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Elftes Kapitel

Duett

Die »kleine« Empfindung Liebe wächst erstaunlich, wenn ihr Unterdrückung droht. Jon erreichte die Paddingtonstation eine halbe Stunde vor der Zeit und eine volle Woche später, wie es ihm vorkam. Er stand an der bezeichneten Bücherauslage, mitten in einer Menge Sonntagsausflügler, in einem leichten Sommeranzug, der förmlich die Erregung seines pochenden Herzens ausstrahlte.

Er las die Namen der Romane an dem Bücherstand und kaufte schließlich einen, um sich nicht den argwöhnischen Blicken des Verkäufers auszusetzen. Es hieß » The Heart of the Trail!«, was irgend etwas bedeuten mußte, wenngleich es nicht den Anschein hatte. Dann kaufte er noch » The Ladys Mirror« und » The Landsman«. Jede Minute dünkte ihn eine Stunde und war voll von schrecklichen Vorstellungen. Nach zwanzig Minuten sah er sie mit einer Reisetasche und einem Träger, der ihr Gepäck brachte. Sie kam rasch und kühl und begrüßte ihn, als wäre er ihr Bruder.

»Erster Klasse«, sagte sie zu dem Träger, »Ecksitze, einander gegenüber.«

Jon bewunderte ihre ungeheure Selbstbeherrschung.

»Können wir nicht ein Abteil für uns allein haben?« flüsterte er.

»Geht nicht, es ist ein Personenzug. Hinter Maidenhead vielleicht. Sieh natürlich aus, Jon.«

Jon versuchte ein mürrisches Gesicht zu machen. Sie stiegen ein – mit zwei andern Leuten. O Himmel! In seiner Verwirrung gab er dem Träger ein unnötig hohes Trinkgeld. Der Kerl verdiente gar nichts zu bekommen, wo er sie hier hereingesetzt hatte und dazu noch dreinsah, als wüßte er alles.

Fleur versteckte sich hinter » The Ladys Mirror«. Jon machte es ihr hinter » The Landsman« nach. Der Zug ging ab. Fleur ließ das Buch sinken und beugte sich vor.

»Nun?« sagte sie.

»Es kam mir vor wie vierzehn Tage.«

Sie nickte, und Jons Gesicht erhellte sich sofort.

»Sieh natürlich aus«, murmelte Fleur und brach in ein leises Gelächter aus. Es verletzte ihn. Wie konnte er natürlich aussehen, wo Italien drohend über ihm hing? Er hatte es ihr behutsam mitteilen wollen, aber jetzt platzte er damit heraus:

»Sie wollen, daß ich mit Mutter auf zwei Monate nach Italien gehe.«

Fleur senkte die Lider, ward ein wenig blaß und biß sich auf die Lippen.

»Oh!« sagte sie. Das war alles, aber es bedeutete viel.

Das »Oh!« war wie das schnelle Zurückziehen der Faust zum Gegenstoß beim Fechten. Und er kam.

»Du mußt gehen!«

»Ich muß?« sagte Jon mit erstickter Stimme.

»Natürlich!«

»Aber – zwei Monate – es ist grausig.«

»Nein«, sagte Fleur, »sechs Wochen. Bis dahin wirst du mich vergessen haben. Wir wollen uns an dem Tage, wo du wiederkommst, in der Nationalgalerie treffen.«

Jon lachte.

»Aber nimm an, du hast mich vergessen«, murmelte er in den Lärm des Zuges. Fleur schüttelte den Kopf.

»Noch so ein Kerl –« murmelte Jon.

Ihr Fuß berührte seinen.

»Es kommt ja keiner«, sagte sie und hob ihr Buch.

Der Zug hielt, zwei Passagiere stiegen aus und einer stieg ein. »Ich sterbe«, dachte Jon, »wenn wir gar nicht allein bleiben.«

Der Zug fuhr weiter, und wieder beugte Fleur sich vor.

»Ich lasse nie was los«, sagte sie; »und du?«

Jon schüttelte heftig den Kopf.

»Nie!« sagte er. »Wirst du mir schreiben?«

»Nein; aber du kannst es – an meinen Klub.«

Sie hatte einen Klub; sie war großartig!

»Hast du Holly ausgeforscht?« fragte er.

»Ja, aber ich bekam nichts aus ihr heraus. Ich wagte nicht, sie zu sehr auszuforschen.«

»Was kann es nur sein?« rief Jon.

»Ich finde es schon heraus.«

Ein langes Schweigen entstand, bis Fleur sagte: »Dies ist Maidenhead; tritt zur Seite, Jon!«

Der Zug hielt. Der eine Passagier stieg aus. Fleur ließ den Vorhang herunter.

»Schnell!« rief sie. »Lehne dich hinaus! Sieh so eklig aus, wie du nur kannst.«

Jon schnaubte sich die Nase und sah so wütend aus, wie er konnte; nie in seinem Leben hatte er so wütend ausgesehen! Eine alte Dame prallte zurück, eine junge versuchte zu öffnen, aber die Tür ging nicht auf. Der Zug bewegte sich, die junge Dame stürzte an einen andern Wagen.

»Welch ein Glück!« rief Jon. »Die Tür klemmte sich.«

»Ja«, sagte Fleur. »Ich hielt sie zu.«

Der Zug bewegte sich weiter, und Jon sank auf die Knie.

»Gib acht auf den Korridor«, flüsterte sie; »und – rasch!«

Ihre Lippen begegneten den seinen. Und obwohl ihr Kuß auch nur etwa zehn Sekunden währte, fühlte Jon sich doch ganz entrückt, und als er ihrer gelassenen Gestalt wieder gegenübersaß, war er leichenblaß. Er hörte sie seufzen, und der Ton dünkte ihn der kostbarste, den er je gehört – er offenbarte ihm deutlich, daß er ihr etwas war.

»Sechs Wochen sind eigentlich nicht lange«, sagte sie; »und du kannst sie leicht zu sechs machen, wenn du den Kopf oben behältst und tust, als dächtest du nie an mich.«

Jon stöhnte.

»Das ist durchaus nötig, Jon, um sie zu überzeugen, siehst du das nicht ein? Steht es mit uns, wenn du zurückkommst, dann ebenso, werden sie aufhören, sich lächerlich zu machen. Nur tut es mir leid, daß es nicht Spanien ist; da ist in Madrid ein Mädchen auf einem Bilde von Goya, das mir ähnlich sieht, sagt Vater. Allein sie ist es nicht – wir haben eine Kopie davon.«

Es war für Jon ein Sonnenstrahl, der durch den Nebel bricht. »Ich werde es einrichten, daß wir nach Spanien gehen«, sagte er, »Mutter wird nichts dagegen haben; sie ist nie dort gewesen. Und mein Vater hält sehr viel von Goya.«

»Ach! er ist Maler – nicht wahr?«

»Nur Aquarellmaler«, sagte er ehrlich.

»Wenn wir in Reading ankommen, steige du zuerst aus, Jon, gehe hinunter zur Cavershamschleuse und warte auf mich. Ich werde das Auto nach Haus schicken, und wir gehen den Uferweg hinauf.«

Jon ergriff dankbar ihre Hand, und sie saßen schweigend, die Welt vergessend, da und behielten den Korridor im Auge. Aber der Zug schien jetzt doppelt schnell zu fahren, und sein Geräusch verlor sich fast in Jons Seufzern.

»Wir sind bald da«, sagte Fleur; »auf dem Uferweg ist man schrecklich allen Blicken ausgesetzt. Noch einen! Ach! Jon, vergiß mich nicht!«

Jon antwortete mit einem Kuß. Und bald konnte man einen erglühten, zerstreut aussehenden Jüngling aus dem Zuge springen und den Bahnsteig hinuntereilen sehen, während er seine Taschen nach dem Billett durchsuchte.

Als sie endlich am Uferweg ein Stückchen hinter der Schleuse wieder mit ihm zusammentraf, war es ihm gelungen, seinen Gleichmut einigermaßen wiederzugewinnen.

Wenn es sein mußte, daß sie sich trennten, wollte er keine Szene machen! Ein frischer Wind von dem blinkenden Fluß her trieb die weiße Seite der Weidenblätter in das Sonnenlicht empor, und ihr leises Rascheln folgte den beiden.

»Ich sagte unserm Chauffeur, daß das Fahren im Zuge mich schwindlig gemacht habe«, sagte Fleur. »Sahst du auch natürlich aus, als du ausstiegst?«

»Ich weiß nicht. Was ist natürlich?«

»Für dich ist es natürlich, wirklich glücklich auszusehen. Als ich dich zuerst sah, dachte ich, du wärst ganz und gar nicht wie andere Leute.«

»Genau, was ich dachte, als ich dich sah. Ich wußte sofort, daß ich nie eine andere lieben würde.«

Fleur lachte.

»Wir sind unerhört jung. Und der junge Traum der Liebe ist aus der Mode, Jon. Außerdem verliert man schrecklich viel Zeit damit. Denk nur an all den Spaß, den du haben könntest. Du hast ja noch gar nicht angefangen; es ist eine Schande, wirklich. Und nun ich. Ich bin begierig.«

Jon war ganz verwirrt. Wie konnte sie solche Dinge sagen, wo sie sich eben trennen sollten?

»Wenn du so fühlst«, sagte er, »kann ich nicht reisen. Ich werde Mutter sagen, daß ich versuchen müsse zu arbeiten. Das verlangt die Welt!«

»Verlangt die Welt!«

Jon steckte die Hände tief in seine Taschen.

»Aber so ist es«, sagte er, »denke an die Leute, die verhungern!«

Fleur schüttelte den Kopf. »Nein, ich will mich nie, niemals um nichts und wieder nichts erbärmlich fühlen!«

»Um nichts und wieder nichts! Aber die Zustände sind doch fürchterlich, und man müßte natürlich helfen.«

»Ja, ja! Ich weiß das alles. Aber du kannst den Leuten nicht helfen, Jon, es ist hoffnungslos. Ziehst du sie heraus, so fallen sie nur in ein anderes Loch. Sieh sie doch an, wie sie fechten, sich verschwören und kämpfen, obwohl sie in Haufen sterben dabei. Die Idioten!«

»Tun sie dir nicht leid?«

»Ach! leid – ja, aber ich will mich deshalb nicht unglücklich fühlen; es hat keinen Zweck.«

Und sie schwiegen verstört bei dieser ersten Enthüllung ihrer verschiedenen Naturen.

»Ich finde, die Menschen sind roh und idiotisch«, sagte Fleur eigensinnig.

»Ich finde, sie sind arme Teufel«, sagte Jon. Es war, als hätten sie sich gezankt – und in diesem feierlichen und schrecklichen Moment, angesichts der Trennung dort bei den letzten Weiden!

»Gut, geh nur und hilf deinen armen Teufeln und denke nicht an mich!«

Jon stand still. Der Schweiß brach ihm aus der Stirn, und seine Glieder zitterten. Fleur war ebenfalls stehengeblieben und sah mit gerunzelter Stirn auf den Fluß.

»Ich muß mir meinen Glauben bewahren«, sagte Jon gequält; »wir alle sind dazu bestimmt, das Leben zu genießen.«

Fleur lachte. »Ja, und das wirst du eben nicht tun, wenn du nicht vorsichtig bist. Aber vielleicht ist deine Idee von Genuß, daß du dich unglücklich machst. Es gibt ja eine Menge solcher Menschen.«

Sie war blaß, ihre Augen hatten sich verdunkelt, die Lippen waren dünner geworden. War das Fleur, die dort ins Wasser starrte? Jon hatte ein vages Gefühl, als durchlebte er die Szene in einem Buch, wo der Liebende zwischen Liebe und Pflicht zu wählen hat. Aber gerade da blickte sie ihn an. Es gab nichts Berauschenderes als diesen lebhaften Blick. Er wirkte auf ihn wie ein Ruck an der Kette bei einem Hunde – er trieb ihn gewissermaßen mit wedelndem Schwanz und hängender Zunge zu ihr hin.

»Seien wir doch nicht töricht«, sagte sie, »die Zeit ist so kurz. Schau, Jon, du kannst gerade sehen, wo ich über den Fluß muß. Dort um die Biegung, wo die Wälder beginnen.«

Jon sah einen Giebel, einen oder zwei Schornsteine, ein Stück Mauer durch die Bäume, und sein Herz zog sich zusammen.

»Ich darf nicht länger zögern. Es hat keinen Zweck, noch hinter die nächste Hecke zu gehen, dort ist alles offen. Wir wollen dahin und Abschied voneinander nehmen.«

Sie gingen schweigend nebeneinander, Hand in Hand, auf die Hecke zu, wo Schlehen und Rotdorn rot und weiß in voller Blüte standen.

»Mein Klub ist der ›Talisman‹, Stratton Street, Piccadilly. Briefe sind dort ganz sicher, und ich bin mindestens einmal in der Woche dort.«

Jon nickte. Sein Gesicht war sehr ernst geworden, die Augen starrten gerade vor sich hin.

»Heute ist der dreiundzwanzigste Mai«, sagte Fleur; »am neunten Juli werde ich um drei Uhr vor ›Bacchus und Ariadne‹ sein, willst du?«

»Ich werde kommen.«

»Wenn dir so elend zumute ist wie mir, ist alles in Ordnung. Laß die Leute erst vorüber.« Ein Mann und eine Frau machten mit ihren Kindern ihren sonntäglichen Spaziergang.

»Familienidyll!« sagte Fleur und stellte sich an die Weißdornhecke. Die Blüten breiteten sich über ihrem Kopfe aus, und ein Büschel streifte ihre Wange. Jon hob seine Hand, um es eifersüchtig zu entfernen.

»Lebe wohl, Jon.« Eine Sekunde standen sie mit eng verschlungenen Händen. Dann trafen ihre Lippen sich zum dritten Male, und als sie sich trennten, lief Fleur davon und floh durch die Pforte. Jon blieb stehen, wo sie ihn verlassen hatte, die Stirn gegen ein Blütenbüschel gedrückt. Fort! Für eine Ewigkeit – für sieben Wochen weniger zwei Tage! Und hier stand er und versäumte den letzten Blick auf sie! Er stürzte an die Pforte. Sie ging rasch, dicht hinter den trippelnden Kindern her. Sie wandte den Kopf, er sah ihre Hand eine kleine flüchtige Bewegung machen, dann eilte sie weiter, und die einhertrottende Familie verbarg sie seinen Blicken.

Die Worte eines komischen Liedes kamen ihm in den Sinn, und er eilte schleunigst zurück zum Bahnhof in Reading. Den ganzen Weg nach London und von dort nach Wansdon saß er mit seinem aufgeschlagenen Buch auf den Knien und brütete über einem Gedicht so voller Gefühl, daß es sich nicht reimen wollte.


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