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Als Jon mit dem Brief in der Hand davoneilte, lief er in Furcht und Verwirrung an der Terrasse entlang und um die Ecke des Hauses. An die umrankte Mauer gelehnt, riß er den Brief auf. Er war lang – sehr lang! Das erhöhte seine Furcht, und er begann zu lesen. Als er zu den Worten kam: »Es war Fleurs Vater, den sie heiratete«, schien alles vor ihm sich im Kreise zu drehen. Er stand dicht an einem Fenster, stieg ein und ging durch das Musikzimmer und die Diele in sein Schlafzimmer hinauf. Er tauchte sein Gesicht in kaltes Wasser und setzte sich auf sein Bett, wo er fortfuhr zu lesen und jedes beendigte Blatt neben sich auf das Bett fallen ließ. Die Schrift seines Vaters war leicht zu lesen – er kannte sie so gut, obwohl er nie einen Brief von ihm bekommen, der auch nur den vierten Teil so lang gewesen war. Er las mit einem dumpfen Gefühl – seine Vorstellungskraft war nur halb dabei. Am besten begriff er beim ersten Lesen, welche Pein es für seinen Vater gewesen sein mußte, einen solchen Brief zu schreiben. Er ließ den letzten Bogen fallen und begann in einer Art geistiger, moralischer Hilflosigkeit den ersten nochmals zu lesen. Es schien ihm alles so widerwärtig – tot und widerwärtig. Dann plötzlich überrieselte ihn eine heiße Welle erregten Entsetzens. Er barg das Gesicht in den Händen. Seine Mutter! Fleurs Vater! Er nahm den Brief wieder auf und las mechanisch weiter. Und wieder überkam ihn das Gefühl, daß alles dies tot und widerwärtig war; so verschieden von seiner eigenen Liebe! Dieser Brief sagte, daß seine Mutter – und ihr Vater – Ein furchtbarer Brief!
Eigentum! Konnte es Männer geben, die Frauen als ihr Eigentum betrachteten? Gesichter, die er auf der Straße und auf dem Lande gesehen, tauchten vor ihm auf – rote, Stockfischgesichter; harte, stumpfe Gesichter; affektierte, trockene Gesichter; gewalttätige Gesichter; Hunderte, Tausende davon! Wie konnte er wissen, was Menschen, die solche Gesichter hatten, dachten und taten? Er hielt den Kopf in den Händen und stöhnte. Seine Mutter! Er hob den Brief auf und las wieder: »Entsetzen und Abscheu – noch heute lebendig in ihr ... deine Kinder ... Enkel ... eines Mannes, der deine Mutter einst besaß, wie man wohl eine Sklavin besitzt ...« Er stand vom Bett auf. Diese grausame schattenhafte Vergangenheit, die da lauerte, seine und Fleurs Liebe zu töten, war Wahrheit, oder sein Vater hätte das nie schreiben können. »Weshalb«, dachte er, »sagten sie es mir nicht an dem Tage, als ich Fleur zum ersten Male sah? Sie wußten, daß ich sie gesehen hatte. Sie waren erschrocken, und – jetzt – das habe ich nun davon!« Sein Elend war zu akut, vernünftiges Nachdenken zuzulassen, er kroch in eine dunkle Ecke des Zimmers und setzte sich auf den Fußboden. Dort saß er wie ein unglückliches kleines Tier. Es lag ein Trost in der Dunkelheit und dem Fußboden – als wäre er in jene Tage zurückversetzt, wo er beim Spielen dort umhergekrochen und Schlachten geliefert hatte. Er hockte da zusammengekauert, das Haar zerzaust, die Hände um die Knie gefaltet, wie lange, wußte er nicht. Das Öffnen der Tür, die in das Zimmer seiner Mutter führte, riß ihn aus seiner tiefen Verzweiflung. Die Vorhänge an seinen Fenstern waren herabgelassen und diese in seiner Abwesenheit geschlossen worden; wo er saß, konnte er nur ein Rascheln hören, die Schritte seiner Mutter durchs Zimmer, bis er sie jenseits des Bettes vor seinem Toilettentisch stehen sah. Sie hatte etwas in der Hand. Er atmete kaum, hoffte, daß sie ihn nicht sehen und fortgehen würde. Er sah sie Sachen auf dem Tisch berühren, als wäre eine heilende Kraft in ihnen, und sich dann den Fenstern zuwenden – grau vom Scheitel bis zur Sohle, wie ein Geist. Die geringste Wendung des Kopfes, und sie mußte ihn sehen! Ihre Lippen bewegten sich: »O Jon!« Sie sprach mit sich selbst; der Ton ihre Stimme beunruhigte Jon. Er sah eine kleine Photographie in ihrer Hand. Sie hielt sie ans Licht und schaute sie an – sie war sehr klein. Er kannte sie – eine von ihm selbst als winziger Knabe, die sie immer in ihrem Täschchen hatte. Sein Herz klopfte stark. Und plötzlich, als höre sie es, wandte sie sich um und sah ihn. Bei dem Laut, den sie ausstieß, und der Bewegung ihrer Hände, die die Photographie an die Brust drückten, sagte er:
»Ja, ich bin es.«
Sie trat an das Bett und setzte sich darauf, ganz dicht neben ihn, die Hände noch vor der Brust gefaltet, die Füße zwischen den Bogen des Briefes, die auf den Boden gefallen waren. Sie sah sie, und ihre Hände griffen um den Rand des Bettes. Sie saß sehr aufrecht, die dunkeln Augen auf ihn geheftet. Schließlich sagte sie:
»Du weißt es also, Jon!«
»Ja.«
»Hast du Vater gesehen?«
»Ja.«
Es entstand eine lange Pause, bis sie sagte:
»O mein Liebling!«
»Es ist alles in Ordnung!« Die Erregung in ihm war so heftig und seine Gefühle so gemischt, daß er sich nicht zu rühren wagte – Groll, Verzweiflung und doch eine sonderbare Sehnsucht nach ihrer tröstenden Hand auf seiner Stirn kämpften miteinander.
»Was hast du beschlossen, zu tun?«
»Ich weiß nicht!«
Wieder entstand eine Pause, dann erhob sie sich. Sie stand einen Moment sehr still da, machte eine kleine Bewegung mit ihrer Hand und sagte: »Mein Liebling, mein liebster Junge, denke nicht an mich – denke an dich selbst«, und ging am Fußende des Bettes vorbei in ihr Zimmer zurück.
Jon kehrte – wie ein Igel zu einem Ball zusammengerollt – in die Ecke zurück, die die beiden Wände bildeten.
Er mußte wohl zwanzig Minuten dort gesessen haben, als ein Schrei ihn aufscheuchte. Er kam von der Terrasse unten. Erschreckt stand er auf. Wieder kam der Schrei: »Jon!« Seine Mutter rief! Er lief hinaus, die Treppen hinunter, durch das leere Eßzimmer in das Lesezimmer. Sie kniete vor dem alten Lehnstuhl, und sein Vater lag ganz weiß darin zurückgelehnt, den Kopf auf der Brust, eine seiner Hände, die einen Bleistift umklammerte, ruhte auf einem offenen Buch – fremder als irgend etwas, das er gesehen. Sie sah sich wild um und sagte: »O Jon – er ist tot – er ist tot!«
Jon stürzte zu ihm hin, reckte sich über die Lehne, auf der er vor kurzem noch gesessen, und drückte die Lippen auf seine Stirn. Eisig kalt! Wie konnte – wie konnte Papa tot sein, wenn er noch vor einer Stunde –! Die Arme seiner Mutter umschlangen seine Knie, sie preßte ihre Brust dagegen. »Warum – warum war ich nicht bei ihm?« hörte er sie flüstern. Dann sah er das zittrig mit Bleistift auf die offene Seite geschriebene Wort »Irene« und brach zusammen. Er sah zum ersten Male den Tod eines Menschen, und dessen unsagbare Stille löschte alle andern Empfindungen in ihm aus; alles andere war also eine Vorbereitung auf das! Alle Liebe, alles Leben, alle Freude, Angst und Kummer, jede Bewegung, Licht und Schönheit nur ein Beginn dieser furchtbaren weißen Stille. Es machte einen schrecklichen Eindruck auf ihn; alles schien ihm plötzlich klein, nichtig und unbedeutend. Schließlich raffte er sich zusammen, stand auf und hob sie auf.
»Mutter! weine nicht – Mutter!«
Einige Stunden später, als alles getan war, was getan werden mußte, und seine Mutter sich niedergelegt hatte, sah er den Vater allein, auf dem Bett, mit einem weißen Laken zugedeckt. Lange stand er davor und starrte auf das Gesicht, das niemals böse ausgesehen – immer launig und gütig. »Gut sein und sich bis zum Ende aufrecht halten – weiter gibt es nichts«, hatte er seinen Vater einmal sagen hören. Wie wundervoll er nach dieser Philosophie gehandelt hatte! Sein Vater mußte seit langer Zeit gewußt haben, daß dies plötzlich kommen würde – hatte es gewußt und nicht ein Wort gesagt. Er schaute ihn mit leidenschaftlicher Scheu und Ehrfurcht an. Diese Einsamkeit für ihn – und nur, um seine Mutter und ihn zu schonen! Sein eigener Kummer dünkte ihn klein, während er in dies Gesicht schaute. Das Wort, das auf die Seite gekritzelt war! Das Abschiedswort! Jetzt hatte seine Mutter niemand als ihn! Er trat dicht an das tote Gesicht – es hatte sich gar nicht verändert und war doch vollständig verwandelt. Er hatte seinen Vater einst sagen hören, daß er nicht an ein bewußtes Leben nach dem Tode glaube oder daß, wenn es so wäre, es nur sein könnte, bis die natürliche Altersgrenze des Körpers erreicht war – die natürliche Grenze der ihm innewohnenden Lebenskraft; so daß, wenn der Körper durch einen Unglücksfall, durch Ausschweifung oder heftige Krankheit zerstört wurde, das Bewußtsein noch bestehen konnte, bis es, wenn im Laufe der Natur nicht etwas dazwischentrat, auf natürlichem Wege erloschen war. Es hatte ihn überrascht, weil er nie darüber hatte sprechen hören. Wenn das Herz aussetzte wie hier – war es sicher nicht ganz natürlich! Vielleicht war das Bewußtsein seines Vaters im Zimmer mit ihm. Über dem Bett hing ein Bild von dem Vater seines Vaters. Vielleicht war auch sein Bewußtsein noch lebendig; und das seines Bruders – seines Halbbruders, der in Transvaal gestorben war. Waren sie alle um dies Bett versammelt? Jon küßte die Stirn und stahl sich zurück in sein eigenes Zimmer. Die Tür zu dem seiner Mutter daneben war nur angelehnt, offenbar war sie hier gewesen – alles stand bereit für ihn, sogar ein paar Biskuite und heiße Milch, und der Brief lag nicht mehr auf dem Fußboden. Er aß und trank und beobachtete dabei das Schwinden des letzten Lichts. Jeden Gedanken an die Zukunft wehrte er ab – er starrte nur auf die dunkeln Zweige der Eiche in gleicher Höhe mit seinem Fenster und hatte das Gefühl, daß alles Leben stockte. Einmal in der Nacht, als er sich in seinem tiefen Schlaf umdrehte, ward er etwas Weißes, Stilles gewahr und fuhr auf.
Die Stimme seiner Mutter sagte:
»Ich bin es nur, lieber Jon!« Ihre Hand drückte seine Stirn sanft zurück, dann verschwand die weiße Gestalt.
Allein! Er fiel wieder in einen tiefen Schlaf und träumte, daß er überall auf seinem Bett den Namen seiner Mutter sah.