Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Timothy prophezeit

Am Tage des verabredeten Rendezvous in der Nationalgalerie begann der zweite Jahrestag der Auferstehung von Englands Stolz und Ruhm – oder kurz: des Zylinderhutes. Auf »Lords« Kricketplatz – dessen Feste der Krieg aus dem Felde geschlagen hatte – wurden einer glorreichen Vergangenheit zu Ehren alle hell- und dunkelblauen Flaggen zum zweiten Male gehißt. Hier sah man in der Frühstückspause alle Arten von weiblichen und eine Art von männlichen Hüten, die die zahlreichen Typen von Gesichtern der »oberen Klassen« beschützten. Der beobachtende Forsyte konnte auf den freien oder minderwertigen Plätzen eine gewisse Anzahl von weichen Hüten erkennen, aber sie wagten sich kaum auf den Rasen; die alte Schule – oder Schulen – konnten sich noch freuen, daß das Proletariat die notwendigen zwei Schilling bis jetzt nicht bezahlte. Hier war noch ein begrenztes Gebiet, das einzige in großem Maßstabe, das geblieben war – die Zeitungen schätzten die Anwesenden auf zehntausend. Und diese Zehntausend, alle durch eine Hoffnung belebt, stellten nur eine Frage aneinander: »Wo frühstücken Sie?« Es war wunderbar erhebend und beruhigend, diese Frage zu hören und sie so viele aussprechen zu hören, die waren wie man selbst! Welch ein Überfluß an Vorräten in dem Britischen Reich – genug Tauben, Hummern, Lämmer, Lachs, Mayonnaisen, Erdbeeren und Champagner, die Menge zu füttern! Kein Mirakel in Aussicht – keine sieben Brote und ein paar Fische – Glaube ruhte auf sichererem Grunde. Sechstausend Zylinderhüte, viertausend Sonnenschirme würden abgelegt und zusammengerollt werden, zehntausend Münder, die alle dasselbe Englisch sprachen, würden gefüllt werden. Es war doch noch Leben in dem alten Hund! Tradition! Und abermals Tradition! Wie stark und wie elastisch! Kriege mochten rasen, Steuern plündern, Zölle eingeführt werden und Europa Hungers sterben, aber die Zehntausend werden gefüttert, konnten innerhalb ihrer Umzäunung auf grünem Rasen umherstreifen, ihre Zylinderhüte tragen und mit – sich selbst zusammenkommen. Das Herz war gesund, der Puls noch regelmäßig. E-ton! E-ton! Har-r-o-o-o-w!

Unter den vielen Forsytes auf dem Jagdgrund, der infolge persönlich verbriefter Rechte und Vollmachten der ihre war, befand sich auch Soames mit Frau und Tochter. Er hatte keine der Schulen besucht, interessierte sich auch nicht für Kricket, aber er wollte, daß Fleur ihre Kleider zeigte, und er wollte seinen Zylinder tragen – ihn wieder in Ruhe und Frieden unter seinesgleichen tragen. Er ging gelassen mit Fleur zwischen sich und Annette umher. Keine Frau war ihnen gleich, soviel er sehen konnte. Sie verstanden zu gehen und sich zu bewegen; es war etwas Solides in ihrem guten Aussehen; die moderne Frau war nicht gut gebaut, hatte keinen Busen, gar nichts! Er erinnerte sich plötzlich, mit welch berauschendem Stolz er in den ersten Jahren seiner ersten Ehe mit Irene hier umhergegangen war. Und wie sie in der Kutsche, die seine Mutter den Vater zu halten gezwungen, weil es so »schick« war, zu lunchen pflegten – alle hatten Kutschen oder Equipagen damals, es gab nicht diese hölzernen großen Tribünen! Und wie Montague Dartie beständig zuviel getrunken hatte! Er glaubte, daß die Leute immer noch zuviel tranken, aber es war keine Zwanglosigkeit dabei wie ehedem. Er dachte an George Forsyte – dessen Brüder Roger und Eustace in Harrow und Eton gewesen waren – wie er oben auf den Wagen geklettert war und mit einer Hand eine hellblaue, mit der andern eine dunkelblaue Flagge geschwungen und als der Spaßvogel, der er immer war, gerufen hatte: »Etroow – Harrton!« Wenn gerade alles still war. Hm! Alte Zeiten, und Irene in grauer Seide, mit blassestem Grün durchschossen. Er sah von der Seite in Fleurs Gesicht. Ziemlich farblos – kein Feuer, kein Eifer! Diese Liebesangelegenheit zehrte an ihr – eine böse Geschichte! Er sah über sie hinweg auf das Gesicht seiner Frau, das etwas mehr geschminkt war als gewöhnlich, ein wenig verächtlich – aber eigentlich hatte sie keinen Grund zur Verachtung, soviel er sehen konnte. Sie nahm Profonds Abtrünnigkeit mit sonderbarer Ruhe auf, oder war seine »kleine« Reise nur ein Vorwand? Wenn es so war, wollte er es nicht sehen! Nachdem sie um den Rasen und an dem Pavillon vorbeigegangen waren, suchten sie Winifreds Tisch im Zelt des Beduinenklubs auf. Dieser Klub – ein neuer, »Hahn und Henne« – war zur Förderung des Reisens von einem Herrn mit einem alten schottischen Namen gegründet worden, dessen Vater sich seltsamerweise Levi genannt hatte. Winifred war eingetreten, nicht, weil sie gereist war, sondern weil ihr Instinkt ihr gesagt, daß ein Klub mit solch einem Namen und einem solchen Gründer eine große Zukunft haben müsse und man, wenn man nicht gleich eintrat, vielleicht nie dazu kam. Sein Zelt mit einer Inschrift aus dem Koran auf orangefarbenem Grunde und einem gestickten kleinen grünen Kamel über dem Eingang war das Auffallendste auf dem ganzen Platz. Davor fanden sie Jack Cardigan mit einer dunkelblauen Krawatte (früher hatte er für Harrow gespielt), der mit einem Malakkarohrstock zeigte, wie der Mann den Ball hätte schlagen müssen. Er lotste sie hinein. In Winifreds Ecke waren Imogen, Benedikt mit seiner jungen Frau, Val Dartie ohne Holly, Maud und ihr Mann versammelt, und nachdem Soames und seine beiden Damen sich gesetzt hatten, blieb noch ein Platz leer.

»Ich erwarte Prosper«, sagte Winifred, »aber er ist von seiner Jacht so in Anspruch genommen.«

Soames blickte sich verstohlen um. Keine Bewegung im Gesicht seiner Frau! Ob der Bursche kam oder nicht, sie wußte offenbar alles darüber. Es entging ihm nicht, daß Fleur ebenfalls ihre Mutter anblickte. Wenn Annette seine Gefühle nicht respektierte, konnte sie doch wenigstens an die Fleurs denken! Die Unterhaltung, die sehr flüchtig war, wurde von Jack Cardigan unterbrochen, der über Meisterschaften im Kricketspiel sprach.

Er zitierte alle Meisterspieler seit Anno dazumal, als wären sie ausschlaggebend bei der Zusammensetzung des britischen Volkes gewesen. Soames war fertig mit seinem Hummer und begann eben mit der Taubenpastete, als er die Worte hörte: »Ich kommen ein klein wenig zu spät, Mrs. Dartie«, und sah, daß kein leerer Platz mehr da war. Gerade dieser Bursche mußte zwischen Imogen und Annette sitzen. Soames aß ruhig weiter und sprach gelegentlich ein Wort mit Maud und Winifred. Um ihn her summte die Unterhaltung. Er hörte die Stimme Profonds sagen:

»Ich glauben, Sie irren sich, Mrs. Forsyte; ich – ich wetten, daß Miß Forsyte mit mir übereinstimmt.«

»Worin?« kam Fleurs klare Stimme über den Tisch.

»Ich sagen, junge Mädchen sind ebenso, wie sie immer waren – da ist nur wenig Unterschied.«

»Wissen Sie so viel von ihnen?«

Diese scharfe Antwort hörten alle, und Soames rückte unruhig auf seinem dünnen grünen Stuhl hin und her.

»Nun, ich weiß nicht, ich glauben, sie haben ihren eigenen kleinen Willen, und ich denken, den hatten sie immer.«

»Wirklich!«

»Oh! Aber Prosper«, unterbrach ihn Winifred gemütlich, »denken Sie nur an die Mädchen von der Straße – die Mädchen, die in den Munitionsfabriken arbeiten, die kleinen Ladenmädchen. Ihre Manieren sind wirklich doch zu auffallend.«

Monsieur Profond sagte in der Pause, die eintrat:

»Früher war es innen, jetzt ist es außen, das ist alles.«

»Aber ihre Moral!« rief Imogen.

»Sie haben ebensoviel Moral, wie sie immer gehabt, Mrs. Cardigan, aber sie haben mehr Gelegenheit.«

Diesen zynischen Ausspruch beantwortete Imogen mit einem kleinen Lachen, Jack Cardigan mit offenem Munde und Soames mit einem Knarren seines Stuhles.

Winifred sagte: »Das ist zu arg, Prosper.«

»Was sagen Sie, Mrs. Forsyte, finden Sie nicht, daß die menschliche Natur stets dieselbe bleibt?«

Soames unterdrückte ein plötzliches Verlangen, aufzustehen und den Burschen zu schlagen. Er hörte seine Frau erwidern: »Die menschliche Natur ist in England nicht dieselbe wie anderswo.« Das war wieder ihre verwünschte Spottsucht.

»Ja, ich wissen nicht viel über dies kleine Land« – »Nein, Gott sei Dank!« dachte Soames – »aber ich möchten sagen, es wird überall mit Wasser gekocht. Wir alle brauchen Vergnügen, und das haben wir immer getan.«

Der Teufel hole den Burschen! Sein Zynismus war – widerwärtig!

Als der Lunch vorüber war, brachen sie in Paaren zu dem Verdauungsspaziergang auf. Wenn er auch zu stolz war, Notiz davon zu nehmen, wußte Soames doch genau, daß Annette und dieser Kerl zusammen umherstreiften. Fleur ging mit Val, sie hatte ihn zweifellos gewählt, weil er Jon kannte. Er selbst mit Winifred. Sie gingen ein wenig erhitzt und übersättigt einige Minuten in dem breiten Strom im Kreise herum, bis Winifred seufzte:

»Ich wünschte, wir wären vierzig Jahre jünger, alter Junge.« Im Geiste sah sie einen endlosen Zug ihrer eigenen »Lords«-Kleider vorüberziehen, die vom Gelde ihres Vaters bezahlt waren, um eine wiederkehrende Krisis zu vermeiden. »Es war doch schließlich sehr amüsant. Zuweilen wünsche ich mir sogar Monty zurück. Wie findest du die Leute heutzutage, Soames?«

»Bitter wenig Stil. Die Sache begann sich mit den Zweirädern und Automobilen aufzulösen, der Krieg hat ihr den Rest gegeben.«

»Ich möchte wissen, was nun kommt?« sagte Winifred mit einer Stimme, die noch von Taubenpastete träumte. »Wer weiß, ob wir nicht wieder Krinolinen und weite Beinkleider bekommen. Schau mal dieses Kleid an!«

Soames schüttelte den Kopf.

»Es ist Geld da, aber kein Glaube an die Dinge. Wir legen nichts für die Zukunft zurück. Dies junge Volk – für sie ist alles Leben kurz und fröhlich obendrein.«

»Sieh den Hut dort!« sagte Winifred. »Ich weiß nicht – wenn man an die Menschen denkt, die getötet sind, und alles das im Kriege, ist es eigentlich wundervoll, finde ich. Es gibt kein anderes Land – Prosper sagt, die andern seien alle bankrott, außer Amerika; und natürlich nahmen die Männer dort den Stil ihrer Kleidung immer von uns.«

»Geht der Mann wirklich nach der Südsee?« sagte Soames.

»Ach! Man weiß nie, wohin Prosper geht!«

»Er ist ein Zeichen der Zeit«, murmelte Soames, »wenn du willst.«

Winifred griff nach seinem Arm.

»Dreh dich nicht um«, sagte sie mit leiser Stimme, »aber sieh nach rechts in die erste Reihe der Tribüne dort.«

Soames blickte hin, so gut er es bei dieser Begrenzung vermochte. Ein Mann in einem grauen Zylinder, graubärtig, mit dünnen, faltigen Wangen und einer gewissen Eleganz in seiner Haltung, saß dort mit einer Dame in ecrufarbenem Kleide, deren dunkle Augen auf ihn gerichtet waren. Soames sah rasch auf seine Füße. Wie sonderbar Füße sich bewegten, einer nach dem andern. Winifreds Stimme sagte ihm ins Ohr:

»Jolyon sieht sehr leidend aus, aber er hatte immer Stil. Sie verändert sich nicht – nur ihr Haar.«

»Weshalb sagtest du Fleur von der Sache?«

»Ich habe nichts gesagt, sie hat es irgendwo gehört. Ich wußte, daß es so kommen würde.«

»Es ist eine dumme Geschichte. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, den Jungen zu heiraten.«

»Das durchtriebene kleine Ding!« murmelte Winifred. «Sie versuchte mich da hineinzuziehen. Was willst du tun, Soames?«

»Mich durch die Ereignisse leiten lassen.«

Sie gingen schweigend weiter durch die dichte Menge.

»Wirklich«, sagte Winifred plötzlich, »es scheint beinah wie Schicksal. Und das ist so altmodisch. Sieh! George und Eustace!«

George Forsytes mächtiger Körper war vor ihnen stehengeblieben.

»Hallo, Soames!« sagte er. »Traf eben Prosper Profond und deine Frau. Du kannst sie einholen, wenn du dich beeilst. Hast du den alten Timothy wieder einmal besucht?«

Soames nickte, und der Strom trennte sie.

»Ich hatte den alten George immer gern«, sagte Winifred. »Er ist so drollig.«

»Ich mochte ihn nie«, erwiderte Soames. »Wo ist dein Platz? Ich werde auf den meinen gehen. Fleur ist vielleicht schon dort.«

Nachdem er Winifred an ihren Platz gebracht hatte, suchte er den seinen auf und sah in der Ferne kleine weiße Gestalten, die Gruppe der Kricketspieler. Keine Fleur und keine Annette! Man konnte heutzutage von Frauen nichts erwarten! Sie hatten das Stimmrecht. Sie waren »emanzipiert«, und das bot ihnen großen Vorteil! Also Winifred wollte zurück, wirklich, und es noch einmal mit Dartie aufnehmen? Die Vergangenheit noch einmal zurückrufen zu können – hier sitzen zu können, wie er im Jahre 1883 und 1884 hier gesessen, bevor er die Gewißheit gehabt, daß seine Ehe mit Irene Schiffbruch gelitten, bevor ihr Widerstand so offenbar geworden war, daß er ihn beim besten Willen nicht hatte übersehen können. Der Anblick an der Seite dieses Mannes hatte alle Erinnerungen wieder wachgerufen. Selbst jetzt noch konnte er nicht begreifen, weshalb sie so widerspenstig gewesen. Sie konnte andere Männer lieben, sie hatte es in sich! Ihm selbst aber, dem einzigen Menschen, den sie hätte lieben sollen, verweigerte sie ihr Herz. Es schien ihm phantastisch, als er zurückdachte, daß all diese moderne Lockerung der Ehe – wenn ihre Formen und Gesetze auch dieselben waren wie zu der Zeit, als er Irene heiratete –, daß all diese moderne Lockerheit aus ihrer Auflehnung entstanden war; es schien ihm in der Phantasie, daß sie all dies herbeigeführt hatte, bis jedes ehrbare Besitzrecht geschwunden oder im Begriff war, zu schwinden. Alles war durch sie gekommen! Und jetzt – ein schöner Zustand! Ein Heim! Wie konnte man es haben ohne gegenseitiges Besitzrecht? Er freilich hatte eigentlich nie ein richtiges Heim gehabt! Aber war das seine Schuld? Er hatte sein Bestes getan. Und sein Lohn waren – jene beiden, die dort saßen, und diese Geschichte mit Fleur!

Ein Gefühl der Vereinsamung überkam ihn, und er dachte: »Ich werde nicht länger warten! Sie müssen ihren Weg zum Hotel zurück allein finden – wenn sie kommen wollen!« Er rief draußen, außerhalb des Kricketplatzes, eine Droschke heran und sagte:

»Fahren Sie mich nach der Bayswater Road.« Seine alten Tanten hatten ihn nie im Stich gelassen. Ihnen war er immer ein willkommener Besucher gewesen. Waren sie auch gegangen, so war Timothy doch noch dort!

Smither stand in der offenen Haustür.

»Mr. Soames! Ich wollte gerade ein wenig Luft schöpfen. Die Köchin wird sich so freuen.«

»Wie geht es Mr. Timothy?«

»Er ist nicht er selbst all diese letzten Tage, Sir; er spricht ziemlich viel. Erst heute morgen sagte er: ›Mein Bruder James wird alt.‹ Seine Sinne wandern, Mr. Soames, und dann will er von Ihnen sprechen. Er macht sich Sorgen über Ihre Vermögensanlagen. Neulich sagte er: ›Mein Bruder Jolyon will nichts von Konsols hören‹ – er schien ganz traurig darüber zu sein. Kommen Sie herein, Mr. Soames, kommen Sie herein! Es ist solche angenehme Abwechslung!«

»Gut«, sagte Soames, »für ein paar Minuten.«

»Nein«, flüsterte Smither in der Halle, wo die Luft die eigentümliche Frische des Wetters draußen hatte, »wir sind die ganze Woche nicht sehr zufrieden mit ihm gewesen. Sonst hat er den leckersten Bissen immer für zuletzt gelassen, aber seit Montag ißt er ihn zuerst. Wenn Sie einen Hund bei seinem Essen beobachten, werden Sie immer merken, Mr. Soames, daß er das Fleisch zuerst frißt. Wir haben es stets als ein so gutes Zeichen betrachtet, daß Mr. Timothy ihn in seinem Alter immer bis zuletzt gelassen hatte, jetzt aber scheint er alle Selbstkontrolle verloren zu haben, und er läßt das übrige natürlich stehen. Der Arzt findet nichts dabei, aber –« Smither schüttelte den Kopf – »er scheint zu denken, daß er ihn zuerst essen müsse, falls er nicht mehr dazu kommen sollte. Das und sein Reden beängstigt uns.«

»Hat er irgend etwas Wichtiges gesagt?«

»Das möchte ich nicht sagen, Mr. Soames, aber er hat etwas gegen sein Testament. Er wird ganz eigensinnig – und nachdem er es sich jahrelang jeden Morgen hat vorlegen lassen, scheint es sonderbar. Er sagte neulich: ›Sie wollen mein Geld.‹ Es traf mich wie ein Schlag, weil doch sicherlich, wie ich ihm auch sagte, niemand sein Geld wollte. Und es ist auch ein Jammer, daß er in seinem Alter jetzt überhaupt an Geld denkt. Ich faßte mir ein Herz. ›Sie wissen, Mr. Timothy‹, sagte ich, ›mein liebes gnädiges Fräulein‹ – das ist Miß Forsyte, Mr. Soames, Miß Ann, die mich angelernt hat – ›dachte nie an Geld‹, sagte ich, ›sie gab nur etwas auf Charakter.‹ Er sah mich an, ich kann gar nicht sagen wie merkwürdig, und sagte ganz trocken: ›Niemand will meinen Charakter.‹ Denken Sie nur, so etwas zu sagen! Manchmal aber sagt er auch etwas ganz Scharfes und Vernünftiges.«

Soames, der starr auf einen alten Druck neben dem Hutständer geblickt hatte, dachte: »Der hat jetzt großen Wert!« und murmelte: »Ich will hinaufgehen, ihn sehen, Smither.«

»Die Köchin ist bei ihm«, erwiderte Smither über ihrem Schnürleib, »sie wird sich freuen, Sie zu sehen.«

Mit dem Gedanken: »Ich möchte solch ein Alter nicht erreichen«, stieg er langsam hinauf.

Auf dem zweiten Treppenabsatz zögerte er und klopfte leise. Die Tür wurde geöffnet, und er sah das runde, gemütliche Gesicht einer etwa sechzigjährigen Frau.

»Mr. Soames!« sagte sie. »Ach! Mr. Soames!«

Soames nickte: »Gut, gut!« und trat ein.

Timothy saß aufrecht im Bett, die Hände vor der Brust gefaltet und die Augen auf die Zimmerdecke geheftet, wo eine Fliege hing. Soames stand am Fußende des Bettes ihm gegenüber.

»Onkel Timothy!« sagte er mit lauter Stimme, »Onkel Timothy!«

Timothys Augen verließen die Fliege und richteten sich auf den Besucher. Soames konnte seine blasse Zunge über die dunkeln Lippen streichen sehen.

»Onkel Timothy«, sagte er noch einmal, »kann ich irgend etwas für dich tun? Möchtest du mir irgend etwas sagen?«

»He!« sagte Timothy.

»Ich bin gekommen, nach dir zu sehen und zu fragen, ob alles in Ordnung ist.«

Timothy nickte. Er schien den Versuch zu machen, sich an die Erscheinung vor ihm zu gewöhnen.

»Hast du alles, was du brauchst?«

»Nein«, sagte Timothy.

»Kann ich dir irgend etwas besorgen?«

»Nein«, sagte Timothy.

»Ich bin Soames, weißt du, dein Neffe, Soames Forsyte. Der Sohn deines Bruders James.«

Timothy nickte.

»Es würde mich sehr freuen, irgend etwas für dich tun zu können.«

Timothy winkte. Soames ging dicht zu ihm hin.

»Du«, sagte Timothy mit einer Stimme, die ohne jeden Ton zu sein schien, »du mußt ihnen allen von mir sagen – sage ihnen allen –«, und sein Finger tippte auf Soames' Arm, »daß sie es abwarten sollen – abwarten – Konsols steigen«, und er nickte dreimal.

»Gut!« sagte Soames, »das will ich.«

»Ja«, sagte Timothy, und seine Augen auf die Decke heftend, fügte er hinzu: »Diese Fliege!«

Seltsam bewegt blickte Soames auf das angenehme, rundliche Gesicht der Köchin, das durch das Herdfeuer voll kleiner Fältchen war.

»Das wird ihm unendlich gut tun«, sagte sie.

Man hörte Timothy murmeln, aber er sprach offenbar mit sich selbst, und Soames ging mit der Köchin hinaus.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen einen rosa Creme machen, Mr. Soames, wie in alten Tagen, Sie mochten ihn so gern. Leben Sie wohl, es war eine solche Freude, Sie zu sehen.«

»Geben Sie acht auf ihn, er ist alt.«

Er drückte ihr die schrumplige Hand und ging hinunter. Smither schöpfte noch Luft in der Haustür.

»Wie finden Sie ihn, Mr. Soames?«

»Hm!« murmelte Soames. »Er hat jede Fühlung verloren.«

»Ja«, sagte Smither. »Ich fürchtete, daß Sie das denken würden, wo Sie eben frisch aus der Welt draußen kommen.«

»Smither«, sagte Soames, »wir stehen alle in Ihrer Schuld.«

»O nein, Mr. Soames, sagen Sie das nicht! Es ist ein Vergnügen – er ist ein so wundervoller Mann.«

»Nun, leben Sie wohl!« sagte Soames und stieg in seinen Taxameter, und die Worte »Abwarten – Konsols steigen!« klangen noch in seinen Ohren.

»Fertig!« dachte er. »Fertig!«

Als er ins Hotel zurückkehrte, ging er in ihr Wohnzimmer und klingelte nach Tee. Keine von ihnen war da. Und wieder überkam ihn das Gefühl der Vereinsamung. Diese Hotels! Wie ungeheuer groß sie jetzt waren! Er konnte sich noch vieler kleiner Hotels erinnern und wie man über das »Grand«- und das »Langhamhotel« die Köpfe geschüttelt hatte. Hotels und Klubs – Klubs und Hotels ohne Ende! Und Soames, der eben auf »Lords« Kricketplatz ein Wunder von Tradition und Beständigkeit beobachtet hatte, versank in Nachsinnen über die Veränderungen in dem London, wo er vor fünfundsechzig Jahren geboren war. Ob Konsols stiegen oder nicht, London war fürchterlich reich geworden. Es gab in der Welt keinen solchen Reichtum, außer vielleicht in New York! In den Zeitungen fand sich heutzutage eine Menge Hysterie; aber jemand, der sich, wie er, Londons vor sechzig Jahren erinnern konnte und es jetzt sah, war im klaren über die Fruchtbarkeit und Elastizität des Reichtums. Man brauchte nur den Kopf oben zu halten und mit Festigkeit vorzugehen. Er erinnerte sich noch, daß Kieselsteine und stinkendes Stroh auf den Boden der Droschken gestreut wurden. Und der alte Timothy – was hätte der ihnen wohl erzählen können, wenn er sein Gedächtnis behalten hätte! Alles schwankte, die Menschen lebten in Angst oder in Eile, aber hier waren die Themse und London und draußen das Britische Reich und die Enden der Welt. »Konsols steigen!« Ihn würde es nicht im geringsten überraschen. Es war die Rasse, auf die es ankam. Und alle Verbissenheit in Soames stierte für einen Moment aus seinen grauen Augen, bis ihn der Druck eines Bildes aus der viktorianischen Zeit an der Wand ablenkte. Das Hotel hatte drei Dutzend von dieser Sorte gekauft! Die alten Drucke von Jagden oder Vieh auf der Weide in den alten Wirtshäusern waren wohl des Ansehens wert – aber dies sentimentale Zeug – nun, der Viktorianismus war vorüber! »Sage ihnen, daß sie es abwarten sollen«, hatte der alte Timothy gesagt. Aber was sollten sie abwarten in diesem modernen Wirrwarr des »demokratischen Prinzips«? Sogar der Privatbesitz war bedroht! Und bei dem Gedanken, daß Privatbesitz völlig abgeschafft werden könnte, schob Soames seine Teetasse zurück und ging ans Fenster. Sich vorzustellen, nicht mehr von der Natur zu besitzen als die Menge da draußen von den Blumen und Bäumen und Wassern im Hydepark! Nein, nein! Privatbesitz war eine Stütze für alles, das wert war, besessen zu werden. Die Welt hatte den Verstand ein wenig verloren, wie Hunde bisweilen bei Vollmond den ihren verlieren und für eine Nacht auf Raub ausgehen, aber die Welt wußte, wie der Hund, wo die Butter für ihr Brot war und ihr warmes Bett, und würde sicherlich in das einzige Heim zurückkehren, das zu haben sich verlohnte – zum Privatbesitz. Die Welt war augenblicklich in ihrer zweiten Kindheit, wie der alte Timothy – und aß den leckersten Bissen zuerst.

Er hörte ein Geräusch hinter sich und sah, daß seine Frau und seine Tochter hereingekommen waren.

»Also, seid ihr zurück?« sagte er.

Fleur antwortete nicht, sie stand da und schaute ihn und ihre Mutter einen Augenblick an, dann ging sie in ihr Schlafzimmer. Annette goß sich eine Tasse Tee ein.

»Ich fahre nach Paris zu meiner Mutter, Soames.«

»So! Zu deiner Mutter?«

»Ja.«

»Auf wie lange?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und wann fährst du?«

»Montag.«

Reiste sie wirklich zu ihrer Mutter? Merkwürdig, wie gleichgültig es ihn ließ! Merkwürdig, wie klar sie die Gleichgültigkeit erkannt hatte, die er fühlen würde, solange es keinen Skandal gab. Und plötzlich sah er zwischen ihr und sich deutlich das Gesicht, das er heute nachmittag gesehen hatte – Irenens Gesicht.

»Wirst du Geld brauchen?«

»Danke, ich habe genug.«

»Gut denn. Laß uns wissen, wann du zurückkommst.«

Annette legte den Kuchen hin, an dem sie fingerte, und durch die dunkeln Wimpern aufblickend, sagte sie:

»Soll ich Mama etwas bestellen?«

»Meine Grüße.«

Annette reckte sich, legte die Hände um ihre Taille und sagte auf französisch:

»Welch ein Glück, daß du mich nie geliebt hast, Soames!«

Dann erhob sie sich und verließ das Zimmer. Soames war froh, daß sie französisch gesprochen hatte – es erforderte gewissermaßen kein Eingehen darauf. Wieder das andere Gesicht – bleich, dunkeläugig, noch immer schön! Und tief innen regte sich der Geist der Wärme, wie Funken unter einem Haufen loser Asche. Und Fleur betört von ihrem Jungen! Sonderbarer Zufall! Aber gab es denn einen Zufall? Es geht jemand durch die Straße, und ein Ziegelstein fällt ihm auf den Kopf. Das war ein Zufall, ohne Zweifel. Aber dies! »Geerbt«, hatte sein Mädel gesagt. Sie – sie »hielt fest daran«!


 << zurück weiter >>