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Graf Tassilo war am Morgen nicht zum Frühstück erschienen.
Als Kitty nach ihm fragte, hieß es, ihr Bruder wäre zeitig ins Dorf gegangen und noch nicht zurückgekehrt. So blieb die Kleesberg ihre einzige Gesellschaft, eine sehr stille. Tante Gundis Augen hatten übernächtigen Glanz, und bei der gemessenen Würde, mit der sie den Schinken schnitt und in das krachende Butterbrötchen biß, tat sie zuweilen einen Atemzug, der wie ein Seufzer klang.
Nur langsam belebte sich das Gespräch. Dabei wurde das Abenteuer beim Wetterbach mit keiner Silbe mehr erwähnt, als wäre in ihnen beiden jede Erinnerung bereits erloschen. Nach dem Frühstück brachte Kitty einen Spaziergang in Vorschlag.
Tante Gundi war einverstanden. »Wohin?«
Kitty überlegte. »Die Hauptsache ist ein guter ebener Weg, damit du dich nicht ermüdest. Ich meine ins Dorf? Da siehst du doch auch ein bißchen Menschen. Das wird dich zerstreuen.«
Gundi Kleesberg schien aus diesen Worten etwas herauszuhören, was ihr mißfiel. Sie legte würdevoll das Haupt zurück und erklärte: »Nein! Wir gehen nach der Waldschwaige.«
»Wie du willst! Auch kein übler Weg!«
Zur Waldschwaige, einer zu Schloß Hubertus gehörigen Meierei, führte aus einem Winkel des Parkes ein für den Verkehr der Sommergäste gesperrter Waldpfad. Graf Egge war den Touristen nicht gewogen; sie liefen ihm in Wald und Berg häufig zur Unzeit in die Quere; die harmlose Freude, die sie am Singen und Jodeln fanden, und ihre Vorliebe, auf steilen Gehängen Steine zu lösen, rührten in ihm die Galle des Jägers auf; er machte sie für manchen mißglückten Pirschgang verantwortlich, ließ im kahlen Gestein der höheren Berge die roten Merkzeichen der Touristensteige von den Felsen abkratzen und sperrte im Walde jeden Pfad, an dem er Eigentumsrecht besaß, mit der Inschrift: Verbotener Privatweg, herrenlos umherlaufende Hunde werden erschossen.
So durfte Tante Gundi sicher sein, auf dem Weg zur Waldschwaige keinem Menschen zu begegnen als höchstens einem Holzarbeiter oder einem Knecht der Meierei.
Es war ein stiller Spaziergang. Die Kleesberg schwieg beharrlich; sie schien mit ihren Gedanken beschäftigt und hatte keinen Blick für die Morgenschönheit des Waldes. Kitty wurde der krampfhaften Anstrengungen, ein Gespräch in Gang zu bringen, schließlich müde und begann Unterhaltung für sich allein zu suchen. Sie wanderte bald zur Rechten, bald zur Linken in den von Lichtern durchzitterten Wald hinein und pflückte, was sie an Blumen fand. Dabei summte sie mit halblauter Stimme ein Liedchen, und manchmal stand sie still, mit beiden Armen den Wirrwarr der gepflückten Blumen umschlingend, tief atmend, die Wangen glühend, mit träumendem Lächeln.
Es war ein prächtiger, von zierlichen Grasrispen umschlossener Strauß, den sie nach Hubertus brachte, als sie mit Tante Gundi gegen zwölf Uhr in das Schloß zurückkehrte. Während die Kleesberg in der Veranda Atem schöpfte, eilte Kitty in das Speisezimmer, um den Tisch mit ihren Blumen zu schmücken. Da sah sie auf der Tafel vier Gedecke aufgelegt. Ein Gast in Schloß Hubertus? Kitty flog zur Treppe und traf mit der Kleesberg zusammen. »Tante Gundi? Wir haben einen Gast?«
»Einen Gast? Wen?«
»Ich weiß nicht!« Mit wehenden Fahnen ging's über die Treppe hinauf in Tassilos Zimmer. »Aber Tas, wer kommt denn heute?«
Tassilo erhob sich vom Schreibtisch. »Einer meiner Freunde: Maler Forbeck.«
Kitty starrte den Bruder an, so verblüfft, als hätte er die Ankunft eines chinesischen Würdenträgers verkündet. Und während zarte Röte ihr Gesichtchen überhuschte, stammelte sie: »Merkwürdig! Du bist mit ihm befreundet? Wann und wo hast du ihn denn kennengelernt?«
»Im vergangenen Winter, bei Professor Werner.«
»Werner? Professor Werner? Das ist doch wohl der berühmte Maler, für den die Gundi so riesig schwärmt! Und – der andere? Der ist wohl auch schon sehr berühmt?«
»Jedenfalls auf dem besten Weg, es zu werden. Aber du kennst ja Herrn Forbeck?« Gundi Kleesberg erschien auf der Schwelle und horchte beim Klang dieses Namens betroffen auf. »Du hattest ja gestern abend mit ihm so etwas wie ein kleines Abenteuer?«
Kitty machte große Augen. »Das weißt du auch schon?«
»Natürlich!« Tassilo zupfte sie am Ohrläppchen. »Du merkwürdiger Spatz, warum hast du mir denn das verschwiegen?«
»Ich habe das gar nicht für so wichtig gehalten.« Sie begegnete dem Blick des Bruders und geriet ein wenig aus der Fassung. »Aber ich vergesse ganz –« Damit wollte sie die Flucht ergreifen.
»Wohin?«
»Aber Tas! Sieh mich doch an! Ich kann doch nicht so bei Tisch –« Nun gewahrte sie die Kleesberg, die mit verstörtem Sorgenantlitz bei der Tür stand. »Hast du schon gehört, Tante Gundi? Das ist doch komisch! Jetzt speist er heute bei uns!« Lachend flog sie aus der Stube.
Da löste sich bei der Kleesberg die Erstarrung. Sie rauschte zum Schreibtisch. »Tassilo! Was machen Sie denn nur? Diesen Menschen bringen Sie uns auch noch ins Haus!«
Tassilo trat verwundert zurück.
»Haben Sie denn nicht gehört? Gestern hatte sie mit ihm ein Abenteuer! Gerettet hat er sie! Gerettet! Wissen Sie denn nicht, was das heißt für ein junges Mädchen? Ihr Retter! Und zu allem Unglück auch noch ein Künstler! Wenn Sie nicht wissen, was das bedeutet, ich weiß es!« Gundi Kleesberg rang die Hände, und es fehlte nicht viel, so wäre sie in Tränen ausgebrochen.
Nun verstand Tassilo. »Ach so?« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Sie machen sich überflüssige Sorgen. Es wäre übel bestellt um Erziehung und Charakter meiner Schwester, wenn jede Begegnung mit einem jungen Mann für sie eine Gefahr bedeuten würde. Beruhigen Sie sich –«
»Nein! Ich beruhige mich nicht. Sie ist schon Feuer und Flamme für sein Genie. Das ist immer der Anfang. Ich kenne das. Und daß sie schon zu verschweigen anfängt, haben Sie wohl nicht bemerkt? Und daran denken Sie wohl gar nicht: daß dieses verwünschte Abenteuer bei der Klause spielte. Was bei dieser Klause anfängt, muß ein Unglück werden.«
»Fräulein von Kleesberg!« Aus Tassilos Gesicht war alle Farbe gewichen.
»Ich kenne meine Pflicht. Ich will nicht verantwortlich sein, wenn das Haus, in das Sie heute das Feuer tragen, lichterloh zu brennen beginnt. Gott bewahre das arme Kind vor solchem Unglück!« Nun kamen ihr die Tränen. »Ein kurzer Traum, ein paar Tage Glück und Jubel und dann dieses Namenlose, dieses ganze zerstörte Leben!«
»Aber Tante Gundi!« Freundlich legte Tassilo die Hand auf ihren Arm. »Sie waren gestern leidend und haben sich noch immer nicht erholt. Es ist doch keine Ursache vorhanden, von solchen Ungeheuerlichkeiten zu sprechen. Was Herr Forbeck von meiner Schwester will –«
»Er will? Was will er?« Die Kleesberg ließ das Batisttuch sinken, mit dem sie die Augen getrocknet hatte.
»Malen will er sie, als Hauptfigur in einem großen Bild.«
»Malen!« stammelte Gundi, als hätte sie verstanden: ermorden. »Malen? Das wäre das Wahre! Das kenn' ich!«
»Gut also! Ich war vielleicht ein wenig unvorsichtig, als ich Forbeck in dieser Sache meine Hilfe zusagte. Aber er war so begeistert für seine Idee, so glücklich –«
»Glücklich? Natürlich! Unglücklich soll er auch schon sein! Das kommt noch früh genug.«
Tassilo suchte dieser Hartnäckigkeit gegenüber ratlos nach Worten. »Sie haben da doch auch ein wichtiges Wort mitzusprechen. Wenn Forbeck seinen Wunsch äußert, können Sie eine unverfängliche Ausflucht gebrauchen –«
»Gott sei Dank! Wenn es dabei nur auf mich ankommt, dann ist die Sache schon erledigt. Malen! Eh ich das erlaube, eher sterb' ich!«
Die Tür wurde geöffnet, und Fritz brachte eine Karte.
»Hans Forbeck!« las Tassilo. »Ich lasse bitten.«
Die Kleesberg wollte sich fluchtartig entfernen. Tassilo hielt sie zurück. »Tante Gundi! Machen Sie keine Torheiten! Das sieht schon bald so aus, als hätten Sie Angst, daß Sie sich in ihn verlieben könnten.«
»Solche Scherze möcht' ich mir verbitten!« erklärte die Kleesberg; aber ihre Hilflosigkeit schien größer zu sein als ihre Entrüstung.
Forbeck erschien, das weiße Hütchen in der Hand, in hellgrauem Beinkleid und schwarzem Sakko. Er verbeugte sich etwas hölzern vor Fräulein Kleesberg, die nach Würde rang, und ging auf den Grafen zu. Als Tassilo in diese klaren Augen blickte, auf diese redliche Stirn, löste sich in ihm auch der leise Keim von Sorge wieder, den Tante Gundis sonderbare Ahnungen geweckt hatten. Herzlich faßte er die Hand des jungen Künstlers. »Grüß' Gott, lieber Forbeck! Erlauben Sie, daß ich Sie bekannt mache: Hans Forbeck – Fräulein von Kleesberg, die mütterliche Freundin meiner Schwester.«
Forbeck verbeugte sich. »Ich glaube, ich hatte bereits gestern das Vergnügen, allerdings so flüchtig –« Er stockte.
Nun mußte Tante Gundi sprechen, und es gelang ihr. »Sehr flüchtig, allerdings! Ich war in so großer Sorge um das Kind, wir wurden vom Unwetter überrascht, das Kind ist sosehr disponiert für Erkältungen, und ich hoffe, Sie haben es nicht als Unhöflichkeit ausgelegt – ich mußte das Kind so rasch wie möglich nach Hause bringen.«
»Aber bitte, gnädiges Fräulein! Ihre Befürchtung hat sich hoffentlich nicht bestätigt?«
»Nein, Gott sei Dank! Und da ist es mir angenehm, daß ich so rasch Gelegenheit finde, Ihnen für den Ritterdienst zu danken.«
Sie bot ihm die Hand, und als er sie erfaßte, begann sie wieder zu zittern und hing mit verlorenem Blick an seinen Zügen. Dieser Blick befremdete ihn, und Tassilo fragte erschrocken: »Tante Gundi?« Fräulein von Kleesberg schien einer Ohnmacht nahe, und Forbeck stammelte: »Gnädiges Fräulein, ist Ihnen nicht wohl?«
»Doch, doch, es ist nur – ich habe gestern –«
»Für Fräulein von Kleesberg ist das Abenteuer nicht so glücklich ausgefallen wie für meine Schwester,« fiel Tassilo ein, »die Folge war eine Unpäßlichkeit, die noch immer nicht ganz behoben ist.«
In Forbeck regte sich ehrliche Sorge. »Ach, das bedaure ich aber!«
»O bitte, ich selbst habe kein Erbarmen mit mir, meine Migräne, das ist immer ein dreitägiger Kampf mit dem Drachen!« versuchte Tante Gundi zu scherzen. »Aber nun bitt' ich zu entschuldigen, ich habe so spät erfahren, und die Pflicht der Hausfrau –« Ein verstörtes Lächeln, und sie rauschte zur Tür.
Im Flur drückte sie die Hände an die Schläfen, als stünde sie vor einem unlösbaren Rätsel. Wie eine Schlafwandlerin suchte sie ihr Zimmer und wollte die Tür öffnen, die in Kittys Stübchen führte; sie war versperrt. »Ja, Tantchen, nur einen Augenblick, gleich bin ich fertig!« Fräulein von Kleesberg ließ sich vor dem Spiegel nieder, um die Spuren zu verdecken, die ihre Tränen durch das blühende Wangenrot gezogen hatten.
Kitty erschien auf der Schwelle, frisch wie ein Frühlingsmorgen, in einem weißen Tenniskleid, das sie zum erstenmal trug, eine Rose an der Brust. Heiter klatschte sie die Hände zusammen: »Ach, sieh nur Tantchen, du machst dich ja auch schön!« Die Kleesberg murrte ein paar unverständliche Worte, während Kitty hinter ihren Sessel trat. »Ist er schon da?« fragte sie, obwohl sie im Flur seinen Schritt gehört hatte, seine Stimme.
»Natürlich! Solche Leute fürchten immer die Suppe zu versäumen.« Gundi Kleesberg tauchte mit dem Anschein größter Seelenruhe die Quaste in die Puderbüchse. »Ich hab' ihm auch in deinem Namen ein paar freundliche Worte für den kleinen Dienst gesagt, den er dir gestern geleistet hat. Die Sache ist erledigt. Sei immerhin artig und höflich gegen ihn. Man muß solche Leute nicht gleich bei der ersten Gelegenheit die unausfüllbare Kluft empfinden lassen, die zwischen uns und ihnen liegt.«
»Ich werde gegen ihn so artig als möglich sein, schon dir zuliebe.«
»Mir zuliebe?«
»Tas hat mir gesagt, daß er der Lieblingsschüler jenes Professors wäre, weißt du, jenes berühmten Mannes, für den du so riesig schwärmst.«
»Werner?« Gundi Kleesberg, aus deren Hand die Puderquaste gefallen war, wandte das Gesicht mit weit geöffneten Augen.
»Das freut dich?« fragte Kitty, während sie lauschend zur Tür blickte.
Draußen gingen Schritte vorüber, und man hörte die Stimme Tassilos, der seinen Gast auf die merkwürdigsten der Geweihe aufmerksam machte, von denen die Flurwände starrten. Drunten im reich geschmückten Vorhaus nannte Tassilo die Heimat der exotischen Trophäen, an die sich manch ein waghalsiges, um Gesundheit und Leben spielendes Abenteuer seines Vaters knüpfte.
»Diese tausend Trophäen hat Ihr Vater selbst erbeutet?« fragte Forbeck erstaunt. »Wie ist das möglich? Ihr Vater ist wohl nicht mehr jung, aber auch ein hundertjähriges Leben kann doch neben Beruf und Arbeit nicht so viel Muße bieten –«
»Muße? Mein Vater kennt keine Muße in seinem Beruf. Seine Arbeit, sein einziger Lebensberuf ist eben die Jagd. Er ist sechzig Jahre, mit fünfzehn Jahren hat er angefangen. Da läßt sich was leisten.«
Forbeck blickte auf, vom herben Klang dieser Worte betroffen. »Sie sind kein Jäger?«
»Nein! Ich hatte wohl Freude an der Jagd, aber ich hab' sie mir abgewöhnt. Es ist nicht überall Sitte, so zu jagen, wie es mir Vergnügen macht. Anders behagt es mir nicht. Wer nicht ein Handwerker der Jagd ist, wie der diensttuende Jäger, der sollte an der Jagd doch besseren Wert entdecken als den Nervenreiz, den der Kampf zwischen menschlicher List und tierischer Schlauheit gewährt. Für meinen Geschmack liegt der edelste Reiz der Jagd in der innigen Berührung mit der Natur, die sich auf einsamen Gängen vor uns öffnet wie ein mystisches Buch. Da liest man Wunder über Wunder. Dieser Größe gegenüber lernt man erst sein eigenes Menschenmaß richtig einschätzen. Man fühlt sich immer kleiner und kleiner. Diese Erkenntnis hat nichts Bedrückendes, nichts Demütigendes. Im Gegenteil, man kommt zu Klarheit und Ruhe, wird allen spekulativen Unsinn los und verwandelt sich selbst in ein Stücklein gesunder Natur. Man sagt sich: So klein bist du, aber den Raum, den die Natur deinem Persönchen zugewiesen, mußt du ausfüllen, also nütze dein Leben und freue dich seiner!« Die Falte auf Tassilos Stirn war verschwunden. Er nahm den Arm seines Gastes; nach wenigen Schritten blieb er vor einer Tür stehen. »Das muß ich Ihnen zeigen: das Allerheiligste meines Vaters.«
Forbeck erwartete irgendein weidmännisches Märchen zu sehen und machte verblüffte Augen, als er über die Schwelle trat. Eine kleine, weiß getünchte Stube mit gescheuerten Dielen, das Fenster ohne Vorhänge. Die ganze Einrichtung bestand aus einem eisernen, mit grauen Loden bedeckten Bett, einem alten, mit schwarz gewordenem Leder bezogenen Lehnstuhl und einer großen, eisernen Kasse. An den Wänden hingen, dicht bei der Decke beginnend, gegen tausend Gemsgehörne, eines neben dem anderen, Reihe unter Reihe, so daß von den weißen Wänden kaum noch ein tischhoher Streif über den Dielen frei war. Rings um den Fuß der Wände standen Bergschuhe nebeneinander, mehr als hundert Paar, von feinem Staub überschleiert. Der Geruch des gefetteten Leders lag schwer in der Stube.
»Wenn mein Vater die Jagdhütte verläßt, um in Schloß Hubertus ein paar Tage auszuruhen, dann wohnt er in dieser Stube. Sie umschließt, was ihm am meisten Freude macht. Auf diese Schuhe ist er stolz, er selbst hat die Art ihres Eisenbeschlags erfunden, für jede Bergformation eine andere Gattung. Wir haben einen Schuster im Dorf, der fast ausschließlich für meinen Vater arbeitet und dabei eine große Familie ernährt – die Sache hat also auch ihren guten Zweck. Und hier in diesem Eisenkasten hält Papa eine andere Freude verschlossen. Er hat eine Vorliebe für ungefaßte Edelsteine, namentlich für Saphire und Rubinen. Diamanten liebt er nur in spindelförmigem Schliff. Es gibt Leute, zu denen er so viel Vertrauen hat, daß er sie zuweilen einen Blick hinter das eiserne Türchen werfen läßt. Wir Kinder haben diese Schätze noch nie gesehen. Aber sein Büchsenspanner erzählt Wunder von dieser Sammlung. Er ist auch der einzige Mensch, der das Zutrauen meines Vaters so sehr genießt, daß er jeden Monat einmal die Gemskrucken von der Wand nehmen darf, um sie zu reinigen. Sie stammen von den Gemsböcken, die Papa auf seinen eigenen Bergen rings um Hubertus geschossen hat. Sein größter Stolz! Er hat es auch weit gebracht. Vor dreißig Jahren, als er das Jagdrecht von den Bauern übernahm, schoß er im ersten Sommer nur vierzehn Böcke, jetzt bringt er es jährlich auf hundert und darüber! Das ist doch ein Erfolg, er die Arbeit eines ganzen Lebens lohnt? Nicht?«
Scheu blickte Forbeck zu Tassilo auf, der diese Worte mit unveränderlichem Lächeln vor sich hingesprochen hatte und nun schwieg. Forbeck fühlte sich von einem kalten Hauch berührt, als schliche das Gespenst des Hauses an ihm vorüber. Nur um das Schweigen zu brechen, fragte er: »Der Büchsenspanner, von dem Sie sprachen, ist das jener Franzl von gestern?«
»Gott bewahre! Der Hornegger-Franzl ist ein braver, tüchtiger Bursch. Der Jäger, den ich meine, das ist ein ehemaliger Holzknecht. Vor etwa dreizehn Jahren ist er meinem Vater unter den Treibern als besonders verwegen aufgefallen. Papa machte ihn zum Jäger und vor einigen Jahren zu seinem Büchsenspanner und Geheimrat. Wen Sie auf Ihren Ausflügen einem Jäger begegnen, dessen Blick Ihnen das Blut ins Gesicht treibt – das ist er. Mein Vater schwört auf diesen Menschen. Mir hat seine unvermeidliche Gesellschaft die Freude an der Jagd verdorben. Ich greife nur noch zur Büchse, wenn ich befohlen werde. Und Papa befiehlt nicht oft. Er schießt seine Gemsböcke lieber selbst. Und es ist sein einziger Wunsch, so lange zu leben, bis er den leeren Streif an der Wand da noch ausgefüllt hat. Hoffentlich befriedigt das Schicksal diese heißeste Sehnsucht seines Daseins! Ich wünsch' es ihm von Herzen.«
Auf dem Dach des Schlosses läutete eine Glocke.
»Kommen Sie! Die Tischglocke.«
Sie verließen die »Kruckenstube«. Im Billardzimmer – einen Salon gab es in Hubertus nicht – fanden sie Gundi von Kleesberg und Kitty. Die schwüle Stimmung, die Forbeck in den letzten Minuten empfunden hatte, verschwand, als ihm Kitty entgegentrat.
»Ich freue mich sehr, Sie bei uns zu sehen.«
Er faßte ihre Hand, brachte aber kein Wort heraus. Tante Gundi wurde unruhig; zum Glück erschien in diesem Augenblick der Diener unter der Tür, und die Kleesberg rauschte auf das Pärchen zu: »Darf ich bitten?« Da war sie schon wieder in neuer Verlegenheit; die Ordnung, in der man zu Tisch gehen sollte, schien ihr Sorge zu machen. Ratlos blickte sie auf Tassilo und winkte mit den Augen. Sie fand unerwartete Hilfe. Forbeck trat auf Tante Gundi zu und reichte ihr den Arm. Das machte sie so verwirrt, daß sie auf seine Frage, ob ihr Befinden sich bereits gebessert habe, eine ganz verdrehte Antwort gab.
Kitty nahm den Arm des Bruders. »Was sagst du? So was von Höflichkeit!« Kichernd drückte sie die Wange an seine Schulter.