegen die Bretter.

In der Stube ein schwerer Tritt. Die Tür wurde geöffnet. Im Schatten der flackernden Kerzen stand Graf Egge auf der Schwelle. Um die wirr von den Schläfen abstehenden Haarbüschel und um die zerzausten Strähnen des Bartes irrte ein matter Kerzenschein. Rote Lichtlinien umsäumten die nackten Knie.

Aufschreiend warf sich Kitty an den Hals des Vaters. Er fragte nicht, weshalb sie so spät erst käme, und hatte keinen Blick für das weiße, festliche Kleid, das sie trug. Mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit umklammerte er die Tochter, daß sie stöhnte unter dem Druck seiner Arme. Er zog sie zum Bett. »Schau, kleine Geiß – mein guter Bub!« Er ließ sich auf den Bettrand sinken und zog die Tochter auf seinen Schoß. Graf Egge mit fahlem Gesicht und ohne Tränen unter strömendem Schluchzen, so saßen sie in wortlosem Schmerz. Das war ihr Wiedersehen nach fünf Monaten.

Robert trat in das Zimmer; er trug einen breiten Florstreifen um den Ärmel. Kitty streckte die Arme nach ihm. Peinlich betroffen faßte Robert die Schwester am Handgelenk: »Bist du von Sinnen? In diesem Kleid? Das mag für den Zweck deiner Reise gepaßt haben. Wie kannst du vor Papa in diesem Kleid erscheinen? Heut? Und hier?«

Kittys Tränen versiegten; an allen Gliedern zitternd, ließ sie den ratlosen Blick an sich hinuntergleiten.

Graf Egge hatte sich erhoben. »Was soll das?«

Robert schien verlegen zu werden. »Ich bin überzeugt, daß Kitty in bester Absicht handelte, nur unüberlegt. Aber es ist wohl besser, wir sprechen nicht davon. Nicht heute. Und nicht hier.«

Bleich richtete Kitty sich auf. »Du sollst nicht beschönigen, was ich getan habe.« Sie wandte sich an den Vager. »Vergib mir, Papa, wenn ich dir Kummer mache. Ich war heute in München. Bei Tas.«

Graf Egge schwieg; kein Zug bewegte sich in seinem Gesicht; nur seine Lippen preßten sich übereinander, daß sie weiß wurden.

Verstört sah Kitty zu ihm auf. »Ich wußte nicht, daß ich ein Unrecht an dir beging, aber ich konnte nicht anders. Wie an dir, so hängt mein Herz an ihm. Ich hätte sterben müssen, wenn ich ihn heut nicht hätte sehen sollen.«

Graf Egges Augen erweiterten sich. »Heut? Warum gerade heut?«

Wortlos bewegte Kitty die Hand. Ihre verzweifelten Augen irrten über das Totenbett und blieben am Vater hängen.

»Warum?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Heute nicht.«

Graf Egge schien verstanden zu haben. Unter dem Druck seiner Faust, die um die Kante des Bettes geklammert lag, knirschte das Holz.

»Papa!« schrie Kitty und taumelte auf den Vater zu.

Robert hielt sie zurück.»Hast du keinen Schimmer von Zartgefühl? Sieh den Vater doch an: was du ihm getan hast!«

»Du!« Ein keuchender Laut. »Laß mir die arme Geiß in Ruh!« Graf Egge legte den Arm um Kitty und wurde ruhiger. »Es war unrecht, was du getan hast, aber ich begreif' es!« Da sah er die Kleesberg unter der Tür stehen, zitternd, mit nassen Wangen. »Gundi! Bringen Sie die kleine Geiß ins Bett! Sie kann sich nimmer aufrecht halten.«

Hastig kam Gundi Kleesberg herbei, faßte Graf Egges Hand und machte einen Versuch, ihrem Kummer Ausdruck zu geben. Er schüttelte den Kopf und sagte rauh: »Lassen Sie das! Ich weiß, Sie sind ihm gut gewesen. Da braucht's keine Worte. Sorgen Sie sich lieber um die arme Geiß!«

Kitty klammerte die Arme um den als des Vaters und drückte das Gesicht an seine Brust. Ein paarmal strich er mit der Hand über ihr schimmerndes Haar, dann schob er sie der Gundi Kleesberg zu, die sie aus dem Zimmer führte.

Graf Egge wandte sich zu dem Toten. Während er das wächserne Gesicht betrachtete, nickte er langsam vor sich hin. »Du auf dem kalten Bett! Und der andere –« Stöhnen drückte er die Fäuste auf die Stirn und fiel aufs Knie. Mit gefalteten Händen, wie ein steifknochiger Bauer vor dem Gnadenbilde, sprach er ein lautes Gebet. Dann küßte er den Toten auf beide Wangen und auf den Mund. Als er sich erhob. sah er Robert zu Füßen des Bettes stehen, wie die Ehrenwache vor dem Paradebett eines Fürsten. »Ach so? Du bist auch noch einer! Der dritte?« Seine Hand fuhr in den Bart. »Was machst denn du heute nacht? In Hubertus wird keine Bank gelegt. Da wirst du wohl schlafen müssen.«

»Vater!« fuhr Robert auf. In der nächsten Sekunde hatte er seine Empörung schon überwunden. »Ich ehre deinen Schmerz um den Toten, auch wenn er dich ungerecht macht gegen die Lebenden.«

»So?« Graf Egge verließ das Zimmer. Auf der untersten Treppenstufe streifte er die Bergschuhe von den Füßen. »Wo ist Moser?« Der Jäger, der auf der finsteren Veranda saß, kam gelaufen, und Graf Egge sagte: »Geh ins Dorf! Der Pfarrer mit seinem Kaplan soll kommen. Ich will, daß sie droben wachen und für meinen Buben beten.« Mit nackten Füßen ging er über den Flur und öffnete die Tür der Kruckenstube. »Fritz! Meine Lampe!«

Es wurde still im Schloß Hubertus. Nur die Ankunft der beiden Geistlichen unterbrach für einige Minuten die dumpfe Ruhe. Fast alle Fenster blieben die ganze Nacht hindurch erleuchtet.

Im Zimmer der Kleesberg brannten zwei Lampen und vier Kerzen; sie konnte es nicht hell genug haben.

Sooft sie an Kittys Tür lauschte, hörte sie ein leises Wimmern; erst nach Mitternacht wurde es still da drinnen. Und nun machte sich die Gundi Kleesberg wieder Sorgen über dieses Schweigen. Leis öffnete sie die Tür.

Die beiden Kerzen, die das Zimmer erleuchteten, waren zu kleinen Stümpchen niedergebrannt und warfen eine unruhig flackernde Helle über das Bett. Schimmernd ringelte das gelöste Haar sich um das weiße Mädchengesicht, von dem der Schlaf den Ausdruck der Erschöpfung und des Kummers nicht ganz zu löschen vermochte. Ein mattes Zucken lief zuweilen über die schlanken Hände, die schwer auf der Seidendecke lagen.

Lautlos deckte Gundi Kleesberg die Messinghütchen über die Kerzen und schlich aus dem dunkel gewordenen Zimmer.

Die Nacht verging.

Als Fritz am Morgen in die Kruckenstube trat, fand er die Lampe ausgebrannt und das Bett unberührt. Graf Egge saß vor dem offenen Eisenschrank im Lehnstuhl und stellte die Ebenholzkästchen seiner Juwelensammlung, mit deren Musterung er sich einen Teil der Nacht vertrieben hatte, in die Fächer zurück. Seufzend schloß er den Schrank, zog den Schlüssel ab und preßte die Fäuste an seine Stirn.

»Gut, daß du kommst! Ich wollte dich eben rufen. Was muß denn eigentlich jetzt geschehen?«

»Erlaucht können ohne Sorgen sein. Graf Robert haben alles Nötige bereits angeordnet. Die Depeschen sind gestern noch abgegangen, und Graf Robert sind die halbe Nacht aufgewesen, um die Adressenliste für die Parte zu schreiben. Der Bursch ist früh um vier Uhr mit der Liste nach München gefahren und wird abends mitbringen, was Graf Robert bestellt haben. Das Leichenbegängnis wird morgen früh um neun Uhr stattfinden. Den Kondukt besorgt eine Münchner Gesellschaft, auch die Musik und ein Doppelquartett sind aus München verschrieben –«

»Hör' auf!« keuchte Graf Egge und verzog den Mund, als hätte er einen gallenbitteren Trunk getan. Durch das Zimmer schreitend, lachte er heiser vor sich hin. »Und diesen ganzen Pflanz hat Robert gemacht? So flink? Respekt! Er behält den Kopf oben, wo andere den Verstand verlieren möchten.« Mit den Fäusten hinter dem Rücken blieb er vor der Mauer stehen und starrte die dicht nebeneinanderhängenden Gemsgehörne an.

»Darf ich Erlaucht das Frühstück bringen?«

»Mir ist der Appetit vergangen.«

»Aber Erlaucht sollten doch andere Kleider –«

»Die schwarzen? Na, also! Bring sie!«

Eine halbe Stunde später stieg Graf Egge in altmodischem Gehrock, an dem die Ärmel zu kurz waren und die Nähte zu platzen drohten, über die Treppe hinauf. Er hörte Lärm und Hammerschläge.

Im Totenzimmer war ein Dutzend Menschen beschäftigt, um die Wände mit schwarzem Tuch auszuschlagen und das auf Stufen erhöhte Paradebett mit einer Mauer von Blumen zu umgeben. Der Zauner-Wastl hatte die Oberleitung und betätigte seine vielseitigen Talente. Scheuer Kummer sprach aus seinem übernächtigen Gesicht, und als er den Grafen gewahrte, sank ihm der Kopf noch tiefer zwischen die Schultern.

Graf Egge ließ schweigend den Blick durch das Zimmer und über die Menschen gleiten, zog die Hand durch den Bart und machte wieder kehrt.

Meister Zauner schlich ihm nach. »Ich bitt, Herr Graf, da hab ich was gfunden!« Er nahm einen winzigen, in Fetzen Zeitungspapier gewickelten Gegenstand aus der Westentasche.

Graf Egge nahm den Fund und ging davon. Als er in der Kruckenstube wieder im Lehnstuhl saß, wickelte er mit zitternden Händen das Papierchen auf. Es enthielt die beiden Hirschgranen. Das Wasser stieg ihm in die Augen, während er sie betrachtete. Stöhnend zog er die Börse hervor und verwahrte die Granen. Nun hatte sie wieder den alten Platz gefunden. Nach einer Weile hob Graf Egge das zerknüllte Papier vom Boden auf und untersuchte es noch einmal, ob es nicht auch noch etwas anderes enthielte. Dabei überhörte er ein leises Klopfen und blickte erst auf, als die Tür ging.

Schipper trat in die Stube, mit demütiger Trauermiene, und während er den Hut zwischen den Händen drehte, fing er zu klagen an: »Mar' und Josef, lieber Herr Graf, was sind denn jetzt da für Sachen passiert! Gestern hab ich mir gar net fürstellen können, was los is. Heut in der Fruh, da hab ich mir denkt: Jetzt mußt den abnormen Rehbock abitragen–«

Graf Egge war aufgesprungen. Seine Stirn brannte, als hätte er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Mit zuckenden Fäusten tat er einen Schritt gegen den Jäger und schrie: »Hinaus!«

»Aber Herr Graf!« stotterte Schipper verblüfft.

»Hinaus! Du bist schuld, daß ich geblieben bin! Wär' ich mit ihm hinuntergegangen, es wär' nicht geschehen. Ich wollte gehen. Du, du hast mich gehalten! Geh mir aus den Augen, oder ich vergreife mich an dir. Aasgräber! Mörder! Aus meinen Augen! Hinaus!«

Diesem Ausbruch sinnlosen Zornes gegenüber hielt es Schipper für ratsam, schleunig den Rückzug anzutreten. Als er die Veranda erreichte, setzte er den Hut auf und guckte über die Schulter. Dann suchte er die Zwirchkammer auf, wo seine Büchse und sein Bergstock in der Ecke standen. Der alte Moser, der auf den blutigen Steinfliesen kniete und dem Rehbock das abnorme Gehörn heruntersägte, schien an Schippers Gesicht zu merken, daß nicht alles im Geleise war. »Was hast denn?«

»In Ruh laß mich!« Wütend warf Schipper die Büchse hinter die Schulter und stapfte davon. Er machte einen Umweg um das Schloß und blies die Backen auf, als er die Straße erreichte.

In Meister Zauners Gärtl sah er das feine Lieserl mit dem Pointner-Andres umhergehen; das Mädel schnitt mit der Schere die letzten Blumen ab und legte sie in ein Körbchen, das ihr der Andres nachtrug. »Grüß dich Gott, Lieserl!« rief Schipper über den Zaun. »Machst an Kranz für d' Herrschaft?«

»Ja! Aber es schaut schon a bißl schlecht mit die Blumen aus.«

»Freilich, die schöne Zeit is vorbei!« Mit dieser philosophischen Bemerkung ging Schipper seiner Wege. Als ihn die Straße am Brucknerhaus vorüberführte, wurde sein Schritt langsamer. Er musterte die Fenster, kniff die Augen ein und lächelte. »Mir scheint, es halt nimmer lang mit'm Grafen und mir.« Er blickte über die Straße zurück gegen den Park von Hubertus. »Da muß ich ans Nestbauen denken!« Er rückte den Hut und trat in den Hof des Bruckner, dessen Bübchen vor dem Brunnen spielte. »He, du, Kleines, is d' Mali-Mahm daheim?«

»Na, sie is zum Seewirt um Blumen gangen für an Grabkranz. Aber der Vater is daheim.«

»So? Der Vater?« Lächelnd ging Schipper auf das Haus zu, guckte durch ein Fenster in die Stube und klopfte an die Scheibe.

Draußen auf der Straße ging die Horneggerin vorüber, die vom Krämer kam. Dunkel schoß ihr das Blut ins Gesicht, als sie den Jäger gewahrte. Was der Franzl dazu sagen würde? Daß der Schipper bei der Mali ans Fenster klopft!

Auf dem Ländeplatz begegnete ihr eine Magd des Seewirts mit einem riesigen Kranz aus Eibenzweigen und weißen Nelken.

Das war der erste Kranz, der sich in Hubertus einstellte. Fritz trug ihn in die Kruckenstube, aus der man Graf Egges erregte Stimme hörte; als der Diener eintrat, verstummte sie. Graf Egge stand neben dem Lehnstuhl, in welchem Kitty saß, schwarz gekleidet, die zitternden Hände im Schoß, mit verweinten Augen. Zwischen Vater und Tochter schien es ernste Worte gegeben zu haben. Graf Egge furchte beim Anblick des Kranzes die Brauen, Kitty erhob sich, betrachtete die Blumen in tiefer Bewegung und entfernte ein paar welk gewordene Blüten. »Wer hat ihn geschickt?«

»Der Seewirt, gnädiges Fräulein.«

»Sagen Sie, daß wir herzlich danken lassen.«

Fritz nickte und wandte sich an seinen Herrn. »Ich bitte, Erlaucht, was soll ich den Leuten geben, wenn sie Blumen bringen?«

»Geben? Ach so? Das wird als Geschäft betrachtet? Ich soll mich quälen lassen und dafür noch bezahlen? Gib zwanzig Pfennig!«

Matte Röte huschte über Kittys Wangen, während sie stammelte: »Aber Papa –«

»Also dreißig! Das ist mehr als genug.« Er winkte mit dem Kopf gegen das Billardzimmer. »Der da drüben, der das Trauerroß auf meine Kosten spielt, steigt mir mit dem Oktoberfestrummel, den er für morgen inszeniert hat, ohnedies bis über die Knie in den Geldbeutel. Jetzt weiter mit dem Gras! Und bring' mit von dem Zeug nichts mehr in die Stube.«

Kitty flüsterte dem Diener ein paar Worte zu, und als sie mit dem Vater allein war, ging sie müde zum Lehnstuhl zurück.

Schweigend, unter wühlender Erregung wanderte Graf Egge im Zimmer auf und ab; dann blieb er vor Kitty stehen. »Kein Wort mehr davon! Daß du ihm die Depesche schicktest, war in Ordnung. Der da drüben hat mein Unglück auch unsrem Schuster und Schneider angezeigt. Aber es war unrecht von dir, daß du meinen Schmerz um den einen zugunsten des anderen benutzen wolltest. Ich habe dich lieb. Aber da wirst auch du nichts ändern. Er selbst hat sich gelöst von mir, so mag er seiner Wege gehen. Ich weiß, es ist hart für dich, mit ihm zu brechen. Aber ich bin dein Vater, und mein Recht an dir ist das ältere. Und ich brauche dich. Zärtlichkeit ist nie meine Sache gewesen. Aber Vater bleibt Vater. Und ich bin arm geworden. Der eine hat mich verlassen. Den andern hat mir Gott und meine Schuld genommen. Und der da drüben zählt nicht. Meine Jagd und du, das ist der Rest. Meine Jagd will ich festhalten, solang ich noch gesunde Fäuste und sehende Augen habe.« Er legte die Hände auf Kittys Schultern. »Und du? Gelt, kleine Geiß, du hängst an mir?«

In Trauer sah Kitty zum Vater auf.

Ungeduldig rüttelte Graf Egge ihre Schultern. »Sei nicht so stumm! Ich brauche Trost! Sag es mir, kleine Geiß, daß ich dir mehr bin als er! Ich will es hören. So rede doch!« Ein heiserer Laut. Rede, wenn ich nicht glauben soll, daß du ihm zuliebe gegen deinen Vater stehen könntest! Oder willst du verteidigen, was er getan? Wärst du fähig, dir ein Beispiel an ihm zu nehmen und mir den Rücken zu kehren wie er? Und mich noch einsamer zu machen? – Geiß?« Sein Atem ging schwer. »Hörst du nicht? Oder muß ich dich bitten um ein Wort? Dein Vater?«

Kitty erhob sich, das Gesicht entstellt von dem schmerzvollen Kampf ihres Herzens. Sie fühlte, daß es sich in diesem Augenblick für sie noch um anderes handelte als um eine Äußerung kindlicher Liebe, die der Vater von ihr zu hören verlangte. Seine Frage war gestellt, als hätte er unbewußt einen Blick in ihre Seele getan und hätte erraten, was in ihr lebendig geworden war und nach seinem Recht begehrte. Wollte sie nicht untreu werden an sich selbst, ihre Treue für den Bruder nicht verleugnen und den Weg nicht sperren, auf dem ihre Sehnsucht dem eigenen Glück entgegenflog, so durfte sie nicht lügen. Sie mußte offen sprechen und den unvermeidlichen Kampf mit dem Vater schon in dieser Stunde beginnen.

Bleich, aber entschlossen richtete sie sich auf. Doch als sie die Augen hob und diese von Gram durchwühlten Züge sah, diese von der schlaflosen Kummernacht entzündeten Lider und den angstvollen Blick, der nach einem Wort ihrer Liebe dürstete – da erstickte das Erbarmen jedes andere Gefühl in ihr. Sie streckte die Arme, und unter heißem Schluchzen warf sie sich an die Brust des Vaters und umklammerte seinen Hals.

Graf Egge wurde weich; er brachte es fast zu einem Lächeln, während er Kitty umschlungen hielt und ihr Haar streichelte. »Ich danke dir, Geißlein! Du hängst noch an mir, und ich will's vergelten! Vielleicht hab' ich auch an dir ein Versäumnis begangen. Ich will's gutmachen, will dir ein rechter Vater sein. Du sollst mich nimmer verlassen. Gib acht, wie schön das sein wird. Im Winter sollst du mit mir reisen, und im Frühjahr laß ich für uns beide in meinem besten Revier eine neue Hütte bauen, mit einem netten Stübchen für dich, mit jeder Bequemlichkeit, die du haben willst. Und in der Hütte soll eigens für dich gekocht werden. Und schießen sollst du lernen und sollst ein Jäger werden, vor dem ich selber den Hut abziehe. Das wird dir Freude machen, gelt? Und dann wirst du munter und glücklich sein! Und lachen, immer lachen! Damit ich den armen, lieben Jungen leichter verschmerze, der jetzt da droben liegt und kein Lachen mehr hat für seinen Vater.« Zwei Zähren rollten ihm über den Schnurrbart, und fester schlangen sich seine Arme um die Tochter. Da fühlte er, sie ihr Körper zitterte. »Aber Geißlein? Was hast du?« Er faßte sie am Kinn und hob ihr Gesicht. Aus diesem trostlosen Blick redete alles andere zu ihm, nur nicht die Wirkung, die er sich von seinen zärtlichen Verheißungen versprochen hatte. Seine Brauen furchten sich, ein unruhiges Spiel erwachte in den Falten, die seine Augen umringten. »An was denkst du? Hast du nicht gehört, was ich sagte? Macht es dir keine Freude, wie ich mich sorge für dich?«

»Gewiß, Papa!« erwiderte sie tonlos. »Ich werde alles tun, was du willst.«

»So?« Das klang hart und trocken. »Du scheinst müde zu sein? Setz' dich!« Mit energischem Griff drehte Graf Egge den Lehnstuhl. Wortlos blieb er eine Weile vor Kitty stehen und betrachtete sie in wachsendem Mißtrauen. Nervös die Finger bewegend, wandte er sich ab und wanderte ein paarmal durch die Stube. Plötzlich nahm er eines der schönsten Gemsgehörne von der Wand, legte den Arm um Kittys Schultern und hielt ihr die Krucke vor die Augen. »Schau, kleine Geiß! Den Bock hab' ich auf vierhundert Gänge um Feuer niedergelegt. Es war mein bester Schuß. Und die Kruck' ist schön, gelt?«

»Ja, Papa, sehr schön!«

Die müde Antwort gefiel ihm nicht. Er trug das Gehörn auf seinen Platz zurück und nahm in kochender Unruhe die Wanderung durch das Zimmer wieder auf. Dann plötzlich faßte er den Knauf des Lehnstuhls, und in Zorn brach es aus ihm heraus: »Zeig' mir ein anderes Gesicht! Ich seh' dir's an, daß du mehr an ihn denkst als an mich und den armen Kerl da droben! Aber du hast mir doch gesagt, daß er sein Glück gefunden hat. Auch ohne mich. Also gut! So tröste dich damit, daß er glücklich ist. Er hat, was er wollte.«

Wie ein Krampf ging es über Kittys Schultern und Arme; ihre Lippen fanden keinen Laut.

Keuchend preßte Graf Egge die Fäuste auf seine Brust; er ging zum Fenster und wischte über die Scheibe, als wäre sie mit Tau beschlagen; eine Weile stand er vor dem Bett und strich die Decke glatt; dann packte er wütend einen der in Reih' und Glied stehenden Bergschuhe, musterte das Beschläg, blies den Staub vom Leder und roch an dem Schuh. »Natürlich! Den hat man wieder nicht geschmiert, Gott weiß wie lang! Ein Lumpenpack! Und das bezahlt man.« Er schleuderte den Schuh in einen Winkel und warf sich auf das Bett; nach ein paar lautlosen Minuten sprang er wieder auf. »Reden kannst du nicht. Und diese Stumme Mette riegelt mir das Blut durcheinander. So laß mich lieber allein und geh zur Kleesberg!«

Schweigend erhob sich Kitty.

»Geiß?«

Sie wandte das Gesicht.

Graf Egge trat auf den eisernen Schrank zu. »Komm! Du sollst was haben!« Er hatte schon den Schrank geöffnet, als Kitty wie eine Verzweifelte auf ihn zugeflogen kam und seinen Arm umklammerte. Sprechen konnte sie nicht; sie starrte nur angstvoll in sein Gesicht und schüttelte den Kopf.

Er sah sie mit großen Augen an, zuerst verblüfft und dann beleidigt. »Ach so? Du willst nichts? Auch gut!« Mit heiserem Lachen zog er den Schlüssel ab und schob ihn in die Tasche. »So geh!«

Sie verließ das Zimmer und schleppte sich die Treppe hinauf. Als sie ihr Stübchen erreichte, vergrub sie das Gesicht in den Armen und brach in Schluchzen aus.

Die Kleesberg kam aus dem anstoßenden Zimmer. Sie nahm die Schluchzende in die Arme, stammelte, weinte und suchte zu trösten. Eine Weile ließ Kitty diese konfuse Zärtlichkeit, die ihr wohl tat, über sich ergehen; dann trocknete sie die Augen. Aus der Kommode holte sie eine gehäkelte Börse, durch deren Seidenmaschen die Goldstücke glänzten, und stieg in den Flur hinunter.

»Hier ist Geld, Fritz, geben Sie reichlich! Papa soll es nicht wissen. Und wenn Depeschen für mich gebracht werden –« Die Stimme versagte ihr. »Nicht wahr, Fritz, ich bekomme sie gleich?«

An der Kruckenstube wurde die Tür aufgerissen, und Graf Egge erschien auf der Schwelle. Wortlos stand er und wartete, bis Kitty auf der Treppe verschwand; dann winkte er den Diener zu sich. »Was wollte sie?«

»Die gnädige Konteß haben gefragt, ob nicht Depeschen für sie gekommen wären«, stotterte Fritz, die Hand mit der Börse hinter dem Rücken.

»Wenn Depeschen kommen, werden sie mir gebracht! Alle! Gleichviel, welche Adresse sie haben.« Er trat in das Zimmer zurück und schlug die Tür zu.

Einige Stunden später erhielt er die Meldung, daß »droben« alles in Ordnung wäre.

»So? Jetzt soll ich ihn wiederhaben dürfen? Sehr gnädig von euch!«

Er stieg die Treppe hinauf. Schon nach wenigen Minuten kehrte er wieder zurück, steinerne Härte im fahlen Gesicht. Was er gefunden, diese stilvolle Trauerbude, dieser aufgeputzte Tod, dieses Treibhaus mit dem Gewirr der schwül duftenden Blumen – das hatte ihn fremd berührt und seinen Schmerz ernüchtert.

Beim Eintritt in die Kruckenstube sah Graf Egge auf dem Lehnstuhl das abnorme Gehörn des Rehbocks liegen. Der alte Moser hatte gehofft, seinem Herrn mit dem Anblick dieser Trophäe einen Trost zu bringen; er hatte sich aber verrechnet. In aufwallendem Zorn faßte Graf Egge das Geweih, zerbrach mit einem Druck seiner Faust die Hirnschale und schleuderte die Stücke unter das Bett.

Der Tag verging, und die Telegramme und Kränze kamen in ununterbrochener Folge. Gegen Abend kehrte Roberts Bursche aus München zurück mit einem Berg von Schachteln und Paketen. Er brachte auch einen kleinen Lederkoffer und dazu einen Strauß weißer Rosen.

Wieder einmal trug Fritz ein Dutzend Depeschen in die Kruckenstube. Graf Egge überflog die Adressen und gab die Telegramme, die an ihn selbst gerichtet waren, dem Diener zurück. »Für Robert!« Drei Depeschen behielt er und las die erste. »Professor Werner?« Er schüttelte den Kopf und öffnete die zweite. »Hans Forbeck?« Ohne sich weiter um den Inhalt der beiden Blätter zu kümmern, reichte er sie dem Diener. »Für meine Tochter!« Als er die letzte Depesche geöffnet hielt, befiel ein Zittern seine Hände. Mit heftiger Geste winkte er dem Diener zu gehen. Nun las er. Wie von einer Schwäche befallen, ließ er sich in den Lehnstuhl sinken. »Er hat ihn liebgehabt!« Ungestüm die weiche Regung von sich abschüttelnd, die ihn wider Willen erfaßt hatte, sprang er auf. »Wir sind zu Ende miteinander, er und ich!« Mit zuckenden Händen zerriß er die Depesche, warf die zu einem Knäuel geballten Fetzen in einen Winkel und öffnete die Tür.

»Robert!« Laut hallte der Ruf im Flur.

»Ja, Papa!« klang aus dem Billardzimmer die Antwort.

Graf Egge ging der Stimme nach; als er die Schwelle betrat, fuhr ihm das Blut ins Gesicht. Der Raum war anzusehen wie die Verkaufshalle eines Bestattungsgeschäftes. Offene Schachteln, ein Wust von Packleinen und Seidenpapier, Wachsfackeln, ein Bahrtuch mit gesticktem Wappen und langen Silberfransen, kunstvoll gebundene Kränze mit langen Atlasschleifen, ein Samtkissen mit Helm und Degen, Halbbuketts aus Palmzweigen und seltenen Blumen – alles kunterbunt durcheinander, aus der Erde, auf dem Billard, auf den Stühlen.

Robert legte die Zigarette weg und trat auf den Vater zu. »Verzeih', Papa, das ist ein peinlicher Anblick für dich. Aber wir müssen unserem Rang und Namen Rechnung tragen, und ich habe diese schmerzlichen Pflichten mir aufgeladen, um dich damit zu verschonen.«

Graf Egge schien nicht darauf zu hören; von einer mit Gold bedruckten Kranzschleife leuchtete ihm ein Wort entgegen, das ihn näher zog. Er faßte das Doppelband und las: »Dem heißgeliebten, unvergeßlichen Sohn – von seinem tiefgebeugten Vater.« Er ließ die Schleife fallen. »Moser!« rief er in Zorn dem alten Jäger zu, der eben eine neue Schachtel öffnete. »Weg mit dem Schwindel und ins Feuer damit.«

»Aber Papa!« stammelte Robert.

Ein kalter Blick des Vaters. »Äußere du deinen Schmerz, wie dir beliebt. Was meine Trauer zu sagen hat, das bitt' ich mir zu überlassen!« Graf Egge ging zur Tür und kehrte auf der Schwelle wieder um. »Herr Doktor Egge hat sich für morgen mit dem Frühzug angemeldet. Dieser Besuch ist überflüssig. Du wirst ihn vor dem Parktor erwarten und ihm bedeuten, daß ich mir die zwecklose Unbehaglichkeit einer solchen Begegnung morgen erspart wissen möchte. Die Form überlaß ich dir!« Es zuckte wie Hohn um Graf Egges Mund. »Daß du diese Mission mit promptem Erfolg erledigen wirst, daran zweifle ich nicht!« Ohne Roberts Antwort abzuwarten, verließ er das Zimmer, kehrte in die Kruckenstube zurück und stieß den Riegel vor.


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