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Zweites Kapitel

Das Bekenntnis

Spät am selben Nachmittag schlummerte Jolyon in dem großen Armstuhl. Umgekehrt auf seinen Knien lag » La Rôtisserie de la Reine Pedauque«, und gerade bevor er einschlief, hatte er gedacht: »Werden wir als Volk die Franzosen jemals lieben? Werden sie uns jemals wirklich lieben?!« Er hatte die Franzosen immer gern gemocht; ihr Witz, ihr Geschmack und ihre Küche sagten ihm zu. Irene und er hatten vor dem Kriege, während Jon in seiner Privatschule war, Frankreich häufig besucht. Sein Roman mit ihr – sein letzter und am längsten dauernder Roman – hatte in Paris begonnen. Aber diese Franzosen – kein Engländer, der sie nicht mit einigermaßen ästhetischem Auge betrachtete, konnte sie lieben! Und mit dieser melancholischen Erkenntnis war er eingeschlummert.

Als er erwachte, sah er Jon zwischen sich und dem Fenster stehen. Der Junge war offenbar durch den Garten gekommen und wartete auf sein Erwachen. Jolyon lächelte, noch halb im Schlaf. Wie gut der Junge aussah – sensitiv, liebevoll, schlicht. Dann krampfte sich sein Herz unangenehm zusammen, und ein Zittern überkam ihn. Jon! Das Bekenntnis! Er beherrschte sich mit Anstrengung. »Ah, Jon, woher bist du gekommen?«

Jon beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn.

Erst da bemerkte er den Ausdruck in Jons Gesicht.

»Ich kam nach Haus, dir etwas zu sagen, Papa.«

Mit aller Macht versuchte Jolyon, das krampfhafte, gurgelnde Gefühl in der Brust zu überwinden.

»Setze dich, lieber Junge. Hast du deine Mutter schon gesehen?«

»Nein.« Die Glut im Gesicht des Knaben wich, und er erblaßte. Er setzte sich auf die Lehne des alten Stuhles, wie Jolyon in alten Tagen neben seinem eigenen Vater zu sitzen pflegte, der es sich darin bequem gemacht. Gerade bis zu der Zeit ihres Bruches hatte er die Gewohnheit gehabt, dort zu sitzen. Hatte er jetzt einen solchen Augenblick mit seinem eigenen Sohne zu erwarten? Sein ganzes Leben lang hatte er Szenen gehaßt wie Gift, hatte jeden Streit vermieden, war ruhig seine Wege gegangen und hatte andere den ihren gehen lassen. Aber jetzt – es schien, daß er am Ende aller Dinge eine Szene vor sich hatte, die schmerzlicher war als jede, die er vermieden. Er verbarg seine Bewegung und wartete darauf, seinen Sohn sprechen zu hören.

»Vater«, sagte Jon langsam, »Fleur und ich sind verlobt.«

»Natürlich!« dachte Jolyon und atmete mit Beschwerde.

»Ich weiß, daß du und Mutter es nicht gern seht. Fleur sagt, daß Mutter mit ihrem Vater verlobt war, bevor du sie heiratetest. Natürlich weiß ich nicht, was vorgefallen ist, aber es muß ewig lange her sein. Ich liebe sie innig, Papa, und sie sagt, daß sie es ebenfalls tue.«

Jolyon gab einen sonderbaren Laut von sich, halb Lachen, halb Stöhnen.

»Du bist neunzehn, Jon, und ich bin zweiundsiebzig. Wie sollen wir uns in einer Sache wie dieser verstehen, eh?«

»Du liebst Mutter, Papa, du mußt wissen, was wir fühlen. Es ist nicht recht, alte Geschichten unser Glück zerstören zu lassen, nicht wahr?«

Jolyon war entschlossen, sich ohne das Bekenntnis zu helfen, wenn es irgend ging. Er legte die Hand auf den Arm des Knaben.

»Sieh, Jon, ich könnte dich damit abspeisen, daß ihr beide zu jung seid und euch selbst noch nicht kennt und dergleichen, aber du würdest nicht auf mich hören, außerdem hat es keinen Zweck – Jugend kuriert sich unglücklicherweise selbst. Du sprichst leichtfertig über ›solche alten Geschichten‹, weißt aber – wie du der Wahrheit gemäß sagst – nichts von dem, was geschehen ist. Habe ich dir jemals Grund gegeben, an meiner Liebe für dich oder an meinem Wort zu zweifeln?«

In einem weniger bangen Augenblick hätte ihn der Konflikt, den seine Worte hervorriefen, die innige Umarmung des Jungen, um ihn über diesen Punkt zu beruhigen, die Furcht in seinem Gesicht, wie diese Beruhigung wirken würde, vielleicht belustigt, aber er konnte nur dankbar für diese Zärtlichkeit sein. »Du kannst mir glauben, was ich dir sage. Wenn du diese Liebesgeschichte nicht aufgibst, wirst du Mutter bis ans Ende ihrer Tage unglücklich machen. Glaube mir, mein Lieber, die Vergangenheit, wie sie auch gewesen sein mag, kann nicht begraben werden – wirklich nicht.«

Jon erhob sich von der Stuhllehne.

»Das Mädchen« – dachte Jolyon – »da geht es – taucht vor ihm auf – das Leben selbst – ungestüm, hübsch, liebevoll!«

»Ich kann nicht, Vater – wie könnte ich – nur weil du es sagst? Selbstverständlich kann ich nicht!«

»Jon, wenn du die Geschichte kenntest, würdest du Fleur ohne Zögern aufgeben, du würdest es müssen! Kannst du mir nicht glauben?«

»Wie kannst du sagen, was ich darüber denken würde, Vater, ich liebe sie über alles in der Welt.«

Jolyons Gesicht zog sich zusammen, und er sagte mit schmerzlicher Langsamkeit:

»Mehr als deine Mutter, Jon?«

An dem Gesicht des Knaben und seinen geballten Fäusten erkannte Jolyon die Schwere des Kampfes, den er durchmachte.

»Ich weiß nicht«, rief er, »ich weiß nicht! Aber Fleur um nichts aufzugeben – um etwas, das ich nicht verstehe, das meiner Ansicht nach nicht halb soviel zu sagen haben kann, würde mich – würde mich –«

»Würde dir das Gefühl geben, daß wir ungerecht sind, dir Hindernisse in den Weg zu legen – ja. Aber das ist besser, als damit fortzufahren.«

»Ich kann nicht. Fleur liebt mich, und ich liebe sie. Du willst, daß ich dir vertrauen soll, weshalb vertraust du nicht mir, Vater? Wir wollen nichts wissen – es würde für uns keinen Unterschied machen. Wir würden dich und Mutter nur um so mehr lieben.«

Jolyon griff in seine Brusttasche, zog die Hand aber wieder leer heraus.

»Bedenke, was deine Mutter für dich gewesen ist, Jon! Sie hat nichts als dich; ich werde nicht mehr lange leben.«

»Weshalb nicht? Es ist unrecht, zu – Weshalb nicht?«

»Nun«, sagte Jolyon ziemlich kalt, »weil der Arzt mir sagt, daß es so ist; das ist alles.«

»O Papa!« rief Jon und brach in Tränen aus.

Dies Niederbrechen seines Sohnes, den er nicht weinen gesehen, seit er zehn Jahre alt war, berührte Jolyon furchtbar. Er erkannte nun, wie schrecklich weich das Herz des Knaben war, wie sehr er durch diese Sache und überhaupt im Leben leiden würde. Und hilflos streckte er die Hand aus – wünschte nicht, wagte nicht aufzustehen.

»Mein lieber Junge«, sagte er, »weine nicht – sonst bringst du auch mich dazu!«

Jon unterdrückte seine Erregung und stand mit abgewandtem Gesicht still da.

»Was nun?« dachte Jolyon. »Was kann ich sagen, ihn umzustimmen?«

»Übrigens, sprich nicht zu Mutter davon«, sagte er, »eure Geschichte ängstigt sie gerade genug. Ich weiß, wie du fühlst. Aber Jon, du kennst sie und mich genügend, um sicher zu sein, daß wir euer Glück nicht leichtfertig zerstören wollen. Wir haben keinen anderen Wunsch als dein Glück, mein lieber Junge – ich wenigstens denke nur an das deine und an Mutters, und sie nur an das deine. Hier steht die ganze Zukunft für euch beide auf dem Spiel.«

Jon wandte sich um, sein Gesicht war totenblaß, seine Augen, tief im Kopf, schienen zu brennen.

»Was ist es? Was ist es? Halte mich nicht so hin!«

Jolyon, der wußte, daß er geschlagen war, fuhr wieder mit der Hand in seine Brusttasche und saß eine volle Minute mit geschlossenen Augen schwer atmend da. »Ich hatte ein schönes, langes Leben«, dachte er, »ein paar sehr bittere Augenblicke – aber dies ist der schlimmste!« Dann zog er die Hand mit dem Brief heraus und sagte mit leiser Müdigkeit: »Wenn du heute nicht gekommen wärst, Jon, hätte ich dir dies geschickt. Ich wollte es dir ersparen – wollte es deiner Mutter und mir ersparen, aber ich sehe, daß es nicht geht. Lies es, und ich will indessen in den Garten gehen.« Er streckte die Hand aus, um aufzustehen.

Jon, der den Brief genommen hatte, sagte rasch: »Nein, ich will gehen«, und fort war er.

Jolyon sank in seinen Stuhl zurück. Eine Hummel kam in diesem Augenblick summend mit Ungestüm herein; der Ton war anheimelnd, besser als nichts ... Wohin war der Junge gegangen, den Brief zu lesen? Diesen elenden Brief – diese elende Geschichte! Eine grausame Sache – grausam für sie – für Soames – für die beiden Kinder – und für ihn selbst! ... Sein Herz schlug und schmerzte ihn. Leben – seine Liebe – seine Arbeit – seine Schönheit – sein Schmerz und – sein Ende! Eine gute Zeit, eine schöne Zeit trotz allem, wenn man nicht – bedauerte, überhaupt geboren zu sein. Das Leben nutzt uns ab, weckt aber dennoch nicht den Wunsch, zu sterben, in uns – das ist das tückische Übel! Ein Fehler, ein Herz zu haben! Summend kam der Brummer wieder – brachte all die Hitze, das Gesumm und den Duft des Sommers herein – ja, sogar den Duft wie von reifen Früchten, welkem Gras, zarten Sträuchern und dem Vanilleatem der Kühe. Und irgendwo da draußen in diesem Wohlgeruch würde Jon den Brief lesen, seine Seiten umwenden und zerknittern in seinem Schmerz – und das Herz würde ihm brechen! Der Gedanke machte Jolyon ganz elend. Jon war ein weichherziger Junge, liebevoll durch und durch, und gewissenhaft, zu sehr – es war so erbärmlich, so verdammt erbärmlich! Er erinnerte sich, wie Irene einmal zu ihm gesagt hatte: »Es gibt kein liebevolleres und liebenswerteres Kind als Jon.« Armer, kleiner Jon! Sein Leben zerstört, an einem Sommernachmittag! Jugend nahm die Dinge so schwer! Und erregt, gequält von dem Gedanken, daß Jugend die Dinge so schwer nahm, stand Jolyon auf von seinem Stuhl und ging ans Fenster. Der Junge war nirgends zu sehen. Er ging hinaus. Wenn man ihm jetzt irgendwie beistehen konnte – mußte man es tun!

Er ging durch die Büsche, blickte in den ummauerten Garten – kein Jon. Auch nicht, wo die Pfirsiche und Aprikosen anfingen zu schwellen und sich zu färben. Er ging an den Zypressen vorüber, die dunkel und spiralförmig auf der Wiese standen. Wohin war der Junge gegangen? War er ins Wäldchen hinuntergelaufen – seinem alten Jagdrevier? Jolyon ging über die Heuwiese. Sie wollten Montag mähen und das Heu am Tage darauf einfahren, wenn es nicht regnete. Sie waren oft zusammen über diese Wiese gegangen – Hand in Hand, als Jon ein kleiner Bub war. Ach ja! Die goldene Zeit war vorüber, wenn man zehn Jahre alt geworden war! Er kam zum Teich, wo Fliegen und Mücken über einer blanken, mit Schilf bedeckten Oberfläche tanzten, und weiter in das Wäldchen. Es war kühl dort und duftete nach Lärchen. Immer noch kein Jon! Er rief. Keine Antwort! Nervös, ängstlich, vergaß er seine eigenen Beschwerden und setzte sich auf den Baumstumpf. Es war nicht recht gewesen, den Jungen mit dem Brief fortgehen zu lassen, er hätte ihn unter den Augen behalten sollen! Sehr beunruhigt stand er auf, um wieder zurückzugehen. Bei den Wirtschaftsgebäuden rief er wieder und blickte in den dunkeln Kuhstall. Dort im Kühlen, in dem Geruch von Vanille und Ammoniak, fern von Fliegen, standen die drei Alderneys ruhig wiederkäuend da; sie waren eben gemolken und warteten auf den Abend, wo sie wieder auf die unteren Wiesen geführt wurden. Eine wandte lässig den Kopf, ein glänzendes Auge; Jolyon konnte die Feuchtigkeit auf der grauen Unterlippe sehen. In der Erregung seiner Nerven sah er alles mit leidenschaftlicher Klarheit – alles, was er seinerzeit bewundert und zu malen versucht hatte – Wunder von Licht und Schatten und Farbe. Kein Wunder, daß die Legende Christus in eine Krippe gelegt hatte – was gab es Andächtigeres als die Augen und die mondweißen Hörner einer wiederkäuenden Kuh in der warmen Dämmerung? Er rief nochmals. Keine Antwort! Und er eilte aus dem Wäldchen, an dem Teich vorbei, den Hügel hinauf. Merkwürdige Ironie – ihm fiel es jetzt erst ein – wenn Jon mit seiner Entdeckung unten ins Wäldchen gegangen wäre, wo seine Mutter und Bosinney in jenen alten Tagen sich zuerst ihrer Liebe bewußt geworden. Wo er selbst an dem Sonntagmorgen, als er aus Paris zurückgekommen war, auf dem Baumstumpf gesessen und ihm klar geworden war, daß Irene die Welt für ihn bedeutete. An dieser Stelle den Schleier vor den Augen des Jungen zu zerreißen, wäre wirklich Ironie gewesen! Aber er war nicht hier! Wohin war er gegangen? Man mußte den armen Kerl doch finden!

Ein Schimmer von Sonne war gekommen und erhöhte für seine hastenden Sinne all die Schönheit des Nachmittags, der hohen Bäume und der länger werdenden Schatten, der Bläue und der weißen Wolken, des Heudufts, des Taubengirrens und der Blumen, die groß dastanden. Er kam zu den Rosenbeeten, und die Schönheit der Rosen in diesem plötzlichen Sonnenlicht dünkte ihn unirdisch. Dort bei dem Busch dunkelroter Rosen hatte sie gestanden, hatte dort gestanden, um zu lesen und zu beschließen, daß Jon alles erfahren müsse! Jetzt wußte er alles! Hatte sie falsch entschieden? Er bückte sich und roch an einer Rose, ihre Blütenblätter streiften seine Nase und seine zitternden Lippen; es gab nichts Weicheres als den Samt des Rosenblattes, ausgenommen ihren Hals – Irene! Er ging über den Rasenplatz, die Anhöhe hinauf zu dem Eichenbaum. Nur sein Wipfel glühte, denn die plötzliche Sonne war fort, über dem Hause; der Schatten unten war dicht, himmlisch kühl – er war sehr erhitzt. Er hielt eine Minute inne, die Hand an dem Strick der Schaukel – Jolly, Holly – Jon! Die alte Schaukel! Und plötzlich fühlte er sich furchtbar – tödlich krank. »Ich habe mich überanstrengt!« dachte er; »bei Gott! Ich habe mich überanstrengt!« Er wankte zur Terrasse hin, schleppte sich die Stufen hinauf und fiel gegen die Hauswand. Dort lehnte er sich keuchend an, das Gesicht in dem Geißblatt vergraben, mit dem er und sie sich soviel Mühe gegeben hatten, damit es die Luft versüße, die hineinströmte. Der Duft mischte sich mit furchtbarem Schmerz. »Meine Liebe!« dachte er, »der Junge!« Und mit großer Anstrengung stolperte er durch die Glastür und sank in den Stuhl des alten Jolyon. Das Buch lag noch da, ein Bleistift darin; er nahm ihn, kritzelte ein Wort auf die offene Seite ... Seine Hand fiel herab ... Also war es so ... so? ...

Dann ein starker Ruck – und Dunkelheit ...


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