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Erster Teil

Erstes Kapitel

Begegnung

In Gedanken über die Zukunft versunken, trat Soames Forsyte am Nachmittag des 12. Mai 1920 aus dem Knightsbridge-Hotel, wo er wohnte, um die Bildersammlung in einer Galerie nahe der Cork Street zu besuchen. Er ging zu Fuß. Seit dem Kriege nahm er nie eine Droschke, wenn es sich vermeiden ließ. Die Kutscher waren seiner Ansicht nach eine unhöfliche Gesellschaft, wenn sie auch jetzt, wo der Krieg vorüber war und das Angebot die Nachfrage wieder zu übersteigen begann, gewohnheitsmäßig höflicher wurden. Dennoch hatte er ihnen nicht verziehen, da er sie mit düsteren Erinnerungen und, wie alle Angehörigen ihrer Klasse, jetzt dunkel mit der Revolution identifizierte. Die große Angst, die er während des Krieges ausgestanden hatte, und die noch größere Angst, der er seither im Frieden ausgesetzt gewesen, war nicht ohne psychische Folgen für seine zähe Natur geblieben. Er hatte im Geiste so oft den Ruin erlebt, daß er aufgehört hatte, an dessen greifbare Wahrscheinlichkeit zu glauben. Zahlte man viertausend Pfund im Jahr an Einkommen- und anderen Steuern, was konnte einem da noch Ärgeres widerfahren! Ein Vermögen von einer Viertelmillion, wenn man nur für seine Frau und seine Tochter zu sorgen hatte, bot, da es auf sehr verschiedene Art angelegt war, selbst der »Kateridee« der Kapitalsabgabe gegenüber eine feste Garantie. Und was die Einziehung der Kriegsgewinne anbetraf, war er vollständig damit einverstanden, denn er hatte keine, und der »Bande« geschah ganz recht! Der Preis der Bilder überdies war mehr gestiegen als irgend etwas, und mit seiner Sammlung war es ihm seit dem Kriege besser gegangen denn je zuvor. Luftangriffe hatten ebenfalls günstig auf einen Geist gewirkt, der von Natur vorsichtig war, und einen an sich eigensinnigen Charakter gestählt. Ist man in Gefahr, völlig zerstückelt zu werden, so verringert sich die Furcht vor der teilweisen Zerstückelung, die Abgaben und Steuern mit sich bringen, während die Gewohnheit, die Unverschämtheit der Deutschen zu verurteilen, natürlich dazu geführt hatte, die der Arbeiter, wenn nicht offen, so doch im Grunde seines Herzens zu verurteilen.

Er ging zu Fuß. Übrigens hatte er noch keine Eile, denn Fleur sollte ihn um vier Uhr in der Galerie treffen, und es war erst halb drei. Das Gehen tat ihm gut – seine Leber beengte ihn ein wenig, und seine Nerven waren ziemlich angegriffen. Seine Frau war immer unterwegs, wenn sie in der Stadt waren, und seine Tochter hatte, wie die meisten jungen Mädchen seit dem Kriege, nichts anderes im Sinn, als rastlos, wie ein Irrwisch, umherzuschwärmen. Aber er mußte dankbar sein, daß sie zu jung gewesen, im Kriege selbst etwas zu unternehmen. Natürlich hatte er den Krieg von Anbeginn mit ganzer Seele unterstützt, aber zwischen dieser Unterstützung und der körperlichen seiner Frau und seiner Tochter war ein himmelweiter Unterschied gewesen, und bei seinen etwas altmodischen Anschauungen verabscheute er jede extravagante Regung. Er war zum Beispiel streng dagegen gewesen, daß Annette, die so anziehend und 1914 erst vierunddreißig Jahre alt war, nach ihrer Heimat Frankreich, ihrer » chère patrie«, ging, wie sie es, durch den Krieg angeregt, zu nennen begonnen hatte, um ihre » braves poilus« zu pflegen! Das fehlte gerade, ihre Gesundheit und ihr Aussehen aufs Spiel zu setzen! Als ob sie wirklich Pflegerin wäre! Er hatte nichts davon hören wollen. Mochte sie zu Haus Handarbeiten machen oder stricken für sie! Sie war daher nicht gegangen und seitdem nie wieder ganz dieselbe gewesen. Eine böse Gewohnheit, ihn nicht offen, aber fortgesetzt auf allerlei Art zu verspotten, hatte sich verstärkt. Und für Fleur war durch den Krieg das schwierige Problem entstanden, ob sie in eine Pension kommen sollte oder nicht. Er hielt es für besser, wenn sie fern von der Mutter in ihrer Kriegsstimmung war, fern von dem Zufall der Luftangriffe und dem Bestreben, extravagante Dinge zu unternehmen; er hatte sie in einem Seminar so weit weg untergebracht, wie es ihm mit Vortrefflichkeit vereinbar schien, und hatte sie furchtbar vermißt. Fleur! Er hatte diesen etwas ausländischen Namen, für den er sich bei ihrer Geburt so plötzlich entschieden hatte – wenn es auch eine Konzession an die Franzosen gewesen war –, nie bereut. Fleur! Ein hübscher Name – ein hübsches Kind! Aber unstet – zu unstet, und eigenwillig! Sie kannte auch ihre Macht über ihren Vater! Soames dachte oft darüber nach, welch ein Fehler es war, in seine Tochter vernarrt zu sein. Alt zu werden und vernarrt zu sein! Fünfundsechzig! Er wurde älter, aber er fühlte es nicht, denn glücklicherweise vielleicht, wenn man Annettens Jugend und gutes Aussehen in Betracht zog, hatte seine zweite Ehe sich als eine kühle Angelegenheit herausgestellt. Er hatte in seinem Leben nur eine wahre Leidenschaft gekannt – für seine erste Frau – für Irene. Ja, und sein Vetter Jolyon, der mit ihr auf und davon gegangen war, sähe sehr klapprig aus, sagten sie. Kein Wunder mit zweiundsiebzig, nach zwanzig Jahren einer dritten Ehe!

Soames hielt einen Augenblick im Gehen inne, um sich über das Parkgitter zu lehnen. Ein passender Ort für Erinnerungen auf halbem Wege zwischen dem Haus in Park Lane, das seine Geburt und den Tod seiner Eltern gesehen, und dem kleinen Haus in Montpellier Square, wo er vor fünfunddreißig Jahren die erste Ausgabe seiner Ehe genossen hatte. Jetzt, nach zwanzig Jahren der zweiten Ausgabe, kam ihm die alte Tragödie vor wie ein Dasein, das er früher geführt – und das geendet hatte, als Fleur anstatt des Sohnes geboren war, auf den er gehofft. Seit vielen Jahren hatte er aufgehört, es auch nur vage zu bedauern, daß ihm kein Sohn geboren war; Fleur füllte sein Herz völlig aus. Schließlich trug sie ja seinen Namen, und er sehnte sich durchaus nicht nach der Zeit, wo sie ihn ändern würde. Dachte er jemals an solch eine Kalamität, so war sie durch das unbestimmte Gefühl gemildert, daß er sie reich genug machen könnte, um den Namen des jungen Mannes, der sie heiratete, vielleicht zu kaufen und auszulöschen – weshalb auch nicht, da Frauen doch heutzutage den Männern gleich waren, wie es den Anschein hatte? Und in der heimlichen Überzeugung, daß sie es nicht waren, strich sich Soames mit der gebogenen Hand kräftig über das Gesicht, bis sie gemächlich bis zum Kinn hinunterglitt. Dank seiner enthaltsamen Lebensweise war er nicht fett und schwammig geworden, seine Nase war blaß und dünn und der graue Schnurrbart kurz gestutzt, seine Sehkraft ungeschmälert. Ein leichtes Vorbeugen machte das Höherwerden der Stirn unter dem zurückweichenden Haar weniger sichtbar. Die Zeit hatte den »begütertsten« der jungen Forsytes, wie der letzte der alten Forsytes – Timothy – jetzt, in seinem hundertsten Jahr, es ausgedrückt hätte, wenig verändert.

Der Schatten der Platanen fiel auf seinen feinen Filzhut, er hatte die Zylinderhüte aufgegeben – es hatte keinen Zweck, in Zeiten wie diesen die Aufmerksamkeit auf Reichtum zu lenken. Platanen! Seine Gedanken wandelten lebhaft nach Madrid – Ostern vorm Kriege, als er jenes Goyabildes wegen einen Entschluß fassen mußte und eine Entdeckungsreise unternommen hatte, um den Maler an Ort und Stelle zu studieren. Der Mann hatte Eindruck auf ihn gemacht – ein sehr vielseitiger Maler, ein wahres Genie! Doch einen so hohen Rang er auch einnahm, er würde einen höheren einnehmen, bevor sie mit ihm fertig waren. Der zweite Goyarummel würde größer sein, als der erste gewesen, o ja! Und er hatte gekauft. Auf dieser Reise hatte er – was er nie zuvor getan – die Kopie eines Freskogemäldes, »La Vendimia« genannt, bestellt, auf dem die Gestalt eines Mädchens, einen Arm in die Seite gestemmt, ihn an seine Tochter erinnert hatte. Es hing jetzt in seiner Galerie in Mapledurham, und zwar ziemlich schlecht – man konnte Goya nicht kopieren. Wenn aber seine Tochter nicht mehr da war, würde er es um der Erinnerung willen, um des Unwiderstehlichen in der Beleuchtung, des straffen Gleichgewichts der Gestalt, der Weite zwischen den gewölbten Brauen, der glühenden verträumten Augen willen immer gern anschauen. Merkwürdig, daß Fleur dunkle Augen hatte, wo seine eigenen grau waren – kein echter Forsyte hatte braune Augen, und die ihrer Mutter waren blau! Aber natürlich, die Augen Madame Lamottes, ihrer Großmutter, waren dunkel wie Sirup!

Er ging weiter bis zur Hydepark Corner. In ganz England gab es keine größere Veränderung als auf dem Reitweg in diesem Park. Beinah in Schußweite davon geboren, konnte er sich dessen seit 1860 erinnern. Als Kind hatte man ihn hingebracht, um zwischen Krinolinen die Dandys in engen Hosen mit Backenbärten anzustaunen, die in steifer Haltung vorüberritten, zu beobachten, wie die krausrandigen und die steifen weißen Hüte aus der Mode kamen und der kleine krummbeinige Mann in langer roter Weste, der mit Hunden an etlichen Leinen: King-Charles-Wachtelhunden und italienischen Windspielen, die in die Krinoline seiner Mutter verliebt waren, unter die modischen Leute zu kommen pflegte und versuchte, einen an sie verkaufen – jetzt war so etwas nie mehr zu sehen. Man sah niemand mehr von Rang, nur noch Arbeitervolk, das dumpf in Reihen saß und nichts zum Anstarren hatte als ein paar rittlings in den Sätteln sitzende kecke junge Reiterinnen mit Topfhüten oder Leute aus den Kolonien, die planlos auf elenden Mietsgäulen auf und nieder ritten, ab und zu hier und dort kleine Mädchen auf Ponys oder alte Herren, die sich Bewegung machten, zuweilen auch eine Ordonnanz auf einem großen Kavalleriepferd; kein Vollblut, keine Grooms, keine Verbeugung, kein Scharren, keine Unterhaltung – nichts, nur die Bäume waren dieselben – die Bäume, die den Generationen und dem Verfall der Menschheit gegenüber gleichgültig blieben. Ein demokratisches England – zersplittert, eilig, laut und offenbar ohne ein Ziel. Etwas wie stolze Verachtung regte sich in Soames. Für immer vorbei der enge Kreis von Vornehmheit und Rang! Reichtum gab es wohl – o ja! Reichtum – er selbst war ein reicherer Mann, als sein Vater je gewesen, aber Manieren, Geschmack, Qualität, damit war es vorbei, es war alles in einen öden, häßlichen, wüsten, nach Maschinenöl riechenden Rummel versunken. Hier und dort verstreut und » chétif«, wie Annette sagen würde, ein paar halb heruntergekommene Leute vornehmen Standes, aber nichts von Bestand und Zusammenhang mehr. Und in dies neue Durcheinander von schlechten Manieren und lockeren Sitten war seine Tochter – die Blume seines Lebens – hineingeschleudert! Und wenn diese Gesellen von der Arbeiterpartei an die Macht kamen – wenn das jemals geschah –, mußte man auf das Schlimmste gefaßt sein!

Er ging durch das Tor, das – Gott sei Dank – nicht mehr durch das Kanonengrau seines Scheinwerfers verunstaltet war. »Sie sollten lieber dort einen Scheinwerfer anbringen, wohin sie alle gehen«, dachte er, »und ihre kostbare Demokratie beleuchten!« Dann setzte er seinen Weg an den Klubfronten der Piccadilly entlang fort. George Forsyte würde natürlich an dem Bogenfenster des Iseeum-Klubs sitzen. Der Mensch war jetzt so stark geworden, daß er fast seine ganze Zeit dort zubrachte, einem reglosen, spöttischen, humoristischen Auge gleich, das den Niedergang von Menschen und Dingen beobachtete. Und Soames, der sich im Grunde immer unbehaglich unter dem Blick seines Vetters fühlte, beeilte sich, vorbeizukommen. George hatte, wie er gehört, mitten im Kriege einen Brief mit der Unterschrift »Patriot« geschrieben und sich über die Hysterie der Regierung beklagt, die den Hafer für die Rennpferde beschlagnahmt hatte. Ja, da war er, groß, wuchtig, geschniegelt, glatt rasiert, mit seinem schlichten Haar, das kaum dünner geworden war und sicher nach dem besten Haarwuchsmittel roch, und einem Rennprogramm in der Hand. Nein, er veränderte sich nicht! Und vielleicht zum erstenmal in seinem Leben empfand Soames eine gewisse Sympathie unter seiner Weste für diesen spottlustigen Verwandten. Mit seinem Gewicht, seinem vollkommen gescheitelten Haar und dem stierähnlichen Blick war er eine Gewähr dafür, daß die alte Ordnung noch manchem Stoß widerstehen würde. Er sah George das Rennprogramm bewegen, wie um ihn aufzufordern, heraufzukommen – er wollte ihn wohl etwas über das Vermögen fragen. Es stand noch unter Soames' Kontrolle, denn bei der Annahme einer stillen Teilhaberschaft in jener schmerzlichen Periode vor zwanzig Jahren, als er sich von Irene hatte scheiden lassen, war Soames, fast ohne es zu wollen, weiter Verwalter aller reinen Forsyteangelegenheiten geblieben.

Einen Augenblick zögernd, nickte er und ging hinein. Seit dem Tode seines Schwagers Montague Dartie in Paris, bei dem niemand recht wußte, was er davon halten sollte, wenn es auch sicher kein Selbstmord gewesen war, schien Soames der Iseeum-Klub viel solider. Auch George hatte sich, das wußte er, die Hörner abgelaufen und völlig den Freuden der Tafel gewidmet; er aß nur vom Allerbesten, um sein Gewicht niederzuhalten, und besaß, wie er sagte, »nur eben einen oder zwei alte Gäule, um sein Interesse am Leben aufrechtzuerhalten«. Er setzte sich daher ohne das verwirrende Gefühl, seinen Taktlosigkeiten ausgesetzt zu sein, das er hier sonst immer gehabt, zu seinem Vetter an das große Fenster. George streckte eine wohlgepflegte Hand aus.

»Hab' dich seit dem Kriege nicht gesehen«, sagte er. »Wie geht's deiner Frau?«

»Danke«, sagte Soames kühl, »ganz gut.«

Ein verstohlenes Lächeln huschte für einen Augenblick über Georges fleischiges Gesicht und stierte aus seinen Augen.

»Dieser Belgier Profond«, sagte er, »ist jetzt hier Mitglied geworden. Er ist ein schnurriger Geselle.«

»Ja!« murmelte Soames. »Was wolltest du von mir?«

»Der alte Timothy kann sich jeden Augenblick aus dem Staube machen. Ich vermute, er hat sein Testament gemacht.«

»Ja.«

»Nun, du oder irgend jemand müßte einmal nach ihm sehen – dem Letzten von der alten Sorte – er ist hundert Jahre alt, weißt du. Sie sagen, er sei wie eine Mumie. Wohin wollt ihr ihn bringen? Er müßte eigentlich eine Pyramide bekommen.«

Soames schüttelte den Kopf. »Highgate, in die Familiengruft.«

»Ich glaube, die alten Mädchen würden ihn vermissen, wenn er woanders wäre. Sie sagen, ihm liege noch etwas am Essen. Er könnte noch lange leben. Bekommen wir nichts für die alten Forsytes? Es waren zehn – Durchschnittsalter achtundachtzig – ich habe es ausgerechnet.«

»Ist das alles?« sagte Soames. »Ich muß weiter.«

»Du ungeselliger Teufel«, schienen Georges Augen zu antworten. »Ja, das ist alles. Besuche ihn in seinem Mausoleum – der alte Bursche könnte prophezeien wollen.« Das Grinsen erstarb in den reichen Kurven seines Gesichts, und er fügte hinzu: »Habt ihr Advokaten noch keinen Kniff entdeckt, diese verwünschte Einkommensteuer abzuschaffen? Sie trifft das ererbte feste Einkommen ganz verteufelt. Ich pflegte Zweitausendfünfhundert im Jahr zu haben; jetzt habe ich bettelhafte Fünfzehnhundert, und der Preis der Lebenshaltung hat sich verdoppelt.«

»Ah!« murmelte Soames, »der Rennplatz ist in Gefahr.«

Über Georges Gesicht huschte ein Strahl spöttischer Selbstverteidigung.

»Ich bin zum Nichtstun erzogen«, sagte er, »und hier werde ich immer älter und werde jeden Tag ärmer. Dies Arbeitergesindel meint, daß ihm alles zufällt, bevor sie noch etwas getan haben. Was wirst du tun, deinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn es dazu kommt? Ich werde sechs Stunden am Tage arbeiten, um Politiker zu lehren, wie man einen Scherz auffaßt. Nimm meinen Tip, Soames; gehe ins Parlament, sichere dir deine Vierhundert – und stelle mich an.«

Und als Soames sich entfernte, nahm er seinen Platz an dem Bogenfenster wieder ein.

Tief in Nachdenken versunken und erregt durch die Worte seines Vetters, setzte Soames seinen Weg der Piccadilly entlang fort. Er selbst war immer ein Arbeiter und Sparer gewesen, George stets eine Drohne und ein Verschwender; und doch, wenn die Einziehung des Vermögens einmal begann, war er es – der Arbeiter und Sparer –, der ausgebeutet wurde! Es war die Verneinung allen Ansehens, ein Umstürzen aller Forsytegrundsätze. Konnte die Zivilisation auf irgendwelchen andern aufgebaut werden? Er glaubte es nicht. Nun, sie würden keine Bilder konfiszieren, denn sie würden ihren Wert nicht kennen. Aber was würden sie wert sein, wenn diese Wahnsinnigen anfingen, das Kapital zu melken? Wertlose Ware auf dem Markt. »Es ist mir nicht um mich selbst zu tun«, dachte er; »ich könnte mit Fünfhundert im Jahre leben und würde in meinem Alter den Unterschied gar nicht merken.« Aber Fleur! Dies Vermögen, das so klug angelegt war, diese zahlreichen Kunstschätze, die so sorgfältig gewählt waren, sollten alle ihr gehören. Und wenn es dazu käme, daß er ihr alles das nicht hinterlassen oder geben konnte – ja, dann war das Leben ohne Sinn, und welchen Zweck hatte es eigentlich, da hineinzugehen und sich diese verrückten, futuristischen Sachen anzusehen und zu beurteilen, ob sie eine Zukunft hatten?

Als er jedoch in der Galerie der Cork Street anlangte, zahlte er seinen Schilling, nahm einen Katalog und trat ein. Etwa zehn Personen streiften dort umher. Soames' Blick fiel auf etwas, das er für einen Laternenständer hielt, der durch eine Kollision mit einem Motoromnibus umgebogen war. Es stand etwa drei Schritt von der Wand entfernt und war in seinem Katalog als »Jupiter« bezeichnet. Er prüfte es neugierig, denn er hatte kürzlich seine Aufmerksamkeit mehr der Skulptur zugewendet. »Wenn das Jupiter ist«, dachte er, »möchte ich wissen, wie Juno aussieht.« Und plötzlich sah er sie gegenüber. Sie erinnerte ihn lebhaft an eine Pumpe mit zwei Schwengeln, leicht in Schnee gehüllt. Er betrachtete sie noch voll Staunen, als zwei der Besucher neben ihm stehenblieben. »Großartig!« hörte er den einen sagen.

»Quatsch!« brummte Soames vor sich hin.

Die knabenhafte Stimme des andern erwiderte:

»Fehlgeschossen, lieber Freund; er führt dich an der Nase herum. Als er Jupiter und Juno schuf, sagte er: ›Ich will sehen, wieviel diese Narren sich gefallen lassen.‹ Und dann haben die sich alles gefallen lassen.«

»Grünschnabel du! Bospovitsch ist ein Neuerer! Siehst du nicht, daß er Satire in die Skulptur gebracht hat? Die Zukunft der Bildhauerkunst, der Musik, der Malerei und selbst der Architektur hat satirisch eingesetzt. Es mußte so kommen. Die Leute sind es müde – dem Gefühl ist der Boden ausgeschlagen.«

»Nun, ich würde mich ebensogut ein wenig für Schönheit interessieren. Ich bin mit im Kriege gewesen. Sie haben Ihr Taschentuch fallen lasten, Sir.«

Soames sah sein Taschentuch vor sich hingehalten. Er nahm es mit einem natürlichen Mißtrauen und hielt es an die Nase. Es hatte den richtigen Duft – roch schwach nach Eau de Cologne – und seine Initialen in der Ecke. Ziemlich beruhigt blickte er auf das Gesicht des jungen Mannes. Es hatte faunähnliche Ohren, einen lachenden Mund, mit einer halben Zahnbürste, die an jeder Seite daraus hervorwuchs, und kleine lebhafte Augen, im ganzen eine normal gekleidete Erscheinung. »Danke Ihnen«, sagte er und fügte, durch eine gewisse Erregung getrieben, hinzu: »Ich freue mich, daß Sie Schönheit lieben; es ist selten heutzutage.«

»Ich bin vernarrt in sie«, sagte der junge Mann; »aber Sie und ich sind die Letzten der alten Garde, Sir.«

Soames lächelte.

»Wenn Sie sich wirklich etwas aus Bildern machen«, sagte er, »hier ist meine Karte. Ich kann Ihnen einige ganz gute zeigen, wenn Sie an irgendeinem Sonntag den Fluß entlang kommen und Lust haben, sie anzuschauen.«

»Riesig liebenswürdig, Sir. Ich komme hereingeschneit, ehe Sie sich's versehen. Mein Name ist Mont – Michael.« Und er nahm den Hut ab.

Soames, der seinen Einfall schon bereute, lüftete den seinen ebenfalls ein wenig und warf dabei einen Blick auf den Gefährten des jungen Mannes, der eine purpurrote Krawatte trug, einen schrecklichen kleinen Backenbart und einen verächtlichen Blick hatte – als wäre er Dichter!

Es war die erste Unbesonnenheit, die er seit langer Zeit begangen hatte. Was war ihm nur eingefallen, einem so ungestümen jungen Burschen, der mit einem solchen Menschen umherging, seine Karte zu geben? Und Fleur, die immer im Hintergrund seiner Gedanken war, trat hervor wie eine Filigranfigur aus einer Uhr, wenn die Stunde schlägt. An der Wand ihm gegenüber war eine Leinwand mit einer großen Menge dicker tomatenfarbener Blasen darauf, sonst weiter nichts, soviel Soames von seinem Platz aus sehen konnte. Er sah in seinem Katalog nach: »Nr. 32 – ›Die zukünftige Stadt‹ – Paul Post.« »Vermutlich ist das auch satirisch«, dachte er. »Was für ein Zeug!« Aber sein zweiter Impuls war vorsichtiger. Man durfte nicht zu schnell verdammen. Da waren jene streifigen, gestrichelten Schöpfungen Monets, die solche Trümpfe geworden waren; und dann die Schule der Pointillisten; und Gauguin. Sogar seit den Nachimpressionisten hatte es zwei oder drei Maler gegeben, die nicht zu verachten waren. Während der achtunddreißig Jahre seines Kennerlebens hatte er in der Tat so viele »Bewegungen« beobachtet, den Umschwung des Geschmacks und der Technik so ebben und fluten sehen, daß man wirklich nichts sagen konnte, als daß aus jedem Wechsel der Mode Geld zu machen war. Auch dies konnte ein Fall sein, wo man den allerersten Instinkt unterdrücken oder den Markt verlieren mußte. Er stellte sich vor das Bild und bemühte sich, es mit den Augen anderer Leute zu betrachten. Über den Tomatenblasen war etwas, das er für einen Sonnenuntergang hielt, bis jemand im Vorübergehen sagte: »Er hat die Flugmaschine wundervoll herausbekommen, findest du nicht?« Unter den Tomatenblasen war ein Band von Weiß mit vertikalen schwarzen Streifen, dem er keinerlei Bedeutung unterzulegen vermochte, bis wieder jemand vorbeikam und murmelte: »Welch einen Ausdruck er seinen Vordergründen gibt!« Ausdruck? Wovon? Soames ging zu seinem Sitz zurück. »Das Ding hatte etwas Reiches«, wie sein Vater gesagt hätte, und er wollte nicht einen Pfifferling dafür geben. Ausdruck! Ach! Sie waren jetzt alle Expressionisten auf dem Kontinent, wie er gehört hatte. Also kam es auch hierher, wirklich? Er erinnerte sich der ersten Influenzawelle im Jahre 87 oder 88 – die aus China stammte, wie man sagte. Er hätte gern gewußt, wo dieser – dieser Expressionismus eigentlich herstammte. Die Sache war eine reguläre Krankheit!

Er hatte eine Dame und einen jungen Mann bemerkt, die zwischen ihm und der »Zukünftigen Stadt« standen. Sie kehrten ihm den Rücken zu, sehr plötzlich aber hielt Soames sich seinen Katalog vor das Gesicht, zog seinen Hut nach vorn und starrte durch den Spalt dazwischen hin. Nicht zu verkennen dieser Rücken, elegant wie immer, obwohl das Haar oben ergraut war. Irene! Seine geschiedene Frau – Irene! Und dies war ohne Zweifel ihr Sohn – von diesem Burschen Jolyon Forsyte –, ihr Junge, sechs Monate älter als sein Mädel! Im Geiste durchlebte er nochmals die bittern Tage seiner Scheidung und erhob sich, um ihnen aus dem Wege zu gehen, setzte sich aber rasch wieder hin. Sie hatte den Kopf gewandt, um mit ihrem Jungen zu sprechen, ihr Profil war noch so jugendlich, daß ihr graues Haar wie gepudert schien, als wäre sie in einem Phantasiekostüm; und ihre Lippen lächelten, wie Soames, ihr erster Besitzer, sie nie hatte lächeln sehen. Ärgerlich mußte er zugeben, daß sie noch schön war und so jung aussah wie je. Und wie der Junge das Lächeln erwiderte! Der Anblick beleidigte seinen Gerechtigkeitssinn. Er mißgönnte ihr das Lächeln des Jungen – es übertraf alles, was Fleur ihm gab, und das war unverdient. Ihr Sohn hätte der seine sein können; Fleur hätte ihre Tochter sein können, wenn sie sich richtig verhalten hätte! Er senkte seinen Katalog. Sah sie ihn, um so besser. Eine Mahnung an ihr Benehmen in Gegenwart ihres Sohnes, der wahrscheinlich von nichts wußte, würde ein heilsamer Wink der Nemesis sein, die sie sicher früher oder später heimsuchen mußte! Dann kam Soames halb unbewußt der Gedanke, daß es extravagant für einen Forsyte seines Alters sei, so zu denken, und er nahm seine Uhr heraus. Vier vorüber! Fleur verspätete sich. Sie war zu seiner Nichte, Imogen Cardigan, gegangen, und dort hielten sie sie wohl mit ihren Zigaretten und ihrem Geschwätz fest. Er hörte den jungen Mann lachen und munter sagen: »Ob dies wohl eine von Tante Junes ›lahmen Enten‹ ist, Mama?«

»Paul Post – ich glaube, es ist so, Liebling.«

Bei dem Wort zuckte Soames leise zusammen; er hatte sie es nie brauchen hören. Und dann sah sie ihn. Seine Augen mußten etwas von George Forsytes spöttischem Blick gehabt haben, denn ihre Hand krampfte sich um die Falten ihres Rockes, sie zog die Augenbrauen hoch, und ihr Gesicht versteinerte sich. Sie ging weiter.

»Ein Beispiel dafür, wie man nicht malen darf«, sagte der Junge, und ergriff wieder ihren Arm.

Soames starrte ihnen nach. Der junge Mann sah gut aus mit dem Forsytekinn und den tiefliegenden dunkelgrauen Augen, die aber etwas Sonniges hatten, als wäre ein Glas alten Sherrys darüber ausgegossen, auch über sein Lächeln vielleicht und sein Haar. Sie hatten es besser, als sie es verdienten – die beiden! Im nächsten Zimmer kamen sie ihm aus dem Gesicht, und Soames fuhr fort, die »Zukünftige Stadt« zu betrachten, sah aber nichts. Ein leises Lächeln schürzte seine Lippen. Er verachtete die Heftigkeit seiner eigenen Gefühle nach all diesen Jahren. Gespenster! Und doch, wenn man alt wurde – blieb da irgend etwas zurück, das nicht gespensterhaft war? Ja, da war ja Fleur! Er heftete den Blick auf den Eingang. Sie mußte jetzt kommen, aber sie ließ ihn warten, natürlich! Und plötzlich spürte er etwas wie einen menschlichen Atem – eine kleine schmächtige Gestalt in einem seegrünen Djibbah mit Metallgürtel und einem Stirnband um das widerspenstige rotgoldene, ganz mit grauen Strähnen durchsetzte Haar. Sie sprach mit dem Galeriediener, und etwas in ihren Augen, ihrer Miene, in ihrem ganzen Wesen, etwas, das an einen schlanken Terrier gerade vor seinem Mittagessen erinnerte, kam ihm bekannt vor. Sicherlich June Forsyte! Seine Kusine June – und sie kam geradeswegs auf seine Nische zu! Tief in Gedanken setzte sie sich neben ihn, nahm ein Täfelchen heraus und notierte etwas. Soames regte sich nicht. »Eine verwünschte Geschichte, diese Verwandtschaft! Widerlich!« hörte er sie murmeln; dann, als fühle sie die Gegenwart eines zuhörenden Fremden, sah sie ihn an. Das Schlimmste war geschehen!

»Soames!«

Soames wandte den Kopf ein klein wenig.

»Wie geht es dir?« sagte er. »Habe dich seit zwanzig Jahren nicht gesehen.«

»Nein. Was führte dich her?«

»Meine Sünden«, sagte Soames. »Was für Zeug!«

»Zeug? O ja – natürlich; es ist noch nicht ›anerkannt‹!«

»Das wird es nie«, sagte Soames; »es muß einen großen Verlust bringen.«

»Natürlich tut es das.«

»Woher weißt du das?«

»Es ist meine Galerie.«

Soames war sprachlos vor Staunen.

»Deine? Wie in aller Welt kommst du darauf, eine Ausstellung, wie diese, zu wagen?«

»Ich behandle die Kunst nicht, als wäre sie ein Kramhandel.«

Soames wies auf die »Zukünftige Stadt«. »Sieh dir das an! Wer wird in einer solchen Stadt oder mit ihr an der Wand leben wollen?«

June betrachtete das Bild einen Augenblick. »Es ist eine Vision«, sagte sie.

»Ach! Was du sagst!«

Es entstand Schweigen, und June erhob sich. »Verrücktes Geschöpf!« dachte er.

»Du wirst deinen jungen Stiefbruder mit einer Frau treffen, die ich einst kannte. Wenn du meinem Rat folgen willst, müßtest du die Ausstellung schließen.«

June sah sich nach ihm um. »Oh! Du Forsyte!« sagte sie und ging weiter. Über ihrer leichten, flüchtigen Gestalt, die sich plötzlich so schnell entfernte, lag eine gefährliche Entschiedenheit. Forsyte! Natürlich war er ein Forsyte! Und sie ebenfalls! Doch seit der Zeit, wo sie Bosinney in sein Leben gebracht, um es zu zerstören, hatte er sich nie mit June versöhnen können – und würde es nie! Und nun war sie hier, unverheiratet bis heute, im Besitz einer Galerie! ... Und plötzlich fiel ihm ein, wie wenig er jetzt von seiner eigenen Familie wußte. Die alten Tanten bei Timothy waren seit vielen Jahren tot; es gab keine Ablagerungsstelle für Neuigkeiten mehr. Wie war es ihnen allen während des Krieges ergangen? Des jungen Rogers Junge war verwundet worden, St. John, Haymans zweiter Sohn, gefallen; der älteste des jungen Nicholas hatte das Kriegskreuz bekommen, oder was sie sonst gaben. Sie hatten alle irgendwie daran teilgenommen, glaubte er. Der Sohn Jolyons und Irenens war wohl zu jung gewesen, seine eigene Generation natürlich zu alt, wenn auch Giles Hayman einen Wagen für das Rote Kreuz geführt hatte und Jesse Hayman speziellen Dienst bei der Polizei gehabt – die »Siamesen« waren immer ein Sportsmanntyp gewesen! Und er selbst hatte eine Motorfeldambulanz gestiftet und die Zeitungen gelesen, bis er krank davon wurde, hatte viel Angst ausgestanden, keine Kleider gekauft und sieben Pfund an Gewicht verloren: er wußte nicht, was er in seinem Alter mehr hätte tun können. Zwar, wenn er darüber nachdachte, mußte er einräumen, daß er und seine Familie diesen Krieg ganz anders aufgenommen hatten als die Sache mit den Buren, wo, wie man annahm, alle Hilfsquellen des Reiches aufgeboten wurden. In dem alten Kriege freilich war sein Neffe Val Dartie verwundet worden und der älteste Sohn Jolyons an Darmtyphus gestorben, die »Siamesen« waren zu Pferde hinausgegangen und June als Pflegerin; allein all das waren Ausnahmen gewesen, während in diesem Krieg jeder selbstverständlich »das seinige« getan hatte, soviel er wußte. Es schien irgend etwas im Wachsen begriffen oder nahe dem Verfall. Waren die Forsytes weniger individuell geworden oder monarchischer oder weniger provinziell? Oder geschah es einfach, weil man die Deutschen haßte? ... Weshalb kam Fleur nicht, so daß er fort konnte? Er sah die drei zusammen aus dem andern Raum zurückkommen und an der gegenüberliegenden Wand vorübergehen. Der junge Mann stand jetzt vor der Juno. Und plötzlich sah Soames an der andern Seite von ihr – seine Tochter mit hochgezogenen Brauen. Er konnte ihre Augen seitwärts nach dem jungen Mann blicken und ihn den Blick erwidern sehen. Dann schob Irene ihren Arm unter den seinen und zog ihn fort. Soames sah ihn verstohlen zurückschauen und Fleur den Dreien nachsehen, als sie hinausgingen.

Eine Stimme sagte heiter: »Ein bißchen arg, Sir, nicht wahr?«

Der junge Mann, der ihm sein Taschentuch zurückgegeben hatte, ging wieder vorüber. Soames nickte.

»Ich weiß nicht, wohin wir noch geraten werden.«

»Oh! Da ist alles in Ordnung, Sir«, antwortete der junge Mann munter, »die wissen es auch nicht.«

Fleurs Stimme sagte: »Hallo, Vater! Da bist du ja!«, gerade, als hätte er sie warten lassen.

Der junge Mann riß den Hut herunter und ging weiter.

»Nun«, sagte Soames und sah sie von oben bis unten an, »du bist ja eine sehr pünktliche junge Dame!«

Dieser kostbare Besitz seines Lebens war von mittlerer Größe und Farbe, mit kurzem, nußbraunem Haar; ihre weit auseinander stehenden braunen Augen schwammen in so klarem Weiß, daß sie glänzten, wenn sie sich bewegten, und doch waren sie in der Ruhe beinah träumerisch unter den sehr weißen, schwarz bewimperten Lidern. Sie hatte ein reizendes Profil und nichts von ihrem Vater außer einem entschiedenen Kinn. Als er merkte, daß sein Ausdruck sanfter wurde, während er sie ansah, runzelte Soames die Stirn, um seine Gleichmütigkeit zu bewahren, wie es sich für einen Forsyte ziemte. Er wußte, daß sie nur zu sehr dazu neigte, sich seine Schwäche zunutze zu machen.

Sie schob ihre Hand unter seinen Arm und sagte:

»Wer war das?«

»Er hob mein Taschentuch auf. Wir sprachen über die Bilder.«

»Du wirst doch das nicht kaufen, Vater?«

»Nein«, sagte Soames grimmig, »und auch die Juno nicht, die du dir angesehen hast.«

Fleur zog ihn am Arm. »Oh! Laß uns gehen! Es ist eine schauderhafte Ausstellung!«

An der Tür begegneten sie dem jungen Manne namens Mont und seinem Gefährten. Aber Soames hatte eine abweisende Miene aufgesteckt und beachtete kaum den Gruß des jungen Menschen.

»Nun«, sagte er auf der Straße, »wen hast du bei Imogen getroffen?«

»Tante Winifred und jenen Monsieur Profond.«

»Ah!« murmelte Soames. »Was findet deine Tante denn an dem Burschen?«

»Ich weiß nicht. Er sieht ziemlich verschlagen aus – Mutter mag ihn ganz gern.«

Soames brummte.

»Vetter Val und seine Frau waren auch da.«

»Wie?« sagte Soames. »Ich dachte, sie wären nach Südafrika zurückgegangen.«

»O nein! Sie haben ihre Farm verkauft. Vetter Val will Rennpferde in Sussex züchten. Sie haben ein hübsches altes Landhaus bekommen und mich zu sich eingeladen.«

Soames hustete; die Nachrichten gefielen ihm nicht. »Wie sieht seine Frau jetzt aus?«

»Sie ist sehr still, aber hübsch, finde ich.«

Soames hustete wieder. »Ein toller Bursche, dein Vetter Val.«

»O nein, Vater, sie sind schrecklich anhänglich. Ich versprach, vom Samstag bis zum nächsten Mittwoch zu ihnen zu kommen.«

»Rennpferde züchten!« sagte Soames. Es war schlimm genug, aber nicht der Grund seines Mißfallens. Warum, zum Teufel, hatte sein Neffe nicht draußen in Südafrika bleiben können? Seine eigene Scheidung war schlimm genug gewesen, auch ohne die Heirat seines Neffen mit der Tochter seines Gegners, einer Halbschwester von June noch dazu und des jungen Menschen, den Fleur sich von den Pumpenschwengeln aus eben angeschaut hatte. Wenn er nicht aufpaßte, würde sie alles über die alte Schande erfahren! Unangenehme Geschichten. Sie verfolgten ihn an diesem Nachmittag wie ein Schwarm von Bienen!

»Ich sehe es nicht gern!« sagte er.

»Ich möchte die Rennpferde sehen«, murmelte Fleur, »und sie haben versprochen, mich reiten zu lassen. Vetter Val kann nicht viel gehen, weißt du, aber er reitet vollkommen. Er will mich ihre Galopps lehren.«

»Rennen!« sagte Soames. »Schade, daß der Krieg dem nicht ein Ende gemacht hat. Er schlägt seinem Vater nach, fürchte ich.«

»Ich weiß nichts von seinem Vater.«

»Nein«, sagte Soames verbissen. »Er interessierte sich für Pferde und brach sich in Paris den Hals, als er eine Treppe hinunterging. Gut für deine Tante, daß sie ihn los ist.« Mit gerunzelter Stirn erinnerte er sich seiner Erkundigung nach dieser Treppe, die er vor sechs Jahren in Paris eingezogen, einer ganz normalen Treppe in einem Hause, wo man Bakkarat zu spielen pflegte. Entweder Darties Gewinne oder die Art, wie er dazu gekommen war, waren seinem Schwager zu Kopf gestiegen. Die französische Art zu spielen war sehr lax gewesen; und so war er in große Schwierigkeiten geraten.

Ein Ausruf Fleurs zerstreute seine Aufmerksamkeit. »Sieh! Die Leute, die in der Galerie mit uns waren.«

»Was für Leute?« fragte Soames, der es sehr gut wußte.

»Ich finde die Frau sehr schön.«

»Komm in diese Konditorei«, sagte Soames plötzlich, und ihren Arm fester fassend, führte er sie hinein. Es war – für ihn – erstaunlich, das zu tun, und er sagte ziemlich unsicher: »Was willst du haben?«

»Oh! Ich brauche nichts. Ich bekam einen Cocktail und ein fabelhaftes Frühstück.«

»Wir müssen etwas nehmen, da wir einmal hier sind«, murmelte Soames, während er sie am Arm festhielt.

»Zweimal Tee«, sagte er, »und zwei von den Nougatdingern.« Aber kaum saß er äußerlich ruhig da, als sein Herz zusammenzuckte.

Die Drei – jene Drei kamen herein! Er hörte Irene etwas zu ihrem Jungen sagen und ihn antworten:

»O nein, Mama, dieser Platz ist ganz gut. Ganz mein Geschmack.« Und die Drei setzten sich.

In diesem höchst ungelegenen Augenblick, wo Geister und Schatten seiner Vergangenheit auf ihn einstürmten, in Gegenwart der beiden einzigen Frauen, die er je geliebt – seiner geschiedenen Frau und der Tochter ihrer Nachfolgerin –, fürchtete Soames die beiden nicht so sehr wie seine Kusine June. Sie konnte eine Szene machen – könnte die Kinder einander vorstellen –, sie war zu allem fähig. Er biß zu hastig in das Nougat, und es setzte sich an seiner Platte fest. Während er mit dem Finger daran stocherte, blickte er zu Fleur hinüber. Sie kaute träumerisch, aber ihre Augen ruhten auf dem Jungen. Der Forsyte in ihm sagte: »Denke, fühle, und es ist vorbei mit dir!« Und er gebrauchte verzweifelt seinen Finger. Eine Platte! Hatte Jolyon eine Platte? Hatte die Frau dort eine? Es hatte eine Zeit gegeben, wo er gesehen hatte, daß sie keine trug! Das wenigstens war etwas, das ihm nie genommen werden konnte. Und sie wußte es, wenn sie auch ruhig und beherrscht dort saß, als wäre sie nie sein Weib gewesen. Ein herbes Gefühl regte sich in seinem Forsyteblut, ein leiser Schmerz, der sich nur um Haaresbreite von Freude unterschied. Wenn nur June nicht plötzlich ihre Pfeile abschoß. Der Junge sprach mit ihnen.

»Natürlich, Tante June –«, so nannte er seine Halbschwester wirklich »Tante«? – allerdings, sie mußte wohl nächstens fünfzig sein! –, »es ist riesig gut von dir, sie zu ermutigen. Nur – zum Kuckuck!« Soames blickte verstohlen hin. Irenens erschreckter Blick weilte aufmerksam auf ihrem Jungen. Sie – sie hatte soviel Zärtlichkeit für – Bosinney –, für den Vater dieses Knaben – für diesen Knaben! Er berührte Fleurs Arm und sagte:

»Nun, hast du genug?«

»Noch eins, bitte, Vater.«

Es würde sie krank machen! Er ging an den Ladentisch, um zu zahlen. Als er sich wieder umdrehte, sah er Fleur nahe an der Tür stehen und ein Taschentuch halten, das der junge Mann ihr offenbar eben übergeben hatte.

»F. F.«, hörte er sie sagen. »Fleur Forsyte – es ist das meine. Danke vielmals.«

Guter Gott! Sie hatte den Trick versucht, von dem er ihr in der Galerie erzählt hatte – Affe!

»Forsyte? Aber – das ist ja auch mein Name. Vielleicht sind wir Verwandte.«

»Wirklich! Das sind wir gewiß. Es gibt keine andern. Ich wohne in Mapledurham, und Sie?«

»In Robin Hill.«

Frage und Antwort waren einander so rasch gefolgt, daß alles vorüber war, bevor er einen Finger rühren konnte. Er sah Irenens Gesicht sich erschreckt beleben, neigte unmerklich den Kopf und schob seinen Arm unter den Fleurs.

»Komm!« sagte er.

Sie regte sich nicht.

»Hörtest du nicht, Vater? Ist es nicht sonderbar – unser Name ist der gleiche. Sind wir verwandt?«

»Was sagst du?« erwiderte er. »Forsyte? Entfernt vielleicht.«

»Mein Name ist Jolyon, Sir. Jon abgekürzt.«

»Ah! Soso!« sagte Soames. »Ja. Entfernt. Sehr freundlich von Ihnen. Leben Sie wohl!«

Er ging weiter.

»Ich danke vielmals«, sagte Fleur. » Au revoir!«

» Au revoir!« hörte er den jungen Mann erwidern.


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