Emile Gaboriau
Der Strick um den Hals
Emile Gaboriau

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22

Wäre er weniger aufgeregt gewesen, so hätte Jacques von Boiscoran wohl eingesehen, wie klug er gewählt, indem er sich dem berühmten Anwalt von Sauveterre anvertraute.

Ein Fremder, Herr Folgat zum Beispiel, hätte ihn, ohne mit den Wimpern zu zucken, angehört, hätte in seiner Offenbarung nur die Tatsache selbst gesehen und seinen persönlichen Eindruck ausgesprochen.

Durch Herrn Magloire aber wurde ihm der Eindruck der ganzen Gegend vermittelt. Und als Herr Magloire ihn behaupten hörte, er sei der Geliebte der Gräfin von Claudieuse gewesen, rief er mit einer entrüsteten Gebärde:

»Das ist unmöglich!«

Über diesen Ausruf wenigstens schien Jacques nicht erstaunt.

Er selbst war der erste gewesen, der behauptet hatte, man würde ihm die Wahrheit nicht glauben, wenn er sie gestehe, und diese Überzeugung hatte nicht wenig dazu beigetragen, das Geständnis auf seinen Lippen zurückzuhalten.

»Beweise!« unterbrach Herr Magloire ihn.

»Ich habe keine Beweise.«

Der gedrückte und wohlwollende Ausdruck des Anwalts änderte sich mit einem Schlage. Es lag Staunen und Verachtung in dem scharfen Blick, mit dem er den Gefangenen fixierte.

»Es gibt Dinge«, begann er, »die vorzugeben eine große Kühnheit ist, wenn man sie nicht einmal beweisen kann. Bedenken Sie sich . . .«

»Meine Lage befiehlt mir zu sprechen.«

»Warum haben Sie so lange gewartet?«

»Ich hoffte, daß man mir diesen äußersten Schritt ersparen würde.«

»Wer ist ›man‹?«

»Frau von Claudieuse.«

Immer düsterer zogen sich Herrn Magloires Augenbrauen zusammen.

»Ich bin der Parteilichkeit nicht verdächtig«, sprach er. »Der Graf von Claudieuse ist vielleicht der einzige Feind, den ich im Lande habe; und er ist ein wütender, unversöhnlicher Feind. Um zu verhindern, daß ich Mitglied der Kammer wurde, um mir die Stimmen zu entziehen, hat er sich zu Handlungen hergegeben, die eines Ehrenmannes nicht würdig sind. Ich liebe ihn durchaus nicht. Aber die Gerechtigkeit erheischt, daß ich laut erkläre, daß ich die Gräfin von Claudieuse für das höchste, edelste und reinste Weib halte, als Gattin wie als Mutter.«

Ein bitteres Lächeln kräuselte Jacques' Lippen.

»Und dennoch war ich ihr Geliebter«, sagte er.

»Wann? Wie? Frau von Claudieuse lebte in Valpinson und Sie in Paris.«

»Ja, aber in jedem Jahr verbrachte Frau von Claudieuse den September in Paris, und ich kam mehrmals nach Boiscoran.«

»Es ist kaum zu glauben, daß von einer solchen Intrige nichts ruchbar geworden wäre.«

»Wir wußten unsere Vorsichtsmaßregeln zu treffen.«

»Und es hat niemand jemals etwas davon geahnt?«

»Niemand.«

Aber endlich fing Herrn Magloires Verhalten an, Jacques aufzubringen.

Er vergaß, daß er den vernichtenden Verdacht, dem er sich verfallen sah, nur zu wohl vorausgesehen hatte.

»Warum all diese Fragen?« rief er. »Sie glauben mir nicht? Gut. Gestatten Sie mir, daß ich wenigstens versuche, Sie zu überzeugen. Wollen Sie mich anhören?«

Herr Magloire zog einen Stuhl herbei und setzte sich, nicht auf die gewöhnliche Weise, sondern rittlings nieder; die Arme über der Lehne kreuzend, sprach er:

»Ich höre!«

Jacques' Antlitz, das noch einen Augenblick zuvor kreidebleich war, hatte sich mit Purpur bedeckt, der Zorn flammte in seinen Augen. Er war es, den man so behandeln durfte, er! . . . Nie hatte Galpin-Davelines Hochmut ihn so beleidigt, wie diese kalt verächtliche Herablassung Magloires.

Einen Augenblick schwebte die Aufforderung, er möge hinausgehen, ihm auf der Zunge . . . Aber was dann? . . . Er war verdammt, den Kelch der Demütigungen bis auf den Grund zu leeren. Denn vor allem galt es sich retten, sich dem Abgrund entziehen . . .

»Sie sind hart, Magloire«, sprach er im Tone mühsam zurückgehaltenen Zornes, »und Sie lassen mich das Grauenhafte meiner Lage erbarmungslos fühlen . . . Oh, entschuldigen Sie sich nicht. Wozu? Lassen Sie mich lieber sprechen.«

Er ging einige Male in der Zelle hin und her, immer wieder mit der Hand über die Stirn streifend, als suchte er seine Gedanken zu sammeln. Dann begann er in gelassenem Ton:

»Es war in den ersten Tagen des August 1866 in Boiscoran, wohin ich auf einige Wochen gegangen war, um meinen Onkel zu besuchen, als ich der Gräfin von Claudieuse zum erstenmal begegnete.

Zwischen dem Grafen von Claudieuse und meinem Onkel stand es damals am übelsten, immer des unglücklichen Wasserlaufes wegen, der ihre Besitzungen durchkreuzt; und ein gemeinsamer Freund, Herr von Besson, hatte sich in den Kopf gesetzt, sie zu versöhnen, und sie dazu bestimmt, sich bei ihm zum Mittagessen zu treffen. Ich begleitete meinen Onkel. Die Gräfin begleitete ihren Mann. Ich war eben zwanzig Jahre alt geworden, sie zählte damals sechsundzwanzig Jahre.

Als ich sie gewahrte, blieb ich vor Bewunderung mit offenem Munde stehen.

Ich glaubte noch nie einer so schönen und reizenden Frau begegnet zu sein, noch nie ein so liebliches Antlitz, so schöne Augen, ein so süßes Lächeln gesehen zu haben.

Sie schien mich nicht zu bemerken, auch ich redete sie nicht an; dennoch sagte ein Vorgefühl mir, daß diese Frau in meinem Leben eine Rolle, und zwar eine unheilvolle Rolle spielen würde. Dieser Eindruck war so lebhaft, daß ich mich nicht enthalten konnte, als wir nach dem Mittagessen das Haus verließen, meinem Onkel etwas davon zu sagen . . . Er fing an zu lachen und erwiderte mir, daß ich ein Narr sei und daß, wenn je ein Weib mein Leben in Aufruhr bringen würde, es jedenfalls eine andere sein müßte als die Gräfin von Claudieuse. Allem Anschein nach hatte er tausendmal recht. Kaum war ein Ereignis denkbar, das mich der Gräfin wieder nähern könnte. Der Aussöhnungsversuch des Herrn von Besson war vollständig fehlgeschlagen; Frau von Claudieuse lebte in Valpinson, ich kehrte zwei Tage später nach Paris zurück.

Ich blieb indessen in einer zerstreuten, befangenen Stimmung, und noch klopfte mir das Herz fieberhaft bei der Erinnerung an das Essen bei Herrn von Besson, als ich auf einer Soirée bei Herrn von Chalusse, dem Bruder meiner Mutter, Frau von Claudieuse zu erkennen glaubte.

Sie war es in der Tat. Ich grüßte sie. Und da ich an der Art, wie sie meinen Gruß erwiderte, sah, daß sie mich erkannte, näherte ich mich, innerlich zitternd, und sie erlaubte mir, mich neben ihr niederzusetzen.

Sie teilte mir mit, daß sie wie in jedem Jahr auf einen Monat nach Paris zu ihrem Vater, dem Marquis de Tassar von Bruc, gekommen war.

Sie hatte sich gegen ihren Willen auf diese Soirée begeben und amüsierte sich durchaus nicht, da sie die große Welt nicht liebte. Sie tanzte nicht; ich unterhielt mich mit ihr bis zu dem Augenblick, da sie sich zurückzog.

Ich war bis zum Wahnsinn verliebt, als ich sie verließ, und dennoch suchte ich nicht, sie wiederzusehen . . . Noch einmal war es der Zufall, der uns zusammenführte.

Eines Tages kam ich, um wegen eines Geschäfts nach Melun zu gehen, auf dem Bahnhof an, als der Zug sich eben in Bewegung setzte; ich hatte nur noch Zeit, mich in den Wagen zu stürzen, der dem Eingang am nächsten war.

In diesem Wagen befand sich Frau von Claudieuse.

Sie sagte mir – und von allem, was sie mir sagte, behielt ich nur das –, daß sie sich zu einer ihrer Freundinnen nach Fontainebleau begebe, bei welcher sie in jeder Woche den Dienstag und den Sonnabend verbrachte . . . Gewöhnlich pflegte sie den Neunuhrzug zu nehmen. Es war an einem Dienstag; während der drei folgenden Tage spielten sich seltsame Kämpfe in mir ab.

Ich war von der Gräfin leidenschaftlich bezaubert, und dennoch flößte sie mir Furcht ein. Aber mein böser Stern trug den Sieg davon, und am folgenden Sonnabend um neun Uhr ging ich zur Gare de Lyon.

Frau von Claudieuse, sie hat es mir später gestanden, erwartete mich. Als sie mich erblickte, machte sie mir ein Zeichen, und als man die Türen schloß, setzte ich mich in ein Abteil mit ihr.«

Schon seit einigen Augenblicken rückte Magloire mit den Anzeichen der äußersten Ungeduld auf seinem Stuhl hin und her.

Als könnte er es nicht länger ertragen, rief er endlich:

»Das ist zu unwahrscheinlich.«

Jacques von Boiscoran antwortete nicht sogleich.

Er bebte vor unsäglicher Aufregung, wie er da die Asche seiner Vergangenheit durchwühlte. Er stand wie in einer Betäubung befangen da, während er das Geheimnis seiner erloschenen Liebe, das er so lange im tiefsten Herzen begraben, über seine Lippen brachte . . .

Denn er hatte geliebt und war geliebt worden, und es gibt Gefühle, die so einschneidend sind, daß sie sich zwar nie ein zweites Mal erneuern, aber auch durch nichts ausgerottet werden können.

Eine weichere Stimmung ergriff ihn; Tränen stiegen ihm in die Augen . . .

Als dennoch der Anwalt von Sauveterre seinen Ausruf wiederholte, daß es unglaublich sei, antwortete Jacques in sanftem Ton:

»Ich verlange nicht, daß Sie mir glauben, mein Freund, ich verlange nur, daß Sie mich anhören.«

Und mit aller Kraft gegen die Betäubung ankämpfend, die sich seiner bemächtigt hatte, fuhr er fort:

»Diese Reise nach Fontainebleau entschied unser Schicksal.

Es folgten ihr noch mehrere andere.

Frau von Claudieuse verbrachte den Tag bei ihrer Freundin, und ich irrte die langen Stunden im Walde umher. Aber wir trafen uns abends am Bahnhof wieder. Wir stürzten uns in ein Coupé, das ich von Lyon aus reservieren ließ, wir kehrten gemeinsam nach Paris zurück, und ich begleitete sie im Wagen bis zur Rue de la Ferme-des-Maturins, wo der Marquis Tassar von Bruc, ihr Vater, wohnte. Endlich, eines Abends, verließ sie ihre Freundin in Fontainebleau zur gewöhnlichen Stunde, kehrte aber erst am folgenden Morgen zu ihrem Vater zurück.«

»Jacques!«, rief Herr Magloire empört, als hätte er eine Lästerung angehört.

Herr von Boiscoran ließ sich nicht beirren.

»O ich weiß es«, sagte er, »wie meine Handlungsweise Ihnen erscheinen muß, Magloire. Sie denken, daß es keine Entschuldigung gibt für einen Mann, der das Vertrauen einer Frau verrät, die sich ihm hingegeben hat. Warten Sie jedoch, ehe Sie mich verurteilen.«

Und in festerem Ton fuhr er fort:

»Von nun an hielt ich mich für den glücklichsten Menschen, und mein Herz schwelgte mit krankhafter Eitelkeit in dem Gedanken, daß es mein war, dieses schöne Weib, dessen Ruf so hoch über jedem Verdachte stand.

Und ahnungslos legte ich mir einen jener verhängnisvollen Stricke um den Hals, die nur der Tod zerschneidet, und unsinnig wie ich war, wünschte ich mir Glück zu meinem Erfolge. Vielleicht liebte sie mich damals wirklich. Sie berechnete wenigstens noch nicht, und besiegt von der einzigen Leidenschaft ihres Lebens, öffnete sie mir die dunkelsten Tiefen ihrer Seele.

Damals dachte sie noch nicht daran, sich mir gegenüber abzusichern und mich jeder ihrer Launen zu unterwerfen, und sie eröffnete mir das Geheimnis ihrer Heirat, dieser Verbindung, die ehemals das ganze Land in Staunen setzte.

Nachdem er seinen Abschied eingereicht, war der Marquis von Bruc, ihr Vater, seines müßigen Lebens bald müde geworden; er faßte den Gedanken, der Mittelmäßigkeit seines Vermögens aufzuhelfen. Er hatte sich in gewagte Spekulationen gestürzt, alles, was er besaß, verloren, ja selbst seine Ehre verwirkt.

Verzweifelt, von Furcht und Reue aufgezehrt, begann er dem Gedanken an Selbstmord nachzuhängen, als zufällig einer seiner früheren Berufskollegen, der Graf von Claudieuse, ihn aufsuchte. In einem Augenblick freundschaftlicher Vertraulichkeit gestand der Marquis alles, und der andere gelobte, ihn dem Abgrund der Schande zu entreißen.

Das war schön und groß.

Denn leider sind sie selten geworden, die Jugendfreunde, die so kostspieliger Freundschaftsbezeigungen fähig sind.

Unglücklicherweise bewährte sich der Graf von Claudieuse nicht als der Held, den dieser Anfang ankündigte.

Er hatte Fräulein Geneviève de Tassar von Bruc gesehen, er war geblendet von ihrer Schönheit; von einer jener Leidenschaften ergriffen, die sich durch nichts hemmen lassen, vergaß er, daß sie kaum zwanzig Jahre alt war, während er fünfzig Jahre zählte, und gab seinem Freunde zu verstehen, daß er stets bereit sei, ihm den versprochenen Dienst zu leisten – aber daß er dagegen Fräulein Genevièves Hand verlange.

Am selben Abend begab sich der ruinierte Edelmann in das Gemach seiner Tochter und setzte ihr mit Tränen in den Augen seine Lage auseinander.

Sie zögerte keinen Augenblick.

›Vor allem‹, sagte sie zu ihrem Vater, ›retten wir die Ehre, die durch deinen Tod nicht zu erkaufen wäre. Herr von Claudieuse ist ein grausamer Narr, wenn er vergessen kann, daß er dreißig Jahre älter ist als ich. Von diesem Augenblick an verachte und hasse ich ihn. Sage ihm, daß ich bereit bin, seine Frau zu werden.‹

Und als ihr Vater, vor Schmerz außer sich, rief, daß der Graf eine solche Einwilligung nie annehmen würde, antwortete sie ihm – so sagte sie mir wenigstens –: ›Oh! sei ruhig, ich werde mich in meine Rolle zu schicken wissen, und dein Freund wird keinen schlechten Handel geschlossen haben. Aber ich kenne meinen Wert, und so groß der Dienst ist, den er dir leistet, erinnere dich stets, daß du ihm nichts schuldig bist . . .‹

In weniger als vierzehn Tagen danach hatte Fräulein Geneviève wirklich den Grafen von Claudieuse ahnen lassen, daß sie ihn lieben könnte. Nach Verlauf eines Monats war sie seine Frau geworden.

Der Graf seinerseits hatte alle Versprechungen überboten und die zarteste Gewandtheit bewiesen, um niemand den Ruin des Marquis de Tassar von Bruc ahnen zu lassen. Er hatte ihm zweihunderttausend Francs eingehändigt, um seine Angelegenheiten zu ordnen, er hatte seiner jungen Frau eine Aussteuer von fünfzigtausend Ecus zuerkannt, die nicht mit verrechnet wurden, und endlich hatte er sich verpflichtet, Herrn und Frau von Bruc lebenslänglich eine Rente von zehntausend Livres auszuzahlen. Auf diese Weise opferte er mehr als die Hälfte seines Vermögens.«

Herr Magloire hatte bereits allen Protest aufgegeben.

Starr, mit vor Staunen geweiteten Pupillen, saß er auf seinem Stuhl da, wie jemand, der sich fragt, ob er wacht oder träumt.

»Es ist unbegreiflich«, murmelte er, »es ist unerhört!«

Jacques seinerseits geriet in immer größeren Eifer.

»Das alles«, fuhr er fort, »erzählte Frau von Claudieuse mir in den ersten Stunden unseres Rausches, und zwar mit der größten Ruhe und Kaltblütigkeit, wie eine ganz selbstverständliche Sache.

›Und wahrlich‹, fuhr sie fort, ›Herr von Claudieuse hat sich nicht über den Handel zu beklagen gehabt, der mich ihm auslieferte. Wenn er großmütig war, so bin ich ehrlich gewesen. Mein Vater verdankt ihm das Leben, aber ich habe ihm Jahre eines Glückes gegeben, das er nicht mehr zu erwarten hatte. Wenn er meine Liebe nicht besessen hat, so hat er davon die göttliche Komödie und jeglichen Anschein, süßer als die Wirklichkeit selbst, genossen.‹

Da ich mein Erstaunen nicht verbergen konnte, fügte sie lächelnd hinzu:

›Aber ich brachte einen heimlichen Vorbehalt mit in den Handel. Ich war fest entschlossen, wenn das Glück meiner Tür nahen sollte, meinen Anteil daran zu ergreifen. Dieser Anteil – bist du, Jacques. Und glaube nicht, daß Gewissensbisse mich beunruhigen. Solange mein Gemahl sich glücklich glaubt, bleibe ich in den Grenzen unseres Kontrakts.‹

So sprach sie zu jener Zeit, und ein erfahrenerer Mann als ich wäre entsetzt gewesen . . . Aber ich war ein Kind, und ich liebte sie mit aller Macht des Leibes und der Seele; ich bewunderte ihr Genie und begeisterte mich für ihre List.

Ein Brief des Grafen von Claudieuse weckte uns aus unserem Traum.

Zum ersten und letzten Male in ihrem Leben hatte die Gräfin sich zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen lassen und war drei Wochen länger, als es der Abmachung gemäß war, in Paris geblieben, was ihren Gatten derart beunruhigte, daß er selbst sie holen wollte.

›Es ist Zeit, nach Valpinson zurückzukehren‹, sagte sie; ›denn es gibt nichts, was ich nicht dem Rufe opfern würde, den ich mir zu gründen wußte. Mein Leben, das deinige, das Leben meiner Tochter, alles wäre ich bereit zu opfern für meinen Ruf.‹

Wir hatten damals – diese Tage sind wie in Erz in mein Gedächtnis gegraben –, wir hatten, sage ich, den 12. Oktober.

›Es ist mir unmöglich‹, sagte sie mir, ›dich länger als einen Monat nicht zu sehen. Heute über einen Monat, das heißt am 12. November, stelle dich genau um drei Uhr im Walde von Rochepommier beim »Kreuzweg der Rotmänner« ein . . . Ich werde dort sein.‹

Sie reiste ab und ließ mich in einem Zustand von Ekstase zurück, der mich selbst verhinderte, unter unserer Trennung zu leiden.

Der Gedanke, von einer solchen Frau geliebt zu sein, erfüllte mich mit unsäglichem Stolz, der mich, ich gestehe es, vor mancher Ausschweifung bewahrt hat. Der Ehrgeiz nagte mir am Herzen, wenn ich an sie dachte. Ich wollte arbeiten, mich hervortun, irgendeine Auszeichnung erlangen . . .

Ich will, daß sie stolz sei auf mich, sagte ich mir, beschämt, in meinem Alter noch nichts zu sein als der Sohn eines reichen Vaters . . .«

Mehrmals schon hatte Magloire sich von seinem Stuhl erhoben, und seine Lippen bewegten sich, als ob er eine Einwendung vorbringen wollte.

Aber er hatte sich selbst gelobt, ihn nicht zu unterbrechen, und so gut es ihm gelang, hielt er sein Wort.

»Indessen«, fuhr Jacques fort, »nahte die von Frau von Claudieuse bestimmte Zeit heran. Ich reiste nach Boiscoran, und am festgesetzten Tage, ein wenig nach der anberaumten Stunde, langte ich beim ›Kreuzweg der Rotmänner‹ an.

Wenn ich mich, zu meinem größten Mißmut, ein wenig verspätet hatte, so war dies geschehen, weil ich die Wälder von Rochepommier nur wenig kannte und der von der Gräfin zu unserem Stelldichein ausgesuchte Ort im dichtesten Hochwalde lag.

Das Wetter war für die Jahreszeit ungewöhnlich rauh. Am Tage zuvor hatte es stark geschneit; ein scharfer Wind schüttelte die Flocken von den Zweigen der Bäume.

Von weitem erblickte ich die Gräfin von Claudieuse, die mit fieberhafter Unruhe auf einem kleinen Platz hin und her ging, wo der Boden trocken und von mächtigen Felsblöcken eingeschlossen war.

Sie trug ein sehr langes Gewand von granatfarbener Seide, einen mit Pelz verbrämten Tuchmantel und einen Sammethut von der Farbe ihres Kleides.

In drei Sätzen war ich bei ihr.

Aber sie zog ihre Hand nicht aus dem Muff hervor, um sie mir zu reichen, und ohne mir Zeit zur Entschuldigung zu geben, sprach sie in trockenem Ton:

›Wann bist du in Boiscoran angekommen?‹

›Gestern abend.‹

›Was für ein Kind du bist!‹ rief sie mit dem Fuße stampfend. ›Gestern abend! Und unter welchem Vorwande?‹

›Ich bedarf keines Vorwands, um meinen Onkel zu besuchen!‹

›Und es hat ihn nicht in Verwunderung gesetzt, dich in dieser Jahreszeit und bei einem solchen Wetter plötzlich bei ihm erscheinen zu sehen?‹

›Aber – wenn auch, ein wenig‹, antwortete ich einfältigerweise und unfähig, ihr die Wahrheit zu verbergen.

Ihre Unzufriedenheit schien noch zuzunehmen.

›Und wie‹, sprach sie, ›bist du hierhergekommen? Kanntest du denn den Kreuzweg nicht?‹

›Nein, ich ließ mir die Richtung angeben.‹

›Durch wen?‹

›Durch einen Diener meines Onkels; sein Anweisung aber war so wenig klar, daß ich den Weg verfehlte.‹

Sie sah mich mit einem so ironischen Lächeln an, daß ich unwillkürlich innehielt.

›Und das alles erscheint dir ganz ungefährlich? Du meinst, daß man es in Boiscoran ganz natürlich finden wird, dich wie eine Bombe eintreffen und dich sogleich auf die Jagd nach dem »Kreuzweg der Rotmänner« gehen zu sehen! Wer weiß, ob man dir nicht gefolgt ist? Wer weiß, ob nicht hinter einem dieser Bäume ein Paar Augen nach uns ausspähen?‹

Da sie bei diesen Worten mit der lebhaftesten Unruhe um sich blickte, konnte ich mich nicht enthalten, ihr zu sagen:

›Was fürchtest du? Bin ich nicht da?‹

Es ist mir, als sähe ich ihn noch, den Blick ihrer Augen, mit dem sie mich maß.

›Ich fürchte nichts‹, antwortete sie mir, ›hörst du wohl, nichts in der Welt, als – nicht etwa bloßgestellt, sondern nur verdächtig zu werden. Es gefällt mir zu handeln, wie ich handle; es gefällt mir, einen Geliebten zu haben. Aber ich will nicht, daß man es erfährt. Nur dann würde ich unrecht tun, wenn man wüßte, was ich tue. Wenn ich zwischen meinem Ruf und meinem Leben zu wählen hätte, so würde ich mich nicht für mein Leben entscheiden. Ja, wenn wir entdeckt würden, so würde ich eher wünschen, daß es durch meinen Gatten als durch einen Fremden geschähe. Ich habe durchaus keine Neigung zu Herrn von Claudieuse, ich werde ihm unsere Heirat nie verzeihen, aber er hat die Ehre meines Vaters gerettet, ich muß die seine unverletzt erhalten. Er ist mein Mann, überdies der Vater meiner Tochter, ich trage seinen Namen, und ich will ihn respektiert wissen. Ich würde vor Schmerz, Wut und Schande sterben, wenn ich am Arm eines Mannes erscheinen müßte, den man mit kaum verhehltem Lächeln betrachten könnte. Die Frauen sind unsäglich einfältig, die nicht begreifen, daß die dumme und ungerechte Lächerlichkeit, vor der sie den Mann nicht zu bewahren wußten, den sie verrieten, verächtlich auf sie selbst zurückfällt. Nein, ich liebe Herrn von Claudieuse nicht, Jacques, und ich vergöttere dich . . . Aber zwischen ihm und dir, erinnere dich dessen wohl, würde ich keinen Augenblick schwanken, und um ihm den Schatten eines Verdachtes zu ersparen, würde ich, ob auch mit gebrochenem Herzen, ein Lächeln auf den Lippen, dein Leben und deine Ehre opfern.‹

Ich wollte ihr antworten. Aber sie ließ mir nicht Zeit dazu und fiel mir ins Wort.

›Genug‹, sagte sie. ›Jede Minute, die wir hier verbringen, ist eine Unvorsichtigkeit mehr. Welchen Vorwand willst du deiner Reise nach Boiscoran geben?‹

›Ich weiß es nicht‹, antwortete ich.

›Du mußt von deinem Onkel eine Summe Geldes leihen, um deine Schulden zu bezahlen. Er wird sich vielleicht erzürnen, aber es wird deine plötzliche Reisepassion im November erklären. Und nun gehen wir. Lebe wohl.‹

›Was?‹ rief ich, ›ohne uns wiederzusehen, wenn auch nur aus der Ferne?‹

›Nach dieser Reise‹, antwortete sie, ›wäre das die äußerste Torheit. Aber – warte – bleibe bis Sonntag in Boiscoran. Dein Onkel fehlt nie in der großen Messe; begleite ihn. Aber nimm dich in acht; sei Herr deiner selbst, bewache deine Augen. Eine Unvorsichtigkeit, eine Schwäche, und ich würde dich verachten . . . Jetzt müssen wir uns trennen. Du wirst in Paris einen Brief von mir finden.‹«

Hier hielt Jacques einen Augenblick inne, um auf Herrn Magloires Zügen einen Widerschein seiner Eindrücke, seiner Gedanken zu lesen.

Als er aber sah, daß der Anwalt unbeweglich blieb, seufzte er und begann von neuem:

»Wenn ich in diese Einzelheiten gegangen bin, Magloire, so tat ich das, weil Sie wissen müssen, welch ein Weib Frau von Claudieuse ist, da Ihnen sonst ihr Verhalten unbegreiflich erscheinen würde.

Sie betrog mich nicht, wie Sie sehen. Mit eigener Hand beleuchtete sie den Abgrund, in den ich stürzen sollte.

Ach! weit entfernt, mich zu erschrecken, erhöhten die dunklen Seiten dieses Charakters noch meine Leidenschaft. Ich bewunderte ihre gebieterischen Mienen, ihre Tapferkeit und ihre Vorsicht, diesen gänzlichen Mangel an Moral, der zu ihrer Furcht vor der öffentlichen Meinung in einem zu seltsamen Gegensatze stand.

Sie ist, sagte ich mir mit törichtem Stolz, wahrlich ein starker Charakter.

Sie konnte bei der großen Messe von Bréchy zufrieden sein mit mir, denn ich enthielt mich selbst des leisesten Erzitterns, als ich sie sah, sie begrüßte und so nah an ihr vorbeiging, daß meine Hand ihre Gewänder streifte.

Im übrigen gehorchte ich ihr gewissenhaft. Ich bat meinen Onkel um sechstausend Francs; er gab sie mir lächelnd, denn er war der großmütigste Mensch, zugleich aber sagte er mir:

›Ich glaubte wohl, daß du nicht nur nach Boiscoran gekommen warst, um die Wälder von Rochepommier zu durchstreifen.‹

Dieser nichtssagende Umstand trug noch dazu bei, meine Bewunderung für Frau von Claudieuse zu erhöhen. Wie klug sah sie das Erstaunen meines Onkels voraus, während ich nicht einmal daran gedacht hatte!

Sie besitzt das Genie der Vorsicht! dachte ich. Ja, in der Tat, sie besaß es, und dazu das der Berechnung, und ich sollte bald den Beweis dafür haben.

Als ich in Paris anlangte, fand ich einen Brief von ihr vor, der nichts enthielt als eine lange Umschreibung ihrer Befehle am ›Kreuzweg der Rotmänner‹. Diesem Briefe folgten viele andere, die aufzubewahren, sie mich bei meiner Liebe zu ihr beschwor, und die sämtlich in einer Ecke, der Reihenfolge nach, numeriert waren. Als ich sie das erstemal wiedersah, fragte ich sie nach dem Zweck dieser Nummern.

›Mein lieber Jacques‹, antwortete sie mir, ›eine Frau muß immer wissen, wie viele Briefe sie ihrem Geliebten geschrieben hat. Bis heute mußt du neun erhalten haben . . .‹

Dies war im Mai 1867 zu Rochefort, wohin sie sich begeben hatte, um der Abfahrt eines Kriegsschiffes beizuwohnen, und wohin auch ich auf ihren Befehl gekommen war, um mit ihr dem glücklichen Zufall einige Stunden zu rauben.

Wie ein Tölpel lachte ich über diese schriftstellerische Buchführung und hatte es bald vergessen, denn ich war mit ganz anderen Gedanken beschäftigt.

Sie hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß die Zeit, trotz aller Leiden unserer Trennung, hinging und daß der Monat ihrer Freiheit, der September, nicht mehr fern sei.

›Sollten wir, wie im verflossenen Jahr, auf jene trotz aller Vorsicht doch gefährlichen Reisen nach Fontainebleau angewiesen sein? Warum nicht lieber uns ein einsames Haus in einem abgelegenen Stadtviertel verschaffen?‹

Jeder ihrer Wünsche war mir Befehl. Die Großmut meines Onkels kannte keine Grenzen. Ich kaufte ein Haus . . .«

Endlich tauchte in Jacques' Bericht ein Umstand auf, in dem sich vielleicht der Anfang zu einem Beweise herausstellen konnte.

Und wirklich fuhr Magloire auf und rief, ihn hastig unterbrechend:

»Ah, Sie hatten ein Haus gekauft?«

»Ja, ein hübsches Haus mit einem großen Garten in der Rue de la Vigne zu Passy.«

»Und es gehört Ihnen noch?«

»Ja.«

»Folglich haben Sie die Kaufurkunden?«

»Auch hier noch«, antwortete Jacques mit einer trostlosen Gebärde, »ist das Schicksal gegen mich. Es ist eine ganze Geschichte über dieses Haus zu erzählen.«

Schneller, als es sich aufgeklärt, verdüsterte das Antlitz des Anwalts sich wieder.

»Oh! . . . eine ganze Geschichte zu erzählen . . .«, sagte er, »so so.«

»Ich war kaum mündig«, begann Jacques von neuem, »als ich dieses Haus kaufen wollte. Ich fürchtete Schwierigkeiten zu haben; ich fürchtete, mein Vater könnte etwas davon erfahren; kurz – es gelang mir, mich bis zu Frau von Claudieuses weiser Vorsicht aufzuschwingen. Und so bat ich einen meiner Freunde, einen Engländer, Sir Francis Burnett, diesen Kauf in meinem Namen abzuschließen. Er bewilligte meine Bitte gern. Nachdem der Vertrag abgeschlossen und eingetragen war, händigte er mir die Papiere ein, die meine Rechte bestätigten.«

»Gut! aber was weiter?«

»Warten Sie nur. Ich brachte diese Papiere nicht in die Wohnung, die ich bei meinem Vater bewohnte. Ich legte sie in einem Schranke in meinem Hause zu Passy nieder. Als der Krieg ausbrach, dachte ich nicht daran, sie fortzunehmen. Ich hatte Paris, wie Ihnen wohl bekannt ist, vor der Einschließung verlassen, weil ich eine Kompanie Mobilgarden des Departements befehligte. Während der beiden Belagerungen wurde mein Haus der Reihe nach von den Nationalgarden, von den Soldaten der Kommune und den Liniensoldaten besetzt. Als ich zurückkehrte, fand ich die vier Mauern von Granaten durchlöchert, und außerdem war alles Mobiliar, und mit ihm meine Scheine, verschwunden.«

»Und Sir Francis Burnett?«

»Er hat Frankreich im Augenblick des feindlichen Einfalls verlassen, und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Zwei Freunde in England, denen ich geschrieben, haben mir geantwortet: der eine, daß er in Australien sein müsse, der andere, daß man ihn tot glaube.«

»Und Sie haben keinerlei Schritte getan, sich den Besitz eines Grundstückes zu sichern, das Ihnen gesetzlich zugehört?«

»Bis jetzt nein.«

»Das heißt nach Ihrer Aussage soviel, daß es in Paris ein Haus gibt ohne Eigentümer, von aller Welt, selbst von dem Steuereinnehmer, vergessen.«

»Entschuldigen Sie, die Abgaben sind stets richtig entrichtet worden, und für das ganze Stadtviertel bin ich der Besitzer. Nur über die Person waltet ein Irrtum. Ich habe ohne weiteres die meines Freundes angenommen. Für die Nachbarn, für die Lieferanten der Umgegend, für die Handwerker und den Bauunternehmer, die ich gebraucht habe, für den Tapezierer und den Gärtner bin ich Sir Francis Burnett. Gehen Sie und fragen Sie in der Rue de la Vigne nach Jacques von Boiscoran, man wird Ihnen antworten: ›Kenn' ich nicht.‹ Fragen Sie nach Sir Francis Burnett, und man wird Ihnen sagen: ›Ah! sehr wohl!‹ und wird Ihnen eine Beschreibung von mir geben.«

Mit wenig überzeugter Miene schüttelte Herr Magloire den Kopf.

»Ferner«, sprach er, »ist nach Ihrer Aussage Frau von Claudieuse in dieses Haus zu Passy gekommen?«

»Mehr als fünfzigmal in drei Jahren.«

»Demnach kennt man sie dort?«

»Nein.«

»Aber –«

»Paris ist nicht Sauveterre, Magloire, und man beschäftigt sich dort nicht ausschließlich damit, was der Nachbar denkt und tut. Die Rue de la Vigne ist sehr einsam, und die Gräfin beobachtete, wenn sie kam und ging, die äußerste Vorsicht . . .«

»Gut; es mag außer dem Hause so gewesen sein. Aber im Innern? Sie mußten doch wohl jemand haben, der das Haus bewachte und in Ordnung hielt, da Sie es nicht bewohnten, und der Sie bediente, wenn sie hinkamen?«

»Ich hatte eine englische Magd.«

»Also muß dieses Mädchen Frau von Claudieuse kennen?«

»Nie hat sie sie auch nur von weitem gesehen.«

»Oh!«

»Wenn die Gräfin kam und ging, oder wenn wir uns im Garten ergehen wollten, schickte ich die Magd aus, Aufträge zu erledigen. Ich habe sie bis nach Orleans gesandt, um sie auf vierundzwanzig Stunden los zu sein. Im übrigen verbrachten wir unsere Zeit im oberen Stock und bedienten uns selbst.«

Augenscheinlich saß Herr Magloire wie auf Kohlen.

»Sie müssen sich täuschen«, wandte er ein. »Die Dienstboten sind neugierig, und sich vor ihnen verbergen heißt nur ihre Neugier bis zum Wahnsinn reizen. Diese Magd muß Sie belauert haben. Diese Magd muß die Frau gesehen haben, die Sie bei sich empfingen! Man kann sie verhören. Ist sie noch immer in Ihrem Dienst?«

»Nein. Sie hat mich seit dem Kriege verlassen.«

»Um wohin zu gehen?«

»Nach England, wie ich glaube.«

»So daß man darauf verzichten muß, sie aufzufinden?«

»Ich glaube – ja.«

»Gut; verzichten wir darauf. Aber Ihr Kammerdiener? Der alte Antoine besaß Ihr ganzes Vertrauen. Haben Sie auch ihm nie etwas gesagt?«

»Nie. Ein einziges Mal ließ ich ihn in die Rue de la Vigne kommen, und das nur, weil ich mir den Fuß verstaucht hatte.«

»So ist es unmöglich zu beweisen, daß Frau von Claudieuse in das Haus zu Passy gegangen ist? Sie haben nicht einen Beweis, nicht einen Zeugen ihrer Anwesenheit daselbst?«

»Ich hatte ehemals Beweise. Sie hatte verschiedene Kleinigkeiten, die in ihrem Gebrauche waren, hingebracht, aber sie sind seit dem Kriege verschwunden.«

»Ja – so«, sprach Magloire, »immer der Krieg; der Krieg muß überall herhalten.«

Nie war eines der Verhöre Galpin-Davelines Jacques von Boiscoran so peinlich gewesen wie diese Reihe hastiger Fragen, die eine hoffnungslose Ungläubigkeit verrieten.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Magloire«, fuhr er fort, »daß Frau von Claudieuse das Genie der Behutsamkeit besaß? Es ist leicht, alles geheimzuhalten, wenn man das Geld mit vollen Händen ausgeben kann. Ist es möglich, daß Sie mir ein Verbrechen daraus machen, wenn ich keine Beweise liefern kann? Ist es nicht die erste Pflicht eines Ehrenmannes, alles zu tun, um den Ruf der Frau, die sich ihm anvertraut hat, vor jedem Schatten eines Verdachtes zu bewahren? Ich habe meine Pflicht getan, und was auch daraus folgen mag, ich werde es nicht bereuen. Konnte ich diese unerhörten Ereignisse vorhersehen? Konnte ich vorhersehen, daß ein Tag kommen würde, an welchem ich, Jacques von Boiscoran, genötigt wäre, die Gräfin von Claudieuse zu denunzieren und nach Beweisen und Zeugen gegen sie zu suchen?«

Der Anwalt von Sauveterre wandte den Kopf ab. Und statt zu antworten, sprach er mit erregender Stimme: »Fahren Sie fort, Jacques, fahren Sie fort!«

Die Entmutigung, die sich seiner bemächtigte, niederkämpfend, begann Jacques von neuem: »Am 2. September 1867 betrat Frau von Claudieuse zum erstenmal das für sie gekaufte und ausgestattete Haus zu Passy, und während der fünf Wochen, die sie in diesem Jahr in Paris verbrachte, war sie täglich einige Stunden dort.

Bei ihren Eltern genoß sie vollständige Freiheit, ohne jegliche Kontrolle. Sie vertraute ihrer Mutter, der Marquise von Tassar, ihre Tochter an, denn zu jener Zeit hatte sie nur eine Tochter; im übrigen stand es ihr frei, zu gehen und zu kommen, wie es ihr beliebte.

Wenn ihr daran lag, noch unbeschränktere Freiheit zu haben, so besuchte sie ihre Freundin in Fontainebleau und gewann jedesmal vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden für die Reise.

Ich hatte, um meinerseits nicht durch Familienbeziehungen gestört zu werden, vorgegeben, ich sei nach Irland gereist, und hatte mich statt dessen in der Rue de la Vigne eingerichtet.

Diese fünf Wochen verflogen wie ein Traum, und dennoch muß ich gestehen, daß die Trennung mir nicht so schmerzlich war, wie ich es erwartet hatte.

Nicht, daß der Zauber gebrochen war.

Aber ich habe es immer demütigend gefunden, sich verbergen zu müssen. Diese Existenz unter fortwährenden Vorsichtsmaßregeln fing an, mich zu ermüden, und ich sehnte mich darnach, die Person meines Freundes Francis Burnett aufzugeben und wieder meine eigene vorzustellen.

Im übrigen hatten wir, Frau von Claudieuse und ich, uns gegenseitig geschworen, nicht einen Monat verrinnen zu lassen, ohne wenigstens einige Stunden beisammen zu sein, und sie hatte die verschiedensten Ausflüchte ersonnen, damit wir uns ohne Gefahr sehen konnten.

Um dieselbe Zeit trat ein Familienunglück ein, das unseren Plänen Vorschub leistete.

Der ältere Bruder meines Vaters starb. Es war derselbe nachsichtige Onkel, der mir die Mittel gegeben, mein Haus in Passy zu kaufen, und sein ganzes Vermögen hatte er mir vermacht.

Als Besitzer von Boiscoran hatte ich von nun an die gültigsten Gründe, auf dem Land zu wohnen und unter allen Umständen hinzukommen, ohne daß irgend jemand fragen konnte, was ich dort zu tun hätte.«


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