Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

33

Blangin wurde indessen unruhig, die Anwälte mußten sich zurückziehen, und das Gefängnis verlassend, überschritten sie den Neumarkt, als sie plötzlich nach wenigen Schritten einen Wandermusikanten bemerkten, dem einige Straßenjungen folgten.

Es war eine Art Straßenfiedler, gekleidet in ein Gewand, welches zwischen Überrock und Jacke die Mitte hielt. Auf einer schlechten Geige herumraspelnd, sang er mit dem reinsten Ausdrucke des in der Gegend landesüblichen Dialektes ein Lied.

»Frau Elster baut, wenn's Frühling kaum,
Ihr Nest auf einem Pappelbaum . . .
Aha! La la!
Ihr Nest auf einem Pappelbaum. . .
La la!«

Mechanisch griff Folgat in die Tasche und zog einige Sousstücke hervor, als der Sänger, der sich ihm näherte und seinen Hut zog, wie um die Gabe in Empfang zu nehmen, ihm zuflüsterte:

»Sie kennen mich wohl gar nicht mehr, Herr Anwalt?«

Folgat betrachtete den Musikanten mit Staunen.

»Sie hier!« sagte er dann.

»Ja, ich selbst, in Sauveterre seit heute morgen. Ich habe Sie erwartet, denn ich muß Sie sprechen, öffnen Sie mir heute abend um neun Uhr die kleine Hintertür im Garten des Herrn von Chandoré.«

Dann nahm er seine Geige wieder auf, zog sich zurück und sang mit munterer Stimme:

»Und als fünf Wochen dann vorbei,
Ein Elsterchen kroch aus dem Ei. . .
Aha! La la! –«

Damit verschwand er in der Seitenstraße.

Noch vielmehr als Folgat war der berühmte Anwalt von Sauveterre von dem unerwarteten Zusammentreffen und der seltsamen Erscheinung des Fiedlers überrascht. Kaum hatte dieser sich entfernt, so fragte er:

»Kennen Sie denn dieses Individuum?«

»Dieses Individuum«, erwiderte Folgat, »ist niemand anders als der Agent, von dem ich Ihnen gesprochen und den ich für unsere Zwecke gewonnen habe.«

»Goudar!«

»Jawohl, es ist Goudar.«

»Und Sie erkannten ihn nicht wieder?«

Der junge Anwalt lächelte.

»Bevor er sprach, nein«, entgegnete er. »Der Goudar, den ich kenne, ist viel größer, magerer, bartlos und hat bürstenartig kurz geschnittenes Haar. Dieser Straßenmusikant ist klein, dickbäuchig, bärtig und hat langes, glattes Haar, das ihm bis über den Nacken fällt. Wie konnte ich meinen Mann in seinem Vagabundenkostüm erkennen, eine alte Geige in der Hand und einen saintonesischen Rundgesang kauderwelschend?«

Herr Magloire lächelte nun ebenfalls.

»Was sind die Schauspieler von Profession gegen solche Leute!« sagte er. »Hier ist einer, der erst heute morgen ankommt und das Land schon so genau zu kennen scheint wie Cheminot selbst. Es sind kaum zwölf Stunden her, daß er sich in Sauveterre befindet, und doch weiß er schon von der kleinen Hintertüre in dem Garten des Herrn von Chandoré.«

»Ah, jetzt erkläre ich mir diesen Umstand, der mich anfangs ebenfalls überraschte!« versetzte Folgat. »Indem ich Herrn Goudar alles haarklein erzählte, mußte ich notwendigerweise auch von der kleinen Tür sprechen, welche Méchinet zu passieren hatte, als er mit Denise eine Unterredung haben sollte.«

Unter diesen Worten hatten sie das Ende der Rue nationale erreicht. Sie blieben stehen.

»Noch eins, bevor wir uns trennen«, sagte Magloire. »Sind Sie fest entschlossen, die Frau von Claudieuse aufzusuchen?«

»Ich habe es versprochen.«

»Was wollen Sie ihr sagen?«

»Das hängt von den Umständen ab. Jetzt weiß ich es noch nicht.«

»Soweit ich den Charakter der Gräfin kenne, wird sie beim ersten Anblick von Jacques' Brief Ihnen befehlen, sich zu entfernen.«

»Wer weiß! . . . Ich bin übrigens noch nie vor einem Schritte zurückgeschreckt, den mein Gefühl und mein Gewissen für notwendig erachteten.«

»Was auch geschehen möge, seien Sie vorsichtig, lassen Sie sich nicht fortreißen . . . Bedenken Sie, daß ein unangenehmes Aufsehen uns zwingen würde, unser Verteidigungssystem zu ändern, obschon es das einzige ist, welches einigen Erfolg verheißt.«

»Oh, seien Sie unbesorgt, Herr Kollege!«

Hierauf wechselten die Anwälte einen Händedruck und trennten sich. Magloire begab sich nach seiner Wohnung, Folgat in die Rue de la Montagne.

Es hatte bereits halb sechs Uhr geschlagen, der junge Anwalt beeilte sich, weil er fürchtete, erwartet zu werden. Und in der Tat wartete man auf ihn, um sich zu Tische zu setzen, aber als er in den Salon eintrat, dachte er nicht mehr daran, sich zu entschuldigen, so sehr war er betroffen von der Niedergedrücktheit und dem traurigen Aussehen der Verwandten und Freunde des Gefangenen.

»Haben Sie denn eine schlimme Neuigkeit erfahren?« fragte er zögernd.

»Die schlimmste, welche wir zu fürchten hatten, ja, mein Herr«, erwiderte der Marquis von Boiscoran. »Sie konnte von uns allen vorausgesehen werden, und doch hat sie uns getroffen wie ein Donnerschlag.«

Der junge Anwalt schlug sich vor die Stirn.

»Die Anklagekammer hat ihren Beschluß gefaßt!« rief er.

Der Marquis nickte bloß bejahend, da ihm die Stimme versagte.

»Es ist noch ein großes Geheimnis«, fügte Denise hinzu; »und wenn wir es kennen, so verdanken wir es lediglich unserem guten, unserem ergebenen Méchinet. Jacques ist vor das Geschworenengericht verwiesen.«

Sie wurde durch den Eintritt eines Dieners unterbrochen, welcher meldete, daß der Tisch gedeckt sei. Man begab sich in den Speisesaal, aber das Mahl war unter dem Eindrucke des neuesten Ereignisses so traurig als möglich. Denise allein, deren erstaunliche Energie einen fast fieberhaften Charakter angenommen hatte, stand Herrn Folgat bei, damit die Unterhaltung im Flusse blieb. Durch ihren Mund erfuhr der Anwalt, daß der Graf von Claudieuse entschieden gefährlich krank sei und daß er, gegen den Rat des Doktor Seignebos, der erklärt habe, die geringste Aufregung könne seinen Kranken töten, im Laufe des Tages die Letzte Kommunion empfangen solle.

»Und wenn er stirbt«, sagte Herr von Chandoré, »dann ist das für uns der letzte Schlag. Die ohnehin schon gegen Jacques sehr gereizte öffentliche Meinung würde nicht mehr zu versöhnen sein.«

Als das Mahl beendet war, trat Folgat an Denise heran.

»Ich habe Sie zu bitten, mein Fräulein«, sagte er, »mir den Schlüssel zu der kleinen Gartentür anzuvertrauen . . .«

Sie blickte ihn verwundert an.

»Ich habe«, fuhr er fort, »im geheimen den Polizeiagenten zu sprechen, der mir seine Mitwirkung zugesichert hat.«

»Ist er hier?«

»Seit heute morgen.«

Als Denise ihm den Schlüssel übergeben hatte, eilte Folgat in den hinteren Teil des Gartens, und beim dritten Schlag der neunten Stunde öffnete sich die kleine Tür, und der Straßenfiedler vom Neumarkt, Goudar, trat mit seiner Geige unter dem Arm in den Garten.

»Ein verlorener Tag!« begann er, ohne an einen Gruß zu denken. »Ein ganzer Tag, an dem ich nichts unternehmen konnte, bevor ich Sie gesprochen hatte.«

Er schien so voll Ärger, daß Folgat es unternahm, ihn zu beschwichtigen.

»Vor allem«, sagte er, »lassen Sie mich Ihnen ein Kompliment über Ihre ausgezeichnete Maskierung machen.«

Aber Goudar war gegen Lobsprüche vollkommen unempfindlich.

»Was wäre das für ein Detektiv, der sich nicht geschickt maskieren könnte!« versetzte er. »Ein schönes Verdienst, meiner Seele! . . . Und Sie können glauben, daß mir keins so zuwider ist wie dieses. Aber konnte ich denn in Sauveterre mit meiner wahren Persönlichkeit einfallen? Ein Detektiv! Brr! Alle Welt würde mich gemieden haben wie die Pest und meine Fragen nur mit Lügen beantwortet haben. Darum habe ich mich oft in diese abscheuliche Kutte gesteckt, die mir schon ganz vertraut geworden ist, und früher sechs Monate Violinunterricht genommen. Ein wandernder Musikus kann tun, was er will, ohne Verdacht zu erregen, er läuft in den Straßen umher oder die Landstraßen entlang, tritt in die Höfe, schleicht in die Häuser, besucht die Restaurants und Kneipen; er kann unter dem Vorwand, um Almosen zu bitten, die Leute anreden, sich ihnen nähern, ihnen folgen. Und daß ich das Kauderwelsch der Leute hier herum kenne, können Sie sich daraus erklären, daß ich sechs Monate in der Charente zugebracht habe, um die Spuren der falschen Banknoten des berüchtigten Gatebourse zu verfolgen. Wenn man in sechs Monaten nicht versteht, den Dialekt einer Provinz vollständig in sich aufzunehmen, taugt man nie zu einem Polizisten. Ich aber, ich bin einer, ich bin zu diesem abscheulichen Gewerbe verdammt, das meine Frau noch zur Verzweiflung bringt . . .«

»Nun, wenn«, versetzte Folgat, »Ihr Ehrgeiz wirklich der ist, mein lieber Goudar, von dem Sie mir sagten, so können Sie vielleicht sehr bald das Polizeigewerbe aufgeben, nämlich wenn Sie in der Angelegenheit des Herrn von Boiscoran zum Ziel gelangen.«

»Gibt er mir das Haus in der Rue de la Vigne?«

»Von ganzem Herzen.«

Der Mann der Präfektur erhob seine Hände zum Himmel.

»Das Haus in der Rue de la Vigne!« wiederholte er. »Dieses Paradies in dieser irdischen Welt. Einen ungeheuren Garten, einen Boden erster Qualität; und welche Lage, mein verehrter Herr!«

»Haben Sie auch irgendeinen neuen Beweisgegenstand gefunden?« fragte Folgat.

So rauh an die Wirklichkeit gemahnt, verfinsterte sich Goudar.

»Keinen«, erwiderte er. »Vergeblich habe ich alle Lieferanten ausgeforscht. Ich bin nicht weiter gekommen, als ich am ersten Tage war.«

»Nun, hoffen wir, daß Sie hier mehr Glück haben.«

»Ich hoffe es; aber um meine Tätigkeit beginnen zu können, bedarf ich Ihres Beistands. Ich muß den Doktor Seignebos und den Gerichtsschreiber Méchinet sehen. Bitten Sie diese, sich zu der Besprechung einzufinden, welche eine Nachricht von mir ihnen bezeichnet . . .«

»Sie sind schon vorbereitet.«

»Ferner bedarf ich, um mein Inkognito aufrechterhalten zu können, eine Aufenthaltserlaubnis des Bürgermeisters auf den Namen Goudar, reisender Musikant, lautend. Ich kann meinen Namen schon führen, weil mich hier niemand kennt. Aber ich muß diesen Erlaubnisschein noch heute abend erhalten, denn wo ich ein Obdach in Anspruch nehme, verlangt man meine Papiere zu sehen . . .«

»Erwarten Sie mich in einer Viertelstunde auf dieser Bank; ich werde sogleich zum Bürgermeister gehen . . .«

Eine Viertelstunde später hatte Goudar seinen Schein in der Tasche und ging damit in die Herberge zum »Roten Hammel«, der verrufensten in Sauveterre.

Angesichts einer peinlichen und unvermeidlichen Aufgabe verraten sich die Temperamente. Die einen bescheiden sich, soviel sie können, suchen Ausflüchte, zaudern, gleich den Frömmlern, welche ihre größte Sünde mit dem Ende ihrer Beichte abgetan glauben; die andern hingegen beeilen sich, ihre Beklemmungen von sich zu werfen und damit ein Ende zu machen so rasch als möglich.

Der Anwalt Folgat war von der zweiten Art. Am andern Morgen kaum erwacht, nahm er sich vor, noch am selben Vormittage die Frau von Claudieuse aufzusuchen, und gleich nach acht Uhr ging er, sorgfältiger als gewöhnlich gekleidet, aus dem Hause, indem er einem Diener sagte, daß man ihn nicht erwarten solle, wenn er zur Zeit des Frühstücks noch nicht wieder zurück sei.

Zunächst begab er sich ins Gerichtsgebäude in der Hoffnung, Méchinet zu treffen. Seine Hoffnung täuschte ihn nicht. Der Wartesaal war noch leer, aber der Gerichtsschreiber befand sich bereits in seiner Kanzlei, in jener fieberhaften Tätigkeit, welche der immerwährende Gedanke an ein noch nicht bezahltes Grundstück antreibt. Er erhob sich bei Folgats Eintritt sogleich.

»Sie wissen schon von der Entscheidung der Anklagekammer?« sagte er.

»Ja, dank Ihrer Gefälligkeit! Und ich kann Ihnen gestehen, daß ich davon nicht überrascht worden bin. Was denkt man im Gericht davon?«

»Jedermann hält eine Verurteilung für wahrscheinlich.«

»Nun, wir werden ja sehen!« versetzte der junge Anwalt, und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort:

»Ich komme jetzt in einer andern Angelegenheit. Der geheime Agent, den ich erwartete, ist angelangt und wünscht Sie zu sehen. Er schreibt Ihnen, um Ihnen eine Zusammenkunft vorzuschlagen, und ich bitte Sie, im Einverständnis mit ihm, darauf einzugehen.«

»Gewiß, von ganzem Herzen!« erwiderte der Gerichtsschreiber; »und Gott gebe, daß es ihm gelingt, Herrn von Boiscoran schuldfrei zu machen, selbst wenn es sich nur darum handelte, die Prahlerei meines werten Prinzipals ein wenig zu demütigen.«

»Ah, Herr Galpin-Daveline triumphiert!«

»Ohne die geringste Scham. Er sieht seinen ehemaligen Freund bereits im Zuchthause. Der Oberstaatsanwalt hat ihm ein Glückwunschschreiben zugehen lassen, und gestern kam er, zu Ende des Audienztermines, um seinen Brief lesen zu lassen. Alle Herren machten ihm Komplimente, ausgenommen der Präsident, welcher ihm den Rücken kehrte, und der Staatsanwalt, der ihm auf lateinisch sagte, er möge doch das Fell des Bären nicht eher verkaufen, als bis er ihn erlegt hätte.«

Man hörte seit einigen Augenblicken bereits Schritte im Vorsaale.

»Rasch noch eine letzte Empfehlung!« sagte Folgat. »Goudar tritt in einer maskierten Gestalt auf. Sprechen Sie darüber mit keiner lebenden Seele. Und vor allem, zeigen Sie keine Überraschung über das Kostüm, in welchem er erscheint.«

Ein Geräusch vor der Tür schnitt ihm das Wort ab. Es trat ein Gerichtsrat ein, welcher nach höflicher Begrüßung des Anwalts sich an den Gerichtsschreiber wendete, um in einer Sache, die noch denselben Tag erledigt werden sollte, eine Menge Auskünfte zu verlangen.

»Auf Wiedersehen, Herr Méchinet!« sagte Folgat.

Hierauf ging er weiter, um an der Wohnung des Doktor Seignebos anzuklopfen.

»Der Herr Doktor sind ausgegangen«, sagte ihm der Diener; »aber er wird bald wieder kommen und hat mir aufgetragen, ich möchte den Herrn bitten, einstweilen in sein Zimmer einzutreten.«

Ein unerwarteter Beweis von Vertrauen, welches Seignebos dem Anwalt gab, indem er ihm gestattete, allein in dem Heiligtum seiner Grübeleien zu verweilen. Es war dies ein weiter Raum, ganz mit wüst durcheinander stehenden und liegenden Gegenständen der verschiedensten Art angefüllt, die auf den ersten Blick die Ideen, Meinungen, den Geschmack und die gesamte Lebensrichtung des Arztes verrieten.

Gleich, beim Eintritt traf das Auge auf die über dem Kamin stehende, bewundernswert ausgeführte Büste Bichats, an deren Seite rechts und links kleinere Büsten von Robespierre und Rousseau standen. Eine zwischen den beiden Fenstern aufgehängte Uhr aus der Zeit Ludwigs XIV. schlug den Sekundentakt. Alle Seiten des Gemachs waren mit Büchergestellen von geschwärztem, vielfach zersprungenem Holze versehen, auf denen Bücher aller Art, broschiert oder in Einbänden, welche Herrn Daubigeon in Entzücken versetzt hätten, aufgeschichtet waren. Einer jener Schränke, in denen man getrocknete Pflanzen zu ordnen pflegt, erinnerte an die beiläufige Liebhaberei des Doktors für die Flora von Sauveterre. Eine Elektrisiermaschine erinnerte an die Zeit, als der Doktor für die Elektrotherapie eingenommen war . . . Berge von Scharteken, welche den Tisch in buntem Durcheinander bedeckten, erzählten von den neuesten Studien des Mediziners.

Folgat hatte seine Umschau eben beendet, als Doktor Seignebos eintrat, gleich einer Windsbraut, wie gewöhnlich, aber weit heiterer als sonst.

»Ich wußte es wohl, hol mich dieser und jener«, rief er »daß ich Sie hier treffen würde! Sie kommen, um mit mir über eine Zusammenkunft mit Goudar zu sprechen . . .»

Der Anwalt stutzte.

»Wer hat Ihnen dies gesagt?« fragte er betroffen.

»Goudar selbst! Dieser Bursche gefällt mir! Man wird mich gewiß nicht der Zärtlichkeit gegen irgend etwas, was näher oder entfernt zur Polizei gehört, verdächtigen, mich, der mit Polizeispitzeln auf den Fersen das Leben durchschritten hat, aber dieser Mensch hat mich mit der Polizei fast versöhnt.«

»Wann haben Sie ihn gesehen?«

»Heute morgen um sieben Uhr. Er ärgerte sich in seiner schlechten Kammer im ›Roten Hammel‹ so ungeheuer über den unnützen Zeitverlust, daß ihm die Idee kam, ein Unwohlsein zu erheucheln und mich rufen zu lassen . . . Ich ging hin und fand eine Art Straßenfiedler, der wie ein Zigeuner aussah. Aber kaum waren wir allein beieinander, so erzählte er mir seine ganze Angelegenheit, fragte mich um meine Meinung und teilte mir seine Ideen mit . . . Herr Folgat, dieser Goudar ist ausgezeichnet, das habe ich ihm gesagt, und wir haben uns vollkommen verständigt.«

»Hat er Ihnen erklärt, was er zu tun gedenkt?«

»Annähernd . . . aber er hat mich nicht ermächtigt, es weiterzusagen . . . Geduld, lassen Sie ihn machen, und Sie werden sehen, daß der alte Seignebos noch eine ganz feine Nase hat.«

Indem er dies mit einem Anstrich reizender Einfältigkeit sagte, ging er rückwärts wie ein Krebs, putzte seine goldene Brille und setzte sie wieder auf.

»Ich werde also abwarten«, versetzte der Anwalt; »und da nun dieser Auftrag erledigt ist, bitte ich um Erlaubnis, Ihnen von etwas anderem zu sprechen . . . Ich bin von Herrn von Boiscoran beauftragt worden, die Gräfin Claudieuse aufzusuchen . . .«

»Alle Wetter!«

»Und zu versuchen, von ihr ein Mittel zum Niederschlagen der Anklage zu erlangen.«

»Wollen Sie denn diesen Versuch unter allen Umständen unternehmen?«

Der Anwalt vermochte kaum eine Bewegung der Ungeduld zu unterdrücken.

»Ich habe diesen Auftrag angenommen«, erwiderte er in trockenem Tone, »und werde ihn auszuführen versuchen.«

»Das sehe ich wohl ein, mein verehrter Herr, allein Sie werden nicht bis zur Gräfin gelangen. Der Graf befindet sich sehr schlecht, sie verläßt sein Bett nicht und empfängt niemanden, nicht einmal Personen ihrer vertrautesten Bekanntschaft.«

»Ich muß dennoch bis zu ihr gelangen, denn um jeden Preis werde ich den Brief, welchen mir mein Klient anvertraut hat, in ihre eigenen Hände übergeben . . . Und hören Sie, Doktor, ich werde offen gegen Sie sein. Weil ich die Schwierigkeiten wohl voraussehe, bin ich gekommen, um von Ihnen ein Mittel, sie zu überwinden, zu erlangen . . .«

»Von mir!«

»Sind Sie nicht der Arzt des Herrn von Claudieuse?«

»Zehntausend Teufel!« rief Seignebos aus. »Ihr achtet nichts, ihr Anwälte!« Und indem er sich mehr gegen die Einwände seines Geistes als gegen Folgat wendete, fuhr er vor sich hin murmelnd fort:

»Allerdings behandle ich Herrn von Claudieuse, obschon ich einschalten muß, daß die Krankheit alle meine Vermutungen zunichte macht, und eben deswegen bin ich gegen sie vollkommen machtlos . . . Unser Beruf hat seine Regeln, die man nicht verletzen darf, ohne die Würde des gesamten medizinischen Standes zu beeinträchtigen.«

»Aber es handelt sich um Ehre und Leben des Herrn von Boiscoran, eines Freundes, lieber Doktor!«

»Und eines politischen Gesinnungsgenossen, es ist wahr! Doch kann ich Ihnen dennoch nicht Beistand leisten, ohne das Vertrauen der Frau von Claudieuse zu täuschen.«

»Aber hat diese Frau nicht ein Verbrechen begangen, um dessentwillen Herr von Boiscoran unschuldig vor den Geschworenen erscheinen muß?«

»Ich glaube es, aber nichtsdestoweniger . . .«

Er unterbrach seinen Satz, überlegte und griff dann plötzlich nach seinem breitrandigen Hut, den er mit dem Ausdrucke trockener Herausforderung auf den Kopf stülpte.

»Wohlan, es wird getan, mag das Schlimmste kommen!« rief er. »Es handelt sich um heilige Interessen, die allem vorgehen. Kommen Sie!«


 << zurück weiter >>