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Herr Stelling hatte alle Koffer und Kisten, die mitgekommen waren, ausgepackt, den Inhalt geordnet und in Schränken und Kästen verstaut. Ein Koffer, eine Kiste nacheinander wanderten auf den Boden. Bei der letzten Kiste, die schon ganz ausgeräumt war, ließ er plötzlich einen lauten Pfiff hören und rief nach Roselore, die auch sogleich angesprungen kam.
»Hier, Mädel,« sagte er und reichte seiner Tochter ein kleines Päckchen hin. »Das hätte ich beinahe vergessen! Und dabei hattest du es dir doch gewünscht und bestellt, als wir damals fortreisten. Na, es macht nichts, die Dinger haben ein zähes Leben, und die lange Haft in der Kiste wird ihnen nicht geschadet haben.«
Roselore hielt das Päckchen in der Hand und fragte wißbegierig: »Was ist darin, Papa? Doch nicht ein Tier, ein Vogel? Aber nein, der wäre ja längst tot! Steine? Vielleicht gar ein Goldklumpen?«
»Unsinn!« sagte Herr Stelling und lachte. »Meinst du, das Gold liegt da drüben auf der Straße herum, wie hier die Kieselsteine? – Wickle doch das Papier ab! Ah, nun siehst du ja selbst, was darin war. Es sind Knollen von einer seltsamen Blume aus dem Urwald drüben, die man hier zu Lande wohl gar nicht kennt. Ich glaube nicht einmal, daß der Botanische Garten irgendeiner großen Stadt sie besitzt. Anleitung zur Wartung und Pflege dieser Pflanze kann ich dir freilich nicht geben. Aber du bist ja ein kleines Genie in diesem Fach, so ein richtiges Blumenmütterchen. Vielleicht geruht die Pflanze also, unter deinen Händen zu wachsen, sich zu entfalten und aufzublühen.«
»Wie heißt denn die Blume?« erkundigte sich Roselore und betrachtete mißtrauisch die drei kleinen, grüngrauen, harten Wurzelknollen in ihrer Hand.
»Ja, Kind, wie man sie drüben nennt auf spanisch oder portugiesisch, das habe ich wieder vergessen. Auf deutsch übersetzt heißt diese Blume ›Menschenauge‹. Ich fand sie einmal in den Trümmern der ›Città morta‹, einer ehemaligen, herrlichen Stadt unweit Rio de Janeiro. Diese alte Stadt verschlingt der Urwald mit unheimlicher Schnelligkeit. Man vermag sich kaum mehr einen Weg durch das Gewucher der Schlingpflanzen zu bahnen, die alles Lebendige mit ihrem Geranke ersticken und erdrücken. Kirchen, Paläste, Bauwerke, alles fällt dem mordenden Urwald dort zum Opfer. Niemand mag mehr in jene Gegend, sie ist allen unheimlich, und es ist auch gefährlich, weil man sich leicht verirren kann und dann den Ausweg nicht mehr findet.«
»Können denn die Menschen dort nichts mit Äxten und Maschinen ausrichten?« fragte Roselore voll Eifer.
»Das hat man alles schon versucht, aber die Versuche sind erfolglos geblieben. Was vermag auch Menschenhand im Kampfe mit der Naturgewalt! Die Steine, aus denen einst jene herrlichen Bauten gefügt wurden, werden vermorschen, aber der Urwald wird leben, weiter wachsen und die letzte Spur von dem Dasein von Menschen in jener Gegend vernichten. Weißt du nicht, wie Schiller in seinem ›Lied von der Glocke‹ sagt? ›Die Elemente hassen das Gebild' von Menschenhand‹.«
Was war das für ein seltsames Wehen, das Roselore plötzlich aus den unscheinbaren Pflanzenknollen zu spüren vermeinte? Heißes, pulsendes Drängen schien an den schlummernden Keimen zu rühren. Sie hielt die Knollen auf der flachen Hand, und plötzlich stieg der Urwald vor ihrem Geiste auf, wie ihn die Bücher schilderten, die sie gelesen hatte, und wie ihn des Vaters Worte soeben angedeutet hatten. Lianen schlangen sich in zähen Ketten den Boden entlang, an uralten Bäumen empor, wurden wieder überwuchert von hohen, saftigen Gräsern, zwischen denen Blumen aufschossen in märchenhafter Schnelle, leuchtend in ihren Farben, seltsam in Gestalt und Duft, und ihre Kelche blickten durch das Dickicht wie Menschenaugen.
»Ich werde die Knollen einpflanzen,« sagte sie mit ehrfürchtiger Scheu. »Und ich will mir viel Mühe damit geben, damit sie wachsen und blühen. Sie sollen zum Blühen kommen für Edith Winter! Fräulein Edith muß sie malen, und durch das seltene, herrliche Bild soll sie mit einem Schlage eine berühmte Malerin werden. Und man soll ihr dann das Bild für viel, viel Geld abkaufen, damit die Not für sie und ihre Mutter auf immer ein Ende hat!«
Roselore hatte nicht bemerkt, daß der Vater längst fortgegangen war und sie ganz allein inmitten des Zimmers stand, immer noch die seltsamen, unscheinbaren Wurzelknollen in der Hand, in denen geheimnisvolles, unsichtbares Leben schlummerte. Sie beugte sich darüber, der Hauch ihres Mundes traf die harten, kalten Knollen, ihre Lippen berührten sie.
»Fremdlinge aus ferner Erde,« dachte sie voll Mitleid. »Ich will versuchen, euch eine neue Heimat zu geben!« Flog ihr nicht ein süßer, leiser Duft entgegen, wie ein stiller Dank? Ach, sie täuschte sich wohl nur. Vielleicht war das Leben in den Knollen überhaupt schon tot! Aber versuchen wollte sie, ob etwas daraus werden würde.
Sie suchte sich einen geräumigen Blumentopf aus, füllte ihn mit der guten Erde aus Großmutters Garten, pflanzte die Knollen ein und gab dem Topfe einen guten Platz in der Sonne.
»Nun wachse und zeige mir, wie schön du bist, du Wunderblume von Übersee!« sagte sie leise, und ihr Wunsch klang wie ein Gebet. – –
Niemand in Roselores Umgebung achtete darauf, was sie auf dem Balkon an gärtnerischen Versuchen anstellte. Selbst der lose, kleine Bruder Taddy, der ihr so gern eine Freude verdarb, kümmerte sich nicht um Roselores Blumen. Zuweilen sandten Hausbewohner einen flüchtigen Blick zu dem Balkon hinauf, wo es so übervoll sproßte und blühte. In den Läden sprach es sich herum, und manche Hausfrau versuchte es Roselore nachzumachen. Es war auffällig, wie in der Umgebung des Hauses, wo Stellings wohnten, die gepflegte Blumenzier auf Fenstersimsen und Balkons zunahm. Und nicht minder war das Hofeckchen, das Meister Fleck dem Mädel zum Bepflanzen freigegeben hatte, das Ziel der Aufmerksamkeit aller Hausbewohner.
»Das Mädel müßte einen richtigen Garten zu besorgen haben!« sagte Frau Genovev' zu ihrem Manne. »Sie hat Lust und Liebe zur Gärtnerei und auch eine glückliche Hand. Die Eltern hätten sie bei der Großmutter draußen in Biesenthal lassen sollen, das wäre gescheiter gewesen.«
»Mach' dir nischt d'raus …, was kommen soll, das kommt auch!« sagte Meister Fleck bedächtig zu seiner Frau Genovev'. »Das ist das Fatum!«
Sie wußte darauf nichts zu antworten und begab sich wieder an ihre Hausarbeit zurück.
Es war Frau Stelling nicht angenehm, daß sich Roselore mit Leuten aus dem Seitenflügel angefreundet hatte. Sie mochte Hausbekanntschaften und -freundschaften nicht gern. Dabei wurden zu viel private Angelegenheiten herumgetragen.
Und besonders Roselore war noch so einfältig, daß sie sich leicht aushorchen ließ. Wer waren überhaupt diese Winters im Seitenflügel? Arme Leute, denen der Gerichtsvollzieher die letzten Möbel gepfändet hatte; oder es war bittere Not gewesen, die Frau Winter veranlaßt hatte, ihre kleine Einrichtung nach und nach zu verkaufen. Niemand wußte etwas Genaues darüber zu sagen. Daß Frau Winter viel Kosten für Ediths Pflege zu tragen hatte, bedachte niemand. Edith war fast beständig in ärztlicher Behandlung. Gern hätte ihr die Mutter einmal einen Erholungsurlaub irgendwo in guter Luft verschafft, aber Frau Winter kannte die Wege nicht, die sie einzuschlagen hatte, um zu solchen gemeinnützigen Beihilfen zu gelangen, die nichts kosteten, und es lebte auch in ihr, die selbst aus gutem Hause stammte, noch ein Rest von Stolz und Ehrgefühl. Sie mochte nicht betteln und bitten gehen, sie konnte es einfach nicht. So versuchte sie, mit ihrer Rente und mit dem, was Edith verdiente, sich einzurichten, so gut es eben ging.
Frau Stelling war eine sehr gutherzige, weiche Natur, aber sie war durch den Aufenthalt im anderen Erdteil ungewandt im Verkehr mit Notleidenden geworden und fand sich überhaupt in der neuen Welt, die sich ihr hier in der Heimat aufgetan hatte, schwer zurecht. Drüben hatten sie alles in Überfluß gefunden, und das, was man hierzulande zu den Leckereien zählte, hatte sie dort in Hülle und Fülle zur Verfügung gehabt. Die Natur der Tropen spendete ja alles so reichlich, und alles war vom allerbesten. Wo aß man jemals wieder solche Apfelsinen, Bananen und Kokosnüsse wie auf dem paradiesischen Fleckchen Erde, wo sie fünf Jahre lang mit ihrem Manne gelebt hatte! Wo war jemals das Bedürfnis nach Kleidung so gering wie dort, wo man tagaus, tagein Waschkleider trug, fast das ganze Jahr lang? Wo zur Weihnachtszeit die herrlichsten Blumen blühten, die Vögel sangen und helle, kühlere Nächte das Reizvollste waren am ganzen Tage! Sie erzählte Roselore oft davon. Sie plauderte gern und verstand schön und anschaulich zu schildern. Roselore war eine begeisterte Zuhörerin, und auch Taddy saß still da, wenn seine Mammy erzählte, und er warf nur hin und wieder die weise Bemerkung dazwischen: »Ja, das weiß ich auch. Da war ich dabei.«
Roselores Freundinnen: Grete Taurig, Sophie Weinrich und Vera Teuerkauf fanden sich ebenfalls oft bei Stellings ein, um den Erzählungen von Roselores Mutter zu lauschen. Einmal hatte Frau Stelling auch den dringenden Bitten ihres Töchterchens nachgegeben und Frau Winter und Edith zu Besuch gebeten. Aber Edith vermochte dem Gespräch nicht recht zu folgen, sie fühlte sich zu müde. Frau Winter saß mit ernstem Gesicht da und sagte nicht viel. Nur einmal unterbrach sie Frau Stellings Schilderungen mit der Frage, ob sie wohl auch nach Bolivia gekommen wäre.
Frau Stelling verneinte es. »Wir blieben an Ort und Stelle und im engsten Umkreis des Arbeitsfeldes. Die Leute hatten auch auf einer kleinen Insel zu tun, die man vom Lande aus in etwa zweistündiger Dampferfahrt erreichte. Dort verweilte mein Mann mit seiner Kolonne und einem Ingenieur einmal fast ein ganzes Jahr lang. Es war sehr schön dort, aber sehr einsam. Doch wie kamen Sie auf die Frage, ob ich Bolivia kenne? – Haben Sie dort etwa jemand?«
Frau Winter sah still vor sich hin. »Ein Bruder meines Vaters ist vor mehr als dreißig Jahren dorthin ausgewandert,« sagte sie. »Wir haben aber lange nichts mehr von ihm gehört. Ein einziges Mal hat er an mich geschrieben, damals lebte er in Santa Cruz de la Sierra.«
Frau Winter schwieg, und da Frau Stelling der genannte Ort ganz fremd war, ging sie nicht näher auf die Abschweifung ein, sondern erzählte weiter. Roselore dagegen hatte aufmerksam zugehört und nahm sich vor, sogleich nachher den Atlas aufzuschlagen und nach Santa Cruz zu suchen. Südamerika war seit einiger Zeit ihr Lieblingsfeld in der Geographie, und sie liebte es ebensosehr, wie sie andere Länder, zum Beispiel Rußland wegen des kalten Klimas, haßte.
»Mammy, erzähl' das vom Apfel doch mal!« schmeichelte Taddy. Er mochte Märchen gar zu gern hören.
»Vom Apfel aus dem Paradiese?« fragte Vera Teuerkauf naseweis dazwischen.
»So was Ähnliches, aber ganz, ganz anders!« erklärte Roselore. »Ach, bitte, Mama, erzähl' uns das doch mal!«
Frau Stelling lächelte zustimmend.
»Es ist ein altes Märchen der Indianer, die vereinzelt noch in den Bergen leben, deren Stamm aber nun langsam ausstirbt!« sagte sie. »Man könnte es aber ebensogut auf unsere heimatlichen Verhältnisse anwenden, darum hört:
›Eines Tages schaute der ›Große Geist‹, dem alles untertan ist, was die Erde trägt, und der mit seinen Blitzen alles vernichten kann, was da lebt, aus seinen Wolkenburgen auf die Erde herab. Da sah er die Menschen friedlich miteinander dahinleben, und es gelüstete ihn, unter ihnen einige Verwirrung anzurichten.
›Ich will euch das Leben etwas schwerer machen!‹ dachte er. – Und er nahm einen Apfel, zerbrach ihn in zwei Teile und warf beide Hälften herab auf die Erde. Da kollerte die eine hierhin, die andere dorthin.
Und sie rollten und rollten unablässig weiter durch das Land. Ein Mägdlein kam des Weges, sah die eine Hälfte und hob sie auf, und ebenso geschah es mit der anderen Hälfte: ein Jüngling erblickte sie und fing sie in ihrem rasenden kollernden Laufe mit seinen Händen. Nun standen die beiden da, jedes eine Apfelhälfte in der Hand, aber durch Wälder und Berge und Flüsse waren sie weit voneinander getrennt.
Da lachte der ›große Geist‹ in seinen langen, schwarzen Bart hinein und sagte: ›Nun suchet einander und findet nicht eher Ruhe, bis sich die eine Apfelhälfte wieder zu der anderen gesellt.‹
Und in beider Herzen, sowohl in des Mädchens Herz wie in dem des Jünglings, schwoll eine große, große Sehnsucht auf. Und sie machten sich auf die Wanderung, um etwas zu suchen … aber was? Das wußten sie wohl selber nicht. Und so müssen sie, von Unruhe getrieben, wandern und suchen, bis sie sich gefunden haben. Doch nicht genug damit: Dem ›großen Geist‹ gefiel dieses Spiel, und er zerteilte immer aufs neue Äpfel und warf die Hälften auf die Erde, eine hierhin, eine dorthin. Und nun kommt es zuweilen vor, daß sich zwei Menschen begegnen, von denen jeder eine Apfelhälfte in der Hand hält, und sie vermeinen, einander gesucht und gefunden zu haben. Aber es sind nicht die zueinander passenden Hälften, und daher entsteht in dem Bunde, den die beiden schließen, eine Kluft, die ihre Eintracht stört.‹
»Na, Mammy,« sagte Roselore, »du hast sicher die richtige Apfelhälfte erwischt, denn du lebst ja mit Papa in schönster Harmonie!« meinte Roselore lachend.
Taddy machte begehrliche Augen.
»Mammy hat Apfel gefunden? Oh, laß mich mal abbeißen davon, liebe Mammy!«
»Das Schönste, was uns das Leben gibt, ist die Sehnsucht,« sagte Frau Winter leise. »Wenn sie sich dann in Erfüllung gewandelt hat, ist ihr Reiz verklungen. Dann wünschen wir uns eine neue Sehnsucht herbei.«
»Das klingt wie ein Aufsatz-Thema,« sagte Grete Taurig und schüttelte sich. Sie schrieb nicht gern Aufsätze. Das verleidete ihr den Schulbesuch stets.
»Nein, solche Aufsätze bekommen wir jetzt nicht mehr!« widersprach die phlegmatische Weinrich. »Wir müssen jetzt erzählen und berichten. Habt ihr das noch nicht bemerkt? Erlebnisse erzählen, von Reisen berichten und Geschichten schreiben.«
»Au, fein! Da weiß ich nun gleich was für das nächste Mal!« sagte Vera und klatschte in die Hände.
»Nein, das vom Apfel will ich erzählen!« riefen die beiden anderen, und Roselore fuhr dazwischen: »Es ist eigentlich mein Thema, denn meine Mutter hat es mir von Übersee mitgebracht!«
Pitts Eintritt brach den freundschaftlichen Streit unvermittelt ab. Der Bengel kam heulend und schluchzend ins Zimmer gestürzt und warf sich vor Frau Stelling auf die Knie. »Oh, Mammy, Mammy! Leute sein ganz schlecht hier. Haben gesagt, ich sei Mohrenkopf zu essen, und meine Haare sein ganz krumm.«
Die Mädel lachten. »Nein,« meinte Vera Teuerkauf, »wenn ich auch Mohrenköpfe gern mag, für den da muß ich denn doch danken!« Und Roselore meinte, Pitt sei recht dumm. Ob er lieber glatte Haare haben möchte und Zöpfe, wie sie selber?
Sophie Weinrich jedoch, die Pitt gut leiden mochte, zog ihn neckend am Haar und sagte: »Du hast nicht Mohrenkopf, sondern Bubikopf, Pitt. Und das ist hochmodern und etwas sehr Feines.«
Da leuchteten die schwarzen Augen des Boys, und er riß sie so weit auf, daß man das Weiße darin schimmern sah.
Roselore stand, nachdem die Freundinnen und Frau Winter mit Edith gegangen waren, nachdenklich am Fenster und fühlte, wie ihr das Herz schwer wurde. Schon seit längerer Zeit hatte sie es herausgefühlt, daß sie die Mitschülerinnen nicht recht achteten, sie nicht für voll ansahen und sie bei allem an die Seite drängten. Niemals hatte sie den Grund dafür herausgefunden. War sie nicht fleißig, so daß die Lehrer niemals Grund hatten, sie zu tadeln? War sie nicht jedermann gefällig, immer freundlich, hilfsbereit, wenn eine im Unterricht nicht so recht mitgekommen war? Teilte sie nicht alles mit den anderen, Kuchen, Blumen, Bilder? Der Lehrerin stellte sie regelmäßig ein Sträußchen auf den Tisch und heimste einen freundlichen Dank dafür ein. Aber die anderen Mädchen brachten Obst mit zur Schule und boten davon der Lehrerin an. Was war es also, das sie in den Augen der übrigen so zurücksetzte?
Heute war es ihr klar geworden. Nur eines konnte es sein. Man hielt sie für altmodisch, denn sie trug noch Zöpfe und keinen Bubikopf.
Heute, bei Pitts Gejammer, war ihr das klar geworden. Wer keinen Bubikopf trägt, gilt eben nicht für voll. Alle Mädchen in der Schule trugen die Haare kurz verschnitten, Zöpfe sah man nirgends mehr. Alle Frauen im Hause hatten diese Haartracht: Fräulein Edith, ihre Mutter und auch die Frau Meisterin Genovev'. Die Bäckersfrau, die Schlächtersfrau … sie alle trugen ihr Haar kurz geschnitten und gewellt, mit Spangen gebändigt, wenn es zu wild wogte. Und sie, Roselore, sie allein stand morgens immer da und flocht ihr langes Haar in Zöpfe und wickelte sie dann am Kopfe zusammen. War das nicht unsinnig? Hatten die Mädels nicht recht, wenn sie über sie lachten?
Roselore war ein Mensch schneller Entschlüsse. Sie zog die Tischschublade auf, entnahm ihr eine große Schere, ergriff, rückwärts langend, den linken ihrer langen schwarzen Zöpfe und … ritsch, ratsch … war der Schnitt geschehen, und die breite, lange Haarsträhne lag in Roselores Hand.
Nun den zweiten, den rechten Zopf!
In diesem Augenblick betrat die Mutter den Küchenraum. Ein schneller Blick sagte ihr, was geschehen war. Sie entriß dem Mädel die Schere, Roselore fühlte einen Ruck am Arm, einen heftigen Schmerz auf ihrer Wange, sie hörte ein klatschendes Geräusch … ihre Mutter hatte sie geschlagen!
Verdutzt, ganz benommen von dem Unerhörten, noch niemals Erlebten, stand sie da. Immer hatte sie tun dürfen, was sie wollte. Niemals hatte die Großmutter sich darum gekümmert, wie sich Roselore das Haar flocht und aufsteckte. Einmal war sie mit sechs enggeflochtenen Zöpfen umhergelaufen, weil sie zu einer Schulfeier ihr Haar offen tragen wollte und es recht kraus werden sollte; und die Großmutter hatte kein Wort darüber gesagt. Machte sie sich einmal Flecken ins Kleid, dann sagte die Großmutter: »Wasche es schnell aus!« Und kam sie mit einem Riß im Kleide oder in der Schürze heim, so mußte sie sich den Schaden eben selbst wieder ausbessern. Aber Schläge wegen solcher Dinge? Nein, das hatte sie noch nicht erlebt!
Etwas wie Rebellion gegen die Mutter stieg in dem Mädel auf, trotzig schaute sie vor sich hin, dicke Tränen in den Augen.
Da sagte die Mutter: »Ich habe dich geschlagen, Rose. Nicht um des abgeschnittenen Haares willen, denn das ist nichts so Wichtiges, wie du vielleicht annimmst. Aber ein Kind muß seine Mutter um Rat fragen, bevor es etwas selbständig ausführt. Der Verstand eines Kindes ist noch unvollkommen. Und vielleicht wäre der Schnitt auch schöner geworden, wenn du mir gesagt hättest, daß du die Zöpfe abgeschnitten haben möchtest. Ich wäre mit dir zum Friseur gegangen, der hat das geeignete Handwerkszeug für solche Änderungen. Nun, du hast es selber machen wollen und magst nun mit den Haarstummeln umherlaufen. Daß du dir aber auch den zweiten Zopf absäbelst, das leide ich nicht. Heute habe ich keine Zeit, um mit dir zum Friseur zu gehen, du mußt es also so lassen, wie es ist. Morgen nachmittag zwischen fünf und sechs gehen wir dann zusammen fort, und ich lasse dir das Haar kleidsam schneiden.«
Himmel! – Morgen nachmittag! Und bis dahin sollte sie mit den Stummeln an der einen Kopfhälfte und mit dem baumelnden Zopf an der anderen Seite herumlaufen! Obwohl Roselore nicht gerade eitel war, wurde ihr dennoch bange.
Denn morgen war sie zu Vera Teuerkauf zum Geburtstag eingeladen! Schon um drei Uhr sollte sie dort sein. Da mußte sie also um fünf Uhr wieder fort von der schönen Feier! Und sie mußte den ganzen Tag mit der entsetzlichen Frisur herumlaufen!
»Mama!« schluchzte sie auf. Aber die Mutter hörte es nicht mehr, denn sie hatte die Küche verlassen. Den abgeschnittenen Zopf hatte sie mitgenommen. Roselore kauerte sich auf einen Holzschemel und trotzte.
Aber bald sah sie ein, daß sie mit diesem stummen Trotz nichts besserte. Hatte sie sich nicht schon in so mancher fatalen Lage Rat verschafft? Ja, ja, so mußte es gehen! Nur den Mut nicht verlieren, dachte Roselore.
Sie band die kurzen Haarstummel fest zusammen, legte den rechten langen Zopf darüber im Nacken bis ans linke Ohr und führte ihn ebenso wieder zurück. Oh, wie lang der Zopf war! Sie konnte sogar das Ende noch unter der Flechte verbergen. Nun lag der Zopf am Hinterkopfe wie ein Halbkranz, ein paar Haarnadeln hielten ihn fest.
Roselore ging auf den Hof, um zu erforschen, ob jemand etwas über ihre veränderte Frisur sagte; aber keines der Kinder schien etwas zu bemerken. Nur die Frau Meisterin rief sie ans Fenster heran und meinte, ihr Zopf sei ja heute so dünn gegen sonst.
»Ihr habt wohl ein paar Strähnen herausgeschnitten?« erkundigte sie sich. »Ja ja, du hast zu viel Haar, das mag jetzt in der Hitze lästig sein.«
Da berichtete Roselore der Frau Genovev' und dem Meister Fleck ihr Leid.
»Mach' dir nischt d'raus!« sagte der Schneider. »Was kommen soll, das kommt auch. Das ist das Fatum. Aber sei nett zu deiner Mutter und zeig' dich verständig. Sag' ihr, es hätte dir niemals einer dreingeredet, nun wäre alles so neu. Du würdest von nun an immer um Rat fragen kommen. Und dann bitte deine Mutter, daß sie dich von der Schule abholt und sogleich mit dir zum Haarkünstler geht, von wegen des Geburtstages. Damit dich die Mädel nicht auslachen! In der Schule brauchst du davon nichts zu erzählen, es merkt's keiner, wenn's auch meine Genovev' gleich gesehen hat. Die hat Luchsaugen.«
Nun war Roselore wieder fröhlich; und als sie beim Abendessen die bescheidene Bitte aussprach, daß die Mutter gleich von der Schule aus mit ihr zum Haarschneider gehen möge, der bevorstehenden Geburtstagsfeier wegen, war Frau Stelling milde gestimmt und ging auf den Vorschlag ihres Töchterchens ein.
»Es ist aber ein Jammer um das schöne Haar!« konnte sie sich nicht enthalten zu sagen. –