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10.

Im Verlaufe all dieser Ereignisse war Roselore von ihrem Interesse für die »tote Stadt« und die »Conchita« abgekommen und hatte die amerikanischen Zeitungen, die ihr Vater regelmäßig zugeschickt bekam, achtlos liegen lassen. Doch nun griff sie wieder danach. Das Lesen dieser Zeitung bereitete ihr wieder großes Vergnügen. Denn das Format der Blätter war so riesenhaft, daß man sich gut dahinter verbergen konnte wie hinter einem Wandschirm. »Man kann bloß zwei Beine von Dose sehen,« sagte Taddy. »Weiter nichts.« Und es bereitete ihm ein Hauptvergnügen, mit seiner kleinen Faust in diese papierne Wand ein Fenster hineinzuschlagen, durch das Roselore dann hinausschaute, wenn sie gut gelaunt war, zuweilen aber auch mit der Hand hindurchgriff und das vorwitzige Brüderchen am Ohr zupfte.

Der Text der Zeitungen war in deutscher Sprache abgefaßt. Manchmal boten die Inserate darin aber ein drolliges Kauderwelsch, weil, wie Herr Stelling erklärte, die Menschen, wenn sie drüben sind, gar zu leicht ihre liebe deutsche Sprache verlernen.

Wenn Roselore Langeweile hatte, wartete sie sogar jetzt mit Ungeduld darauf, daß der Vater die Zeitung beiseite legte. – Auch heute saß sie wieder neben ihm und schaute neugierig über den Rand des Blattes hinein in die vielen schmalen Spalten mit kürzeren oder längeren Artikeln und Erzählungen, die häufig von fettgedruckten Inseraten unterbrochen wurden, um das Auge der Leser darauf zu lenken.

Da ließ Herr Stelling die Zeitung jäh sinken und sah zu seiner Frau hinüber, die am Fenster saß und den letzten Schein kümmerlichen Tageslichtes ausnutzte, um Strümpfe zu stopfen.

»Freund Sparrow ist gestorben,« sagte er. »Ich lese es soeben. Er, der Letzte seiner Familie, ist nun dahin! Er war ein guter Mensch. Möge er in der fremden Erde sanft ruhen!«

»Sparrow?« erkundigte sich Roselore neugierig. »Wer ist denn das? Einer von deinen Leuten, Papa?«

»Ach wo! Er war ein Farmer, so hat er wenigstens vor vielen Jahren begonnen. Nachher verlegte er sich auf den Gummihandel. Und dadurch ist er reich geworden, schwer reich. Er war ein Deutscher und schloß sich an uns an, denn er wollte gern hören, wie es jetzt in der Heimat ausschaut. Er sprach auch immer davon, einmal nach Deutschland zu reisen. Er sagte, daß er irgendwo in Deutschland noch Verwandte haben müsse.« Herr Stelling sah wieder in die Zeitung. »Siehste wohl?« fuhr er fort. »Hier steht's auch: Da Herr Sparrow hier keine Angehörigen und somit auch keine Erben besitzt, wird in Deutschland, woher er stammt, nach den rechtmäßigen Erben gesucht werden.«

»Au, fein!« mischte sich Roselore ein. »Das möchte ich wohl sein. Donnerlittchen, wenn einem so mir nichts dir nichts millionenweise die Dollars in den Schoß plumpsen! Dann würde ich …«

»Schweig doch!« gebot die Mutter dem Plappermäulchen Ruhe. »Sparrow nannte er sich drüben; doch wie lautete sein deutscher Name?«

»Na, der lautete eben so, wie Sparrow auf deutsch heißt, nämlich ›Sperling‹.«

»Juhuh!« schrie Roselore auf. »Ich weiß, ich weiß …« Sie sprang aufgeregt auf die Füße. »Papa, Mammy, Frau Winter hieß mit ihrem Mädchennamen ›Sperling‹. Sie hat es mir einmal erzählt, und wir haben so darüber gelacht, daß sie einmal ein Sperling gewesen ist. Juhuuu! Nun kann Edith die Malakademie besuchen und reisen, wohin sie will, und sie kann sich gesund pflegen und …«

»Halt' ein!« befahl der Vater. »Luftschlösser zu bauen, ist kein empfehlenswertes Geschäft. Die plumpsen allzuoft zusammen.«

»Na, dann will ich Frau Winter doch einmal fragen gehen!« sagte Roselore und huschte hinaus, ohne abzuwarten, ob ihre Eltern damit einverstanden wären. –

Frau Winter war daheim, Edith war ausgegangen. Als Roselore, atemlos vom schnellen Treppenlauf, ihre Neuigkeit heraussprudelte, wußte Frau Winter für den ersten Augenblick gar nicht, was das Mädel eigentlich meinte.

»Was ist also los, Kind! Ich höre immer was von ›Sparen‹ und von ›Erbschaft‹ … und beide Dinge liegen mir doch wirklich ganz weltenfern.«

»Ja, Frau Winter, nun geht's los: erst das Erben und dann das Sparen … Mein Papa bekommt doch eine amerikanische Zeitung zugeschickt, jede Woche trifft eine Nummer ein, die natürlich immer etwas altbacken ist. Doch was macht das? Heute nun stand in der Zeitung, daß Herr Sparrow, Papas Freund und ein reicher Farmer und Gummihändler, gestorben ist, und daß seine Erben gesucht werden. Der Verstorbene war deutscher Herkunft, und sein Name lautete eigentlich ›Sperling‹. Er stammt also aus der nämlichen Familie gefiederter Sänger wie Sie.«

Frau Winter wiederholte: »Sperling hieß er? Aber du sagtest doch Sparrow …«

»Nun ja, er hat seinen ehrlichen deutschen Namen ins Englische übersetzt, weil er meinte, das klingt feiner. Aber möchten Sie nicht mit zu uns heraufkommen, Frau Winter, und die Zeitungsnotiz selbst lesen? Papa wird inzwischen wohl fertig damit geworden sein.«

»Das möchte ich doch mit meinen eigenen Augen lesen,« sagte Frau Winter erregt.

Triumphierend ließ Roselore Frau Winter in die Stube treten und sagte: »Hier kommt die Erbin aus Dollarika.«

Herr Stelling begrüßte Frau Winter etwas gemessen, ließ sie auf einem Stuhl niedersitzen und sagte ein wenig verlegen: »Das Mädel führt immer große Worte im Munde. Sie denkt immer schon weit voraus. Es handelt sich um weiter nichts als um eine Notiz, die ich in meiner amerikanischen Zeitung las. Hier bitte, lesen Sie selbst.«

Frau Winter las die wenigen Zeilen, reichte Herrn Stelling das Blatt zurück und sagte: »Das ist freilich herzlich wenig. Doch Roselore sagte. Sie hätten diesen Herrn Sparrow gekannt?«

»Freilich!« gab Herr Stelling zur Antwort. »Ich habe manche schöne Stunde mit ihm verlebt und so manch liebes Heimatlied mit ihm gesungen, ›Im schönsten Wiesengrunde‹, das Lied sang er zu gern.«

»Wo war Ihr Freund denn ansässig?« erkundigte sich Frau Winter.

»Er hatte sein Landhaus in Santa Flora, einer ganz kleinen Ortschaft unweit Rio de Janeiro. Sie werden den Ort auf keiner Landkarte finden, er weist ja nur sechs oder sieben Häuser auf. Meist lebte Sparrow in der Stadt. Er besaß ja genug Geld, um sich das Leben angenehm zu machen, ohne arbeiten zu müssen. Familie hatte er nicht mehr, seine Frau war dem Malariafieber erlegen, und seine beiden Söhne sind in einem Kriege gegen die Aufständischen gefallen. Er sprach einmal davon, daß er Angehörige in Deutschland habe, sagte jedoch, er hätte sehr lange nichts mehr von den Verwandten gehört. Ich entsinne mich auch, daß er einmal, als wir beim gemütlichen Schoppen saßen, sentimental wurde und sein Nichtchen in dem fernen Deutschland grüßte, indem er auf deren Wohl sein Glas leerte. ›Na,‹ sagte er dann, wieder heiter werdend, ›bei ihr mag es nun auch heißen: Jugend kehrt nicht wieder, wich sie einmal von dir‹.«

»Wie hieß diese Nichte?« fragte Frau Winter. »Nannte er ihren Namen?«

»Ja, warten Sie einmal, mir ist, als hätte er Martha gesagt,« gab Herr Stelling zurück. »Martha Sperling. Er neckte mich auch gern mit meinem Namen Stelling, weil er dem Namen, den er in Deutschland getragen, so ähnlich lautete. Sonst hätte ich es mir wohl gar nicht gemerkt, daß ›Sparrow‹ auf deutsch ›Sperling‹ heißt.«

»Wie sah Ihr Freund wohl aus? Schildern Sie mir ihn!« bat Frau Winter, deren Wangen sich langsam röter färbten.

Herr Stelling lachte. »Was ist an so einem Manne zu beschreiben? Die Nase stand ihm gerade im Gesicht, und der Mund lief in wagerechter Richtung darunter hin. Einen Bart trug er nicht. – Aber … ich hab' ja ein Lichtbild, das unser Ingenieur einmal von unserer Kolonne aufgenommen hat. Nur die deutschen Leute natürlich. Auf diesem Bilde ist unser deutscher Freund und Gönner mit darauf. Haben Sie noch einen Augenblick Zeit, Frau Winter? Dann suche ich das Bild einmal heraus.«

Herr Stelling hatte das Gruppenbild bald gefunden, er reichte es Frau Winter zu. »Nun suchen Sie einmal selbst!« meinte er lachend. »Mag ja früher ein hübscherer Bursche gewesen sein, der alte Knabe, aber dennoch … jeder muß sein Gesicht sein ganzes Leben lang tragen.«

Frau Winter trat ans Fenster und prüfte das Bild genau.

»Hier stehen Sie, Herr Stelling. Und das hier ist Ihre Frau, und …«

»Na, Freund Sparrow steht nicht weit davon ab,« kam ihr Herr Stelling zu Hilfe.

Da sagte die Frau mit einem tiefen Atemzuge:

»Das ist er. Hier, der große schlanke Mann mit dem geraden Scheitel über der Stirn. So hat er sein Haar schon in der Jugend getragen.«

Roselore hüpfte herbei und vollführte einen Indianertanz. »Hurra, Edith wird eine Dollarprinzessin!« jubelte sie.

»Ist ja alles ganz schön,« fuhr Herr Stelling fort. »Aber erst haben! Da liegt noch viel dazwischen.«

»Ich müßte mich als Erbin melden!« sagte Frau Winter, die nun ebenfalls aufgeregt war. »Aber bei wem? Beim deutschen Konsul drüben?«

Herr Stelling sann nach.

»Sie werden gewiß nicht die einzige sein, die sich meldet, liebe Frau Sperling. Glücksritter gibt es allerorten, und Ihr Name ist nicht eben selten. Ich würde Ihnen den Rat geben, sich zunächst einmal mit dieser deutschen Zeitung hier in Verbindung zu setzen, deren Redakteur mir bekannt ist und der auch Freund Sparrow kannte. Schreiben Sie ihm ganz ausführlich, schildern Sie ihm unsere Unterredung, erzählen Sie von dem Lichtbilde, auf dem Sie Ihren Onkel wiederzuerkennen glauben, und … vergessen Sie die Sache mit dem Scheitel nicht. Mein Freund, der Redakteur, wird, soweit ich ihn beurteile, dann sofort mit Ihrem Briefe zum deutschen Konsul gehen, und er wird auch gern bereit sein, Ihnen weiter behilflich zu sein.«

Frau Winter wandte sich zum Gehen.

»Ich werde Ihren Rat befolgen, Herr Stelling, und sogleich schreiben,« sagte sie.

»Und ich will Ihnen den Brief zum Postamt tragen, damit er so schnell wie möglich aufs Schiff kommt!« meinte Roselore eifrig.

»Müßte man nicht kabeln?« fragte Frau Winter.

»Das werde ich besorgen,« gab Herr Stelling zurück. »Eben, weil der Herr Redakteur mich kennt. Er wird dann mit großem Interesse auf Ihren Brief warten und kann möglicherweise schon für Sie vorarbeiten.«

»Hoffentlich kann ich Ihnen Ihre Mühe einmal reich vergelten!« sagte Frau Winter und schied von Herrn und Frau Stelling mit einem dankbaren Händedruck.

Roselore war ganz aus dem Häuschen. Es litt sie nicht mehr im Hause. Sie konnte nicht still sitzen, obwohl noch sieben ungelöste Rechenaufgaben ihrer warteten.

»Die mache ich heute abend,« dachte sie leichtsinnig. »Jetzt muß ich Edith unterwegs abfangen und ihr die große Neuigkeit erzählen. Oh, was für Augen wird sie machen!«

»Wo willst du denn hin?« fragte Frau Stelling, als Roselore davoneilen wollte.

»Ach … ich möchte nur ein wenig auf die Straße und nachsehen, ob Edith Winter nicht kommt,« sagte das Mädel ungeduldig.

»Die wird schon kommen,« meinte Frau Stelling seelenruhig. »Und die große Neuigkeit, die dir so sehr im Kopfe liegt, wird ihr Frau Winter schon selbst verraten. Doch wenn du gerade Zeit hast und mit deinen Schularbeiten fertig bist, dann nimm den Korb dort und gehe damit zum Gemüsehändler nebenan.«

»Wäsche mangeln?« fragte Roselore enttäuscht, nachdem sie in den Korb geblickt hatte. »Ach, Mammy … ich

Das kam so drollig heraus, daß Frau Stelling lachen mußte.

»Ja, du!« sagte sie. »Bist doch nun ein großes Mädel! Du mußt dich nun daran gewöhnen, daß du mir im Haushalte mit zur Hand gehst. Mir wird es sonst zu viel.«

Roselore sagte kleinlaut:

»Ja, Mammy, ich helfe dir ja auch schrecklich gern. Ich will auch die Wäsche mangeln gehen. Aber erst laß mich noch meine Rechenarbeiten fertig machen, sonst habe ich keine Ruhe. Und Schularbeiten sind doch auch wichtiger als Haushaltsarbeiten.«

Es ging schneller, als Roselore zuerst geglaubt hatte.

Die Aufgaben waren in einer knappen halben Stunde gelöst, und fröhlich packte Roselore ihre Hefte weg, nahm den Korb mit der Mangelwäsche und ging damit fort.

Roselore hatte kaum die Straße betreten, da sah sie Edith Winter daherkommen. »Das paßt ja gerade!« dachte sie zufrieden. »Wie gut, daß ich meine Schularbeiten nun fertig habe. Wäre ich sogleich fortgelaufen, so hätte ich bis jetzt unnütz auf der heißen Straße gestanden und abends noch zu rechnen gehabt.«

Edith Winter hatte nun Roselore auch gesehen, sie eilte auf das Mädel zu und faßte den gedeckten Korb am Henkel, um ihrer kleinen Freundin tragen zu helfen.

»Hast du noch zu tun?« fragte sie teilnahmsvoll.

»Ach, das wird schnell gemacht sein!« sagte Roselore munter. »Ich muß Wäsche mangeln, aber es sind nur kleine Stücke.«

Edith meinte freundlich: »Meiner Mutter kann ich nicht helfen, denn sie hat Waschtag, und das Waschen ist für mich eine zu schwere Arbeit. Aber beim Mangeln könnte ich dir gern helfen, wenn du magst. Dann geht's schneller. – Ich lege die Wäsche ein, und du drehst.«

»Oh, fein,« sagte Roselore fröhlich. »Dann können wir uns ja etwas dabei erzählen.«

»Ja,« meinte Edith. »Wenn ich nur etwas Feines wüßte! Ich weiß heute aber auch gar keine Geschichte für dich!«

»Aber ich weiß eine,« sagte Roselore stolz. »Na, lassen Sie uns nur erst in der Mangelkammer sein, da hört uns niemand. Da werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen, eine wahre Geschichte! Die Geschichte von einer Dollarprinzessin, die Edith heißt. Weiter verrate ich jetzt nichts.«

Mit roten Wangen und heißen Händen stand Roselore ein Viertelstündchen später neben Edith und packte mit ihr zusammen die gemangelte Wäsche wieder in den Korb. Es war schnell gegangen. Roselore hatte sich dabei auch recht beeilt, denn während des Drehens der schweren Mangel konnte sie ja nicht sprechen, und ihre Neuigkeit drückte sie wie eine Last.

»Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit,« sagte sie mit einem Blick auf die Uhr. »Kommen Sie, Edith, wir setzen uns hier gemütlich auf die Bank, und dann sage ich Ihnen, was ich Neues weiß.«

Roselore ergriff Ediths Hände, preßte sie krampfhaft in den ihrigen und erzählte ihr von dem Tode des Mister Sparrow, des Freundes ihres Vaters, der drüben in Übersee gelebt hatte und viel, viel Geld hinterlassen hatte, und der … Ediths verschollener Großonkel Eduard Sperling gewesen war.


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