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Sosehr auch Herr von Chandoré jedem Willen seiner Enkelin, jeder Laune dieses Kindes frönte, in dem ihm, dem Greise, alles fortlebte, was er Teuerstes besessen, was ihm an schönsten Hoffnungen durch den Tod entrissen war, so ging er doch nicht ohne Hintergedanken daran, aus seinem Sekretär die Summe zu heben, die sie gefordert hatte.
Als sie beide aus dem Hause waren, sagte er leise:
»Wirst du mir jetzt, da wir allein sind, liebe Tochter, sagen, was du mit so vielem Gelde beginnen willst?«
»Das ist mein Geheimnis«, antwortete sie.
»Und du hast nicht so viel Vertrauen zu deinem alten Vater, um es ihm zu sagen, mein Liebling?«
Er war stehengeblieben. Sie aber zog ihn wieder mit sich fort.
»Du wirst alles erfahren«, fuhr sie fort, »und schon in einer Stunde. Aber . . . o werde nicht böse, liebster Großvater . . . Ich habe einen Plan, dessen Tollheit ich nur zu wohl begreife. Wenn ich es dir sagte und du mich davon abbrächtest; wenn es dir gelänge und infolgedessen Jacques ein Unglück zustieße, würde ich dieses Geschick nicht überleben, und was für Vorwürfe würdest du dir machen, wenn du dir sagen müßtest: ›O hätte ich sie nur gewähren lassen!‹«
»Denise – grausames Kind!«
»Andererseits«, fuhr sie fort, »wenn es dir nicht gelänge, mich von meinem Vorhaben abzubringen, so würdest du doch ohne Zweifel meinen Mut niederschlagen, und ich bedarf der Zuversicht nur zu sehr, um das zu wagen, was ich wagen will.«
»Aber bedenke – vergib mir, liebes Kind, daß ich's wiederhole, hundertzwanzigtausend Francs sind eine bedeutende Summe, und es gibt tüchtige und geschickte Leute genug, die sich ihr ganzes Leben lang plagen, ohne sie zusammenzubringen.«
»Ah! um so besser«, fiel das junge Mädchen ihm ins Wort, »um so besser tausendmal! Möchte dieses Vermögen verlockend genug sein, damit man es mir nicht zurückweist.«
Herr von Chandoré fing an zu begreifen.
»Bei alledem«, sprach er, »sagst du mir nicht, wo du mich hinführst.«
»Zu meinen Schneiderinnen!«
»Zu den Schwestern Méchinet?«
»Ja.«
Jetzt hegte Herr von Chandoré keinen Zweifel mehr.
»Wir werden sie nicht zu Hause finden«, sagte er. »Es ist heute Sonntag; sie müssen in der Kirche sein, für das Heil . . .«
»Wir werden sie finden, liebster Großvater, denn sie essen stets um halb acht Uhr zu Abend wegen ihres Bruders, des Gerichtsschreibers. Aber wir müssen uns beeilen.«
Der alte Edelmann beeilte sich wohl; nur ist es weit von der Rue de la Montagne bis zum Neumarkt. Denn am Neumarkt wohnen die Méchinets, und zwar in einem »eigenen Hause« – in einem Hause, das den schönsten Traum ihrer Tage verwirklichen sollte und der Alpdruck ihrer Nächte geworden war.
In dem letzten Jahre von dem Kriege hatten sie dieses Grundstück auf den Rat ihres Bruders und mit ihm zusammen für siebenundvierzigtausend Francs erstanden, die Unkosten mit eingerechnet.
Es war ein brillantes Geschäft; denn das Parterre und der erste Stock sind für zweitausenddreihundert Francs jährlich an den behäbigsten Gewürzkrämer von Sauveterre vermietet.
Die Méchinets glaubten keine Unvorsichtigkeit zu begehen, wenn sie diesem Kaufe zehntausend Francs opferten und sich verpflichteten, den Rest in drei Jahren zu bezahlen.
Im ersten Jahre ging alles gut. Aber der Krieg brach aus mit all seinem Unheil, die Einkünfte des Bruders und der beiden Schwestern versiegten bis auf die Einnahmen seines Schreiberpostens, sie mußten sich die härtesten Entbehrungen auferlegen und außerdem noch Geld leihen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen.
Nach dem Friedensschluß wurde Geld wieder flüssiger, und niemand in Sauveterre zweifelte daran, daß die Méchinets sich wieder aufhelfen wurden, da der Bruder der fleißigste Mensch war und die Schwestern die Kundschaft der vornehmsten Damen des Bezirks besaßen.
»Liebster Großvater, sie sind zu Hause«, erklärte Denise, als sie auf dem Platze ankamen.
»Glaubst du?«
»Ja, ich glaube Licht in ihren Fenstern zu sehen.«
»Was soll ich jetzt tun?« fragte Herr von Chandoré, indem er stehenblieb.
»Du wirst, lieber Großvater, mir zuerst die Papiere geben, die du in deiner Tasche hast, und hier auf und ab gehen, um mich zu erwarten, solange ich bei den Méchinets oben bin . . . Ich würde dich bitten, mit mir zu kommen, aber deine Anwesenheit würde sie erschrecken . . . Überdies würde das Vorhaben, wenn es eine schlechte Wendung nähme, von einem jungen Mädchen ausgehend, keine weiteren Folgen haben.«
Dem alten Edelmann blieb kein Zweifel mehr übrig.
»Du wirst nichts ausrichten, mein armes Kind«, sagte er.
»O mein Gott!« erwiderte sie, kaum ihre Tränen zurückhaltend, »warum mich entmutigen?«
Er erwiderte nichts.
Einen Seufzer unterdrückend, zog er aus seiner Tasche die Papiere, die Denise, so gut es ging, in allen ihren Taschen und in dem Täschchen unterbrachte, das sie in der Hand trug.
Leicht wie ein Vogel flog sie von der Straße hinauf zu ihren Schneiderinnen.
Die beiden Mädchen und ihr Bruder beendeten soeben ihr Abendessen, das ausschließlich aus einem kleinen Stück kalten Schweinebratens und einem reichlich mit Essig getränkten Salat bestand.
Bei Fräulein von Chandorés unerwartetem Eintritt waren sie alle aufgesprungen.
»Sie sind es, mein Fräulein«, rief die ältere der Schneiderinnen, »Sie?«
Nur zu wohl begriff Denise alles, was in diesem »Sie« lag. Es bedeutete mit seiner besonderen Betonung:
»Was! Ihr Bräutigam ist eines frevelhaften Verbrechens angeklagt; er hat die schwersten Beschuldigungen gegen sich, er ist im Gefängnis in Untersuchungshaft, alle Welt sagt, daß er dem Schwurgericht übergeben, daß er verurteilt werden wird, und dennoch sind Sie hier!«
Aber Denise bewahrte auf ihren Lippen das Lächeln, das sie sich vorgenommen hatte.
»Ja, ich bin es«, antwortete sie, »ich brauche durchaus für die nächste Woche zwei Kleider, und ich möchte Sie bitten, mir Ihre Proben zu zeigen.«
»Ich stehe zu Ihren Diensten«, antwortete die ältere Schwester, »gestatten Sie nur, daß ich die Lampe anzünde; man sieht fast nichts mehr. Gehst du nicht heute in deinen Gesangverein?« fragte sie dann, zu ihrem Bruder gewandt, indem sie die Lampe zurechtmachte.
»Heute abend nicht«, antwortete er.
»Man erwartet dich aber.«
»Nein, ich habe absagen lassen. Ich habe zwei Karten für meinen Drucker auf Stein zu zeichnen und sehr dringende Abschriften für das Gericht abzuschließen.«
Er hatte seine Serviette zusammengefaltet und eine Kerze angezündet. »Gute Nacht«, sagte er zu seinen Schwestern, »denn ihr seht mich heute abend nicht mehr.« Und mit einer tiefen Verbeugung vor Fräulein von Chandoré ging er, seine Kerze in der Hand, hinaus.
»Wo geht denn Ihr Bruder hin?« fragte Denise hastig.
»In sein Zimmer, mein Fräulein, gegenüber auf der andern Seite der Treppe.« Feuerrot stand Fräulein von Chandoré da. Wie? Sollte sie sich die Gelegenheit entgehen lassen, die, mehr als sie erwarten konnte, zu ihren Diensten stand? Allen ihren Mut zusammennehmend, rief sie:
»Aber in der Tat, ich habe Ihrem Bruder zwei Worte zu sagen. Erwarten Sie mich, ich werde sogleich wiederkommen!«
Damit stürzte sie hinaus, während die Schneiderinnen vor Staunen mit offenem Munde dastanden.
Der Gerichtsschreiber befand sich noch draußen im Vorzimmer und suchte in der Tasche nach dem Schlüssel seines Zimmers.
»Ich muß Sie dringend sprechen«, sagte Denise zu ihm, »und zwar noch in diesem Augenblick!«
So groß war Méchinets Erstaunen, daß er ihr die Antwort schuldig blieb. Doch machte er eine Bewegung, als wollte er zu seinen Schwestern zurückkehren.
»Nein, in Ihrem Zimmer«, flüsterte das junge Mädchen, »es darf uns niemand hören.«
Méchinet war so verdutzt, daß er über eine halbe Minute brauchte, um den Schlüssel in das Schloß zu stecken. Als endlich die Tür auf war, trat er zur Seite, um Denise zuerst eintreten zu lassen.
»Nein«, sagte sie, »treten Sie ein!«
Er gehorchte. Sie folgte ihm, und kaum in das Zimmer gelangt, schloß sie die Tür und schob selbst einen Riegel vor, den sie an der Tür bemerkt hatte.
Méchinet, der Gerichtsschreiber, war in Sauveterre bekannt wegen seines selbstbewußten Auftretens. Fräulein von Chandoré war die Schüchternheit selbst; bei der geringsten Gelegenheit versagte ihr die Stimme und stieg das Blut ihr ins Gesicht bis an das Weiß der Augen.
Und dennoch war in diesem Augenblick von beiden nicht das junge Mädchen der bestürzte Teil.
»Setzen Sie sich, Herr Méchinet«, sagte sie, »und hören Sie mich an.«
Er stellte seine Lampe auf den Tisch und setzte sich.
»Sie kennen mich, nicht wahr?« begann Denise.
»Gewiß, mein Fräulein.«
»Sie werden wohl gehört haben, daß meine Vermählung mit Herrn Jacques von Boiscoran festgesetzt war?«
Wie durch Federkraft emporgeschnellt, fuhr der Gerichtsschreiber auf und rief, indem er sich mit der Faust gegen die Stirn schlug:
»Einfältiger, der ich war; jetzt begreife ich!«
»Ja, deswegen komme ich«, fuhr das junge Mädchen fort, »ich will mit Ihnen von Herrn von Boiscoran, von meinem Verlobten, meinem Gemahl sprechen!«
Sie hielt nach diesen Worten inne, und während einer Minute blieben Méchinet und sie einander gegenüber stumm, regungslos, Auge in Auge – er, indem er sich fragte, was sie von ihm verlangen mochte, sie, indem sie zu erraten suchte, was sie wagen durfte.
»Sie müssen sicher begreifen, mein Herr, was ich leide«, begann sie endlich, »was ich in den drei Tagen ausgestanden habe, seit Herr Jacques von Boiscoran im Gefängnis und eines schändlichen Verbrechens angeklagt ist!«
»Ja, das begreife ich!« rief der Gerichtsschreiber, und von seiner Aufregung fortgerissen, sprach er weiter: »Aber ich kann Ihnen versichern, daß ich, der ich der ganzen Untersuchung beigewohnt habe und Erfahrung in Kriminalprozessen besitze, glaube, daß Herr von Boiscoran unschuldig ist. Das ist, ich weiß es wohl, weder Herrn Galpin-Davelins noch Herrn Daubigeons Meinung, weder die der Herren vom Gericht noch die der ganzen Stadt – gleichviel – es ist die meinige! Ich war zugegen, sehen Sie, als man Herrn von Boiscoran aus dem Bett geholt hat. Wahrhaftig! beim Klang seiner Stimme, als er ahnungslos rief: ›Oho, es ist mein alter Daveline!‹ sagte ich mir: ›Dieser Mann ist unschuldig!‹«
»Oh, mein Herr«, flüsterte Denise, »ich danke, ich danke Ihnen.«
»Sie haben mir nichts zu danken, mein Fräulein, denn die Zeit hat meine Überzeugung nur bekräftigt. Wäre ein Schuldiger fähig, die Haltung des Herrn von Boiscoran zu bewahren? Mußte nicht jeder sehen, als wir gingen, um die Siegel aufzuheben, wie gelassen, wie kalt, wie würdevoll er auf die Fragen antwortete, die man ihm stellte? Es war so überzeugend, daß ich mich nicht enthalten konnte, Herrn Galpin-Daveline zu sagen, was ich dachte. Er antwortete mir, daß ich ein Dummkopf sei. Nun gut! ich behaupte dagegen, daß er – Verzeihung! –, daß er im Irrtum ist. Je mehr ich Herrn von Boiscoran studiere, desto mehr macht er mir den Eindruck eines Menschen, der nur ein Wort zu sagen braucht, um sich zu rechtfertigen.«
Denise hörte mit einer so innigen Aufmerksamkeit zu, daß sie fast vergaß, warum sie gekommen war.
»Also«, sprach sie, »scheint Ihnen Herr von Boiscoran nicht allzu niedergeschlagen?«
»Ich würde lügen, mein Fräulein, wenn ich sagen würde, daß er nicht traurig ist. Aber unruhig, nein, das ist er nicht. Nachdem die erste Verwirrung vorüber war, hat seine Kaltblütigkeit sich nicht mehr verleugnet; vergeblich bietet Herr Galpin-Daveline seit drei Tagen alles auf, was er an Erfahrung und Scharfsinn besitzt –«
Hier aber hielt Méchinet inne, wie ein Trunkener, der, jählings zur Besinnung kommend, einsieht, daß der Wein ihm die Zunge zu sehr gelöst hat.
»Mein Gott, was red' ich da!« rief er. »Um des Himmels willen, mein Fräulein, wiederholen Sie gegen keine Menschenseele, was achtungsvolle Teilnahme für Sie meiner Zunge entlockt hat!«
Der entscheidende Augenblick für Denise war gekommen.
»Wenn Sie mich genauer kennten«, sprach sie, »so würden Sie wissen, daß Sie auf meine Verschwiegenheit bauen können. Lassen Sie es sich nicht gereuen, durch Ihr Vertrauen meinem schrecklichen Schmerz Erleichterung verschafft zu haben, nein, bereuen Sie es nicht, denn . . .«
Ihre Stimme versagte fast; es kostete sie Überwindung, hinzuzufügen: »Denn ich komme, mehr als das zu fordern, ja noch viel mehr!«
Méchinet war erschreckend bleich geworden. »Kein Wort mehr, mein Fräulein«, unterbrach er sie heftig; »Ihre Hoffnung allein ist eine Beschimpfung. Kennen Sie denn meinen Beruf nicht? Wissen Sie nicht, daß ich durch einen Eid verpflichtet bin, so stumm zu sein wie die Zelle, in der man den Gefangenen einschließt? Ich, ein Gerichtsschreiber, das Geheimnis einer Untersuchung verraten?«
Fräulein von Chandoré zitterte wie ein Baumblatt im Winde, aber ihr Geist blieb ruhig und klar.
»Sie würden eher«, sagte sie, »einen Unglücklichen umkommen lassen?«
»Mein Fräulein!«
»Sie würden einen Unschuldigen verurteilen lassen, wenn es Ihnen möglich wäre, durch ein Wort den entsetzlichen Irrtum zu zerstreuen, dessen Opfer er ist? Sie würden sich sagen: ›Es ist beklagenswert, aber ich habe geschworen, stillzuschweigen!‹ . . . und Sie würden ihn ruhig das Schafott besteigen sehen? Nein, das ist nicht wahr, das ist nicht möglich!«
»Ich habe Ihnen gesagt, mein Fräulein, ich halte Herrn von Boiscoran für unschuldig.«
»Und Sie verweigern mir Ihre Hilfe, um seine Unschuld an den Tag zu bringen? O mein Gott, welch eine Vorstellung von der Ehre haben denn die Männer! . . . Wie soll ich Sie rühren, wie soll ich Sie überzeugen! Muß ich Sie erinnern an die Tortur eines Ehrenmannes, der sich eines gemeinen Mordes angeklagt sieht! . . . Soll ich Ihnen unsere Todesangst schildern, unsern Schmerz und den seiner Freunde, seiner Angehörigen, die Tränen seiner Mutter, meinen Gram, den Gram seiner Braut! Wir wissen, daß er unschuldig ist, und können seine Unschuld nicht ans Licht bringen, weil uns ein Freund fehlt, der sich unser erbarmt!«
In seinem Leben hatte der Gerichtsschreiber nicht mit einer solchen Stimme reden hören. Gerührt bis auf den Grund seiner Seele, fragte er seufzend:
»Aber was wollen Sie von mir?«
»O nur eine Kleinigkeit, mein Herr, nur eine Kleinigkeit! . . . Daß Sie Herrn von Boiscoran ein paar Zeilen zukommen lassen, nur ein paar Zeilen, und uns die Antwort überbringen!«
Die Kühnheit dieser Zumutung schien den Beamten vor Schreck zu betäuben.
»Nie!« rief er endlich.
»Sie bleiben unerbittlich?«
»Das hieße meine Ehre schänden!«
»Und einen Unschuldigen verdammen lassen – wie hieße das?«
Die peinliche Unruhe, die Méchinet ergriff, war offensichtlich. Bestürzt, voll Aufruhr in seinem Geiste, wußte er nicht, was er tun, was er antworten sollte. Endlich schien sich seinem geängsteten Herzen eine Ausflucht zu bieten.
»Und wenn ich entdeckt würde?« stotterte er. »Das hieße meinen Posten verlieren, meine Schwestern ruinieren, meine Zukunft vernichten –«
Mit fieberhafter Hand zog Denise die Scheine aus ihrer Tasche, die ihr Großvater ihr gegeben, und warf sie haufenweise auf den Tisch . . .
»Es sind da hundertzwanzigtausend Francs«, begann sie.
Heftig zog der Gerichtsschreiber sich zurück.
»Geld!« rief er, »Sie bieten mir Geld?«
»O fassen Sie es nicht als Beleidigung auf!« bat das junge Mädchen mit einer Stimme, die einen Stein erbarmt hätte. »Es gibt Dienste, die sich nie bezahlen lassen. Aber wenn Herrn von Boiscorans Feinde je erfahren, daß Sie uns geholfen haben, so wird ihre Wut sich gegen Sie wenden.«
Mit einer mechanischen Bewegung löste Méchinet seine Halsbinde. Der Kampf in seinem Innern war entsetzlich, er erstickte ihn fast.
»Hundertzwanzigtausend Francs!« sprach er mit heiserer Stimme.
»Nicht wahr, es ist nicht genug?« fuhr das junge Mädchen fort, »ja, Sie haben recht, es ist zuwenig! Aber ich habe mehr, ich habe das Doppelte zu Ihrer Verfügung!«
Bleich, mit starrem Blick hatte Méchinet sich genähert, und mit krampfhafter Bewegung durchwühlte seine Hand diese Masse von Wertpapieren, indem er leise wiederholte:
»Sechstausend Francs Renten! Sechstausend Francs Renten!«
»Nein, das Doppelte«, sagte Denise, »und zugleich unsere Dankbarkeit, unsere aufrichtige Freundschaft, der ganze Einfluß der Familien von Chandoré und von Boiscoran, das heißt Glück, Achtung, eine beneidete Stellung . . .«
Aber schon hatte sich der Beamte, dank einer gewaltigen Willensanstrengung, wieder gefaßt.
»Genug, mein Fräulein, genug!« sagte er. Und mit entschlossener, obwohl noch zitternder Stimme fuhr er fort:
»Nehmen Sie dies Geld zurück! Wenn man täte, was Sie fordern, wenn man seine Pflicht für Geld verriete, so wäre man das elendeste Geschöpf von der Welt. Wenn man keinen andern Beweggrund als eine aufrichtige Überzeugung und das Interesse der Wahrheit hätte, so möchte man für einen Narren gelten, aber man bliebe dennoch der Achtung ehrlicher Leute wert. Nehmen Sie dieses Vermögen zurück, mein Fräulein, das für einen Augenblick das Gewissen eines Ehrenmannes zum Schwanken gebracht hat. Ich werde tun, was Sie verlangen, aber umsonst.«
Wenn Großvater Chandoré indes ungeduldig wurde, auf dem Neumarkt wartend auf und ab zu gehen, so erschien den Jungfern Méchinet in ihrer Arbeitsstube die Zeit noch viel länger.
»Was?« fragten sie sich gegenseitig, »was kann Fräulein von Chandoré unserem Bruder zu sagen haben?«
Nach zehn Minuten war ihre Neugier, durch die unsinnigsten Vorstellungen gespannt, eine solche Tortur geworden, daß sie den Entschluß faßten, selbst hinzugehen und an die Tür des Gerichtsschreibers zu klopfen.
»Ach, laßt mich in Ruhe!« rief dieser ärgerlich über die Unterbrechung.
Aber einen Augenblick überlegend, eilte er, ihnen zu öffnen, und fügte leise hinzu:
»Kehrt in euer Zimmer zurück, und wenn ihr mir die ernsthaftesten Unannehmlichkeiten ersparen wollt, so sagt niemandem etwas von der Unterhaltung, die Fräulein von Chandoré und ich in diesem Augenblick geführt haben.«
An Gehorsam gewöhnt, zogen die beiden Schwestern sich zurück, aber sie hatten doch Gelegenheit gehabt, die Scheine zu bemerken, die Fräulein von Chandoré auf den Tisch gehäuft hatte; es waren Obligationen der Bahn Paris-Lyon-Mittelmeer.
Die Jungfern Méchinet kannten diese Scheine genau, da sie vor Ankauf des Hauses deren acht besessen hatten.
Zu ihrer maßlosen Neugier gesellte sich alsbald eine unbestimmte Furcht.
»Hast du gesehen?« fragte die Jüngere, sobald sie wieder in ihr Zimmer zurückgekehrt waren.
»Ja, die Wertpapiere«, antwortete die andere.
»Es waren ihrer wohl an fünf- bis sechshundert.«
»Vielleicht noch mehr.«
»Das heißt eine bedeutende Summe.«
»Ein ungeheures Kapital!«
»Heilige Jungfrau, was hat das zu bedeuten? Und worauf müssen wir uns gefaßt machen?«
»Unser Bruder befiehlt uns Verschwiegenheit.«
»Er war weißer als sein Hemd und entsetzlich aufgeregt.«
»Fräulein von Chandoré weinte wie eine büßende Magdalena.«
Das war richtig. Solange sie an ihrem Erfolg zweifelte, hielt der Gedanke, daß Jacques' Rettung von ihrem Mut, von ihrer Geistesgegenwart abhing, Denise aufrecht.
Ihres Erfolges gewiß, konnte sie ihre Aufregung nicht mehr beherrschen; von der Anstrengung erschöpft, sank sie, in Tränen ausbrechend, auf einen Stuhl.
Nachdem er die Tür geschlossen, betrachtete der Gerichtsschreiber sie einen Augenblick. Er war wieder Herr seiner selbst, mehr als er es bisher gewesen.
»Mein Fräulein!« sagte er.
Beim Klang seiner Stimme fuhr Denise auf und rief, seine Hände einen Augenblick in die ihrigen fassend: »Wie soll ich Ihnen jemals die Tiefe meiner Dankbarkeit beweisen!«
Wenn der Gedanke ihm gekommen wäre, sein Wort zurückzunehmen, so hätte er ihn jetzt aufgegeben; so unwiderstehlich war der Zauber, den sie auch auf ihn ausübte.
»Reden wir nicht davon«, sagte er mit der Barschheit eines Menschen, der seine Bewegung zu verbergen sucht.
»Ich werde nicht mehr davon reden«, erwiderte das junge Mädchen sanft, »aber ich darf Ihnen doch sagen, daß niemand von uns jemals die Verpflichtung vergessen wird, die wir heute gegen Sie eingehen. Der ungeheure Dienst, den Sie uns leisten, ist nicht ohne Gefahr. Was auch geschehen mag, erinnern Sie sich, daß wir von diesem Augenblick an Ihre aufrichtigsten Freunde sind.«
Die Unterbrechung durch den Eintritt seiner Schwestern hatte dem Gerichtsschreiber wieder einen guten Teil seiner Besonnenheit zurückgegeben.
»Ich hoffe, daß mir kein Unglück begegnen wird«, sagte er, »und dennoch kann ich es Ihnen, mein Fräulein, nicht verhehlen, daß der Dienst, den ich versuchen will Ihnen zu leisten, viel mehr Schwierigkeiten hat, als Sie denken mögen.«
»Mein Gott!« murmelte Fräulein Denise.
»Herr Daveline«, fuhr der Gerichtsschreiber fort, »hat vielleicht keine sehr überlegene Bildung, aber er versteht sich auf sein Handwerk, und er ist außerordentlich schlau. Gestern noch sagte er mir, er sehe voraus, daß die Familie von Boiscoran das Unmögliche versuchen würde, um ihr Mitglied der Strafe des Gerichts zu entziehen. Daher seinerseits die peinlichste Sorgfalt, ein verdoppeltes Mißtrauen und ein Übermaß von Vorkehrungen, von denen man keine Vorstellung hat. Wenn er es könnte, er würde sein Bett quer vor Herrn Jacques' Tür aufstellen.«
»Dieser Mann haßt mich, Herr Méchinet!«
»Nein, mein Fräulein, nein, aber er ist ehrgeizig; er glaubt, daß seine Laufbahn von dem Erfolg dieser Untersuchung abhängt, und er zittert vor dem Gedanken, daß sein Angeklagter ihm davonfliegt oder ihm entzogen werden könnte . . .«
Augenscheinlich ratlos, rieb Méchinet sich hinter dem Ohr.
»Wie soll ich es anfangen«, fuhr er fort, »um Herrn von Boiscoran ein Billett zuzustellen? Wenn er davon vorher benachrichtigt wäre, so hätte es nichts auf sich. Aber er ist es nicht, und überdies ist er nicht weniger mißtrauisch als Herr Galpin. Er fürchtet immer, daß man ihm irgendeine Falle stellt, und ist auf seiner Hut. Wenn ich ihm ein Zeichen mache, wird er es verstehen? Und wenn ich ein Zeichen mache, wird Herr Galpin, der das Auge einer Elster hat, es nicht ebenso gut bemerken?«
»Sind Sie denn nie allein mit Herrn von Boiscoran?«
»Nie auch nur eine Sekunde, mein Fräulein. Mit dem Untersuchungsrichter betrete ich das Gefängnis, und mit ihm verlasse ich es. Sie werden mir sagen, daß ich das Billett geschickt könnte fallen lassen, wenn ich beim Hinausgehen der letzte bin; aber wenn wir die Zelle verlassen, ist der Gefängniswärter da, und der hat gute Augen. Ich habe überdies Herrn von Boiscorans übertriebene Vorsicht zu fürchten. Wenn ihm in dieser Manier ein Billett zukommt, wäre er imstande, es ungeöffnet Herrn Galpin-Daveline zu übergeben.«
Er hielt inne und fuhr nach einem Augenblick der Überlegung fort:
»Das Sicherste wäre vielleicht, den Gefängniswärter Blangin in das Vertrauen zu ziehen, oder einen der Häftlinge, der beauftragt ist, Herrn von Boiscoran zu bedienen und auszuspionieren.«
»Frumence Cheminot!« rief Denise hastig.
Das äußerste Erstaunen malte sich in Méchinets Zügen.
»Wie?« rief er. »Sie kennen seinen Namen?«
»Ja, weil Blangin mir von diesem Gefangenen sprach, als ich mit Frau von Boiscoran, ohne zu ahnen, was ›geheime Haft‹ bedeutet, ins Gefängnis ging, um Jacques zu sehen.«
»Ah!« rief der Gerichtsschreiber mit verdrießlicher Miene, »nun verstehe ich Herrn Galpins beständige Furchtsamkeit. Er wird von diesem Schritt Wink bekommen und sich eingebildet haben, daß man ihm seinen Gefangenen entziehen wolle.«
Er sprach noch einige Worte halblaut vor sich hin, die Denise nicht verstand; dann fügte er laut und entschlossen hinzu:
»Gleichviel – ich werde den Umständen gemäß handeln. Schreiben Sie Ihren Brief, mein Fräulein. Hier ist Schreibzeug.«
Das junge Mädchen setzte sich ohne weiteres an Méchinets Arbeitstisch, wandte sich aber, indem sie die Feder ergriff, mit der Frage um:
»Hat Herr von Boiscoran Bücher bei sich im Gefängnis?«
»Ja, mein Fräulein. Auf sein Begehr hat Herr Galpin in eigener Person bei Herrn Daubigeon einige Bände Reisen und mehrere Romane von Cooper für ihn entnommen.«
Denise unterbrach ihn mit einem freudigen Ausruf.
»O Jacques!« rief sie, »ich danke dir, daß du mit meiner Hilfe gerechnet hast!«
Und ohne auf Méchinets tiefe Verwunderung über ihr plötzliches Entzücken zu achten, schrieb sie:
»Wir sind von Deiner Unschuld überzeugt, Jacques, und dennoch in Verzweiflung. Deine Mutter ist hier mit einem Anwalt aus Paris, Herrn Folgat, der unserer Sache ganz ergeben ist. Was sollen wir tun? Gib uns Verhaltungsmaßregeln! Du kannst ohne Sorge antworten, weil Du ›unser Buch‹ hast. Denise.«
»Lesen Sie dies, mein Herr«, sagte sie zu Méchinet, nachdem sie ihren Brief beendet hatte.
Er aber faltete, statt von ihrer Erlaubnis Gebrauch zu machen, den Brief zusammen, steckte ihn in ein Kuvert und versiegelte es.
»O Sie sind so gut!« flüsterte das junge Mädchen, gerührt von dieser Zartheit.
»Nein«, antwortete er, »ich bin nur bestrebt, eine . . . ›unehrenhafte Handlung‹ . . . so ehrlich als möglich zu machen. Morgen, mein Fräulein, hoffe ich die Antwort zu haben.«
»Und ich werde kommen, sie abzuholen.«
Méchinet zuckte zusammen.
»Sehen Sie sich wohl vor, mein Fräulein«, sagte er in warnendem Ton. »Die Leute von Sauveterre sind schlau genug, um zu begreifen, daß es in diesem Augenblick nicht der Putz ist, der Sie in Anspruch nimmt und in unser Haus führt. Ihre Besuche hier würden verdächtig erscheinen. Überlassen Sie mir die Sorge, Ihnen Herrn von Boiscorans Antwort zuzustellen.«
Während Denise schrieb, hatte er die Scheine, die sie mitgebracht, in ein Paket zusammengelegt, welches er ihr jetzt überreichte.
»Nehmen Sie das«, sagte er. »Wenn ich für Blangin oder für Frumence Cheminot Geld nötig habe, werde ich es Ihnen mitteilen . . . Und jetzt . . . leben Sie wohl! Es ist nicht nötig, daß Sie zu meinen Schwestern zurückkehren. Ich nehme es auf mich, ihnen Ihren Besuch zu erklären.«