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Die Schule hatte wieder begonnen.
Braungebrannt und erfrischt waren die Kinder aus ihren Ferien zurückgekommen, und die genossene Freiheit wollte sich dem Zwange der Schuldisziplin zuerst gar nicht wieder fügen. Lehrer und Lehrerinnen mußten zunächst »ein Auge zudrücken« und Nachsicht walten lassen. Nach und nach aber ergriff der Ernst der Pflicht wieder das Zepter und stellte die altgewohnte Ordnung aufs neue her. –
Roselore merkte bald, daß sie hinter den Klassengefährtinnen zurückstand: sie war ja nicht verreist gewesen! Davon erzählte auch ihre blasse Gesichtsfarbe, die gegen die braune Haut der anderen Mädchen seltsam abstach. Der Klassenlehrer, Herr Dorn, schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Die Ferien sind doch dazu da, daß sich die Kinder erholen!« sagte er. »Aber bei dir, Roselore Stelling, muß man befürchten, daß du demnächst gar krank wirst.«
»Ich bin ganz gesund!« widersprach Roselore. »Und ich habe auch mindestens ebensoviel erlebt wie die anderen. Schon die Sache mit der Conchita war ein Erlebnis.«
»Was ist denn das für eine Sache?« erkundigte sich Herr Dorn. »Das mußt du mir genauer erzählen. In der Pause nachher, wenn ihr auf den Hof geht, kannst du einmal zu mir kommen. Ich möchte mehr über dein Erlebnis hören.«
Die Mädchen machten talergroße Augen, als sich Herr Lehrer Dorn zu Roselore Stelling gesellte und mit ihr plaudernd auf und ab ging. Ganz wie ein Herr mit einer Dame! Roselore war in der letzten Zeit sehr gewachsen, nun gehörte sie zu den an Körperlänge Größten in der Klasse. Sie hatte sich eine sichere, ruhige Haltung angeeignet, der Bubikopf kleidete sie vorzüglich, und ihr hübsches Gesichtchen war zwar nicht kaffeebraun gebrannt, trug aber doch eine gesunde Tönung und wies rote, frische Wangen auf.
Es war überhaupt auffallend, wie Lehrer Dorn die Roselore auszeichnete! Immer hatte er sein Augenmerk auf sie gerichtet; er fragte sie jedesmal, wenn er etwas erklärt hatte, ob sie es auch recht verstanden hätte, er ließ die allerschönsten Gedichte von ihr – ausgerechnet von ihr – deklamieren, obwohl es jede andere auch brennend gern getan hätte. Und ihren Ferienaufsatz, in dem sie über die »Wunderblume« geplaudert hatte, las er sogar selbst vor!
»Hast du dir etwas Besonderes dabei gedacht, Roselore?« fragte er, nachdem er die Vorlesung beendet hatte und das Heft in ihre Hände zurückgab. »Verstehe mich recht, Kind: Hast du irgend etwas Besonderes empfunden bei dem schnellen Aufblühen und nicht minder schnellen Vergehen der seltsamen Blume?«
Roselore wurde verlegen. »Was er nur jetzt immer mit mir hat!« dachte sie unwillig. »Er soll mich doch in Ruhe lassen. Ich will nicht so in den Vordergrund gestellt werden, ich mag das eben nicht.«
Und aus diesem Trotzgefühl und der Abneigung gegen die Bevorzugung seitens des Lehrers klang ihre Antwort:
»Ich weiß selbst nicht. Ich hab' mir schon gedacht, daß es im Leben immer so geht wie bei der Conchita. Erst erwartet man eine Freude und sehnt sie herbei, und kaum sieht man seinen Wunsch erfüllt und freut sich darüber, so welkt die Freude dahin, und das Ende ist eklig und abschreckend. Ich mag die Conchita niemals wieder blühen sehen!«
»Nun, nun,« meinte Herr Dorn etwas betreten, »so arg ist es nicht, wie du es ansiehst, mein Kind. Es handelt sich eben nur darum, nach erlaubten Freuden zu streben, nach solchen, die wirklich des Strebens wert sind. Was gut und edel ist, das wird auch einen edlen und schönen Ausklang und ein schönes Ende finden. Denke nur einmal an einen herrlichen Sonnenuntergang! Es gibt freilich auch Freuden, die des Strebens und der Mühe nicht wert sind, die nur die Sinne blenden, das Herz aber unbefriedigt lassen. Bei ihnen wird der Nachgeschmack immer schal und eklig sein.«
»So hab' ich es doch auch gemeint!« sagte Roselore und setzte sich wieder auf ihre Schulbank nieder.
»Kleine Roselore,« sagte Herr Dorn ein anderes Mal. »Du kleines Blumenmütterchen!«
Dem Mädel schoß das Rot ins Gesicht.
»Warum nennen Sie mich so?« fragte sie heftig. »Wenn ich auch eine Blumenfreundin bin, so brauchen Sie mich deswegen doch nicht zu verspotten und zu hänseln. Ich bin niemals ein ›Puppenmütterchen‹ gewesen, wie Sophie Weinrich zum Beispiel, die sogar ihre Puppen in die Schule mitbringt, damit wir die neuen Kleider bewundern sollen, die sie gemacht hat. Aber Blumenmütterchen, nein. Das lasse ich mir nicht gefallen.«
»Schon gut, schon gut,« sagte Lehrer Dorn und lachte vor sich hin.
Sophie Weinrich nahm es aber Roselore sehr übel, daß sie ihren Namen genannt und dem Lehrer das Mitbringen der Puppen verraten hatte. Sie kündigte Roselore kurzerhand die Freundschaft.
Vera Teuerkauf trat auf Sophies Seite, ihr folgte Gretel Taurig alsbald nach. Das vierblättrige Kleeblatt war zerstört! Roselore sah sich plötzlich allein stehen, und das war um so schmerzlicher, als auch die ganze übrige Klasse nun aus ihrer Abneigung gegen Roselore kein Hehl machte.
Die Folgen dieses Zwistes machten sich alsbald fühlbar.
Erstens wurde Roselore jetzt nirgends mehr eingeladen, und wenn sie nicht ihre Freundin Edith Winter gehabt hätte, so wäre es trübe um sie bestellt gewesen. Denn jedes junge Mädel braucht den Umgang mit Gleichgesinnten und deren traute Gemeinschaft.
Bald fingen einige dann an, Roselore einen Schabernack zu spielen. Man heftete ihr einen Zettel an den Mantel mit der Aufschrift »Frisch gestrichen«; man stopfte ihr die Schulmappe voll Kastanien, so daß diese dann herauskollerten, wenn die nichtsahnende Roselore die Tasche öffnete. Man versteckte ihr die Mütze, den Schal, und sie mußte nach Schulschluß immer lange suchen, ehe sie ihre Sachen fand. Man goß ihr das Tintenfaß übervoll mit Tinte, oder man leerte es bis auf wenige Tropfen; eine bot ihr ein Stück Kuchen an, das dick mit Salz bestreut war. Und den Schulweg mußte Roselore immer allein gehen, während die anderen in langer Reihe, lustig plaudernd, daherkamen.
Eines Tages hatte Lehrer Dorn sehr schwierige Rechenexempel aufgegeben. Die Mädel seufzten und stöhnten, und einige Mutige baten, die Hälfte der Exempel für das nächste Mal zurückzustellen.
»Das kann ich nicht,« meinte Lehrer Dorn. »Denn wir müssen unser Pensum bis zu den Herbstferien schaffen. Aber ich will euch etwas versprechen: Wer sich Mühe gibt und sämtliche Rechenaufgaben ausarbeitet, erhält von mir zur Belohnung … ein Töchterbuch.«
»Da brauchen wir uns doch gar nicht anzustrengen,« raunte Gretel Taurig ihrer Nachbarin Sophie Weinrich zu. »Das Buch hat Roselore Stelling schon in der Tasche … ich wette, daß sie es bekommt.«
Und Roselore bekam auch wirklich das hübsche Buch, weil sie eben die einzige gewesen war, die alle Aufgaben ausgerechnet hatte … wenn auch drei von den zehn Exempeln nicht richtig waren.
An dem Tage, wo sie das Buch nach Hause brachte, war Tante Loni, die Lehrerin aus Biesenthal, zu Besuch gekommen.
Roselore wies ihr das Buch vor. »Ei, von wem hast du das wohl?« fragte sie. »Das ist ja ganz neu. Ich sah es noch bei keinem Buchhändler.«
»Unser Klassenlehrer, Herr Dorn, hat es mir geschenkt, weil ich meine Rechenaufgaben gemacht habe,« sagte Roselore ohne ein Zeichen der Freude über diese Anerkennung.
Herr Stelling fuhr dazwischen:
»Das begreife ich nicht! Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, daß ein Kind die Arbeiten erledigt, die ihm aufgegeben worden sind. Muß es deswegen noch besonders belohnt werden?«
Tante Loni nahm den Kollegen mit großem Eifer in Schutz. »Du hast 'ne Ahnung, lieber Thomas,« sprach sie. »Wenn alle Wünsche der Lehrer getreulich von seiten der Schüler befolgt würden, dann hätten wir ja den Himmel auf Erden. Ich finde es sehr nett von Herrn Dorn, daß er die Kinder zum Fleiß anspornt und sie dafür belohnt, wenn sie willig und gern ihre Pflicht tun.«
»Es ging ganz schnell,« sagte Roselore unwirsch. »Da war nichts weiter dabei. Und drei Exempel hatte ich überhaupt falsch.«
»Du wirst das Buch auch die anderen Mitschülerinnen lesen lassen, hörst du?« gebot Herr Stelling.
Roselore zuckte die Achseln.
»Wer weiß, ob sie das mögen. – Die haben ja alle so viel schöne Bücher!«
»Wie ist Herr Dorn sonst zu dir?« erkundigte sich Tante Loni und sah Roselore dabei ganz seltsam und dringlich an.
»Ach … er ist ganz nett. Er soll mich nur mehr in Ruhe lassen, das wäre mir lieber. Immerzu ruft er mich auf.«
»Nun, wenn du deine Sache gelernt hast, so kann dir das ja nur lieb sein!« sagte Herr Stelling.
Niemand hatte während des Gespräches darauf geachtet, daß sich Taddy des neuen Buches bemächtigt hatte. Und da er wohl mit Steinchen und Bauklötzen zu spielen verstand, von der Zerreißbarkeit der Bücher und von deren Entwertung dadurch jedoch noch keine rechte Ahnung haben mochte, ihm außerdem auch wohl das leise »ritze-ratz« der zerpflückten Blätter viel Spaß machte, war binnen ganz kurzer Zeit das hübsche Buch nur noch ein Gerippe von flatternden Blättern, die wehklagend aus dem bunten Umschlagdeckel hervorsahen.
Frau Stelling entriß dem kleinen Buben das Buch und verabfolgte ihm einen Klaps auf die Finger. Roselore sagte lässig: »Ach, laß doch, das hat nichts weiter auf sich.« Aber Tante Loni wurde eifrig. »Ich schenke dir ein neues Buch, Roselore. Nein, um die Früchte deines Fleißes soll dich niemand bringen.«
Das Mädel dachte an die Conchita seligen Angedenkens, seufzte ergebungsvoll und schwieg. –
Tante Loni hielt Wort und schickte Roselore ein neues Töchterbuch, und zwar kam es mit der Post. Und da Roselore selten eigene Post empfing, weil das in Anbetracht ihres jugendlichen Alters erklärlich war, freute sie sich sehr darüber und schob das neue Buch sogleich in ihre Schulmappe, denn dort war es vor Taddys Händen am sichersten.
»Das hätte Tante Loni doch nicht nötig gehabt,« wunderte sich die Mutter. »Mit dem Buche hatte es doch nicht so große Eile! Das hätte Zeit gehabt bis zum nächsten Wiedersehen, und sie hätte das Porto sparen können.«
Roselore aber war froh, daß sie das Buch nun hatte. »Wer weiß, ob Tante nach einigen Tagen noch so gebefreudig gewesen wäre!« dachte sie. »Das Eisen muß man schmieden, solange es warm ist.«
Es war ein trüber, regnerischer Tag. In den Klassenräumen war schlechtes Licht, man konnte nur mühsam lesen; es war auch infolge des dauernden Regens kühl in den Zimmern und die allgemeine Stimmung durchaus keine rosige, zumal sich eine langweilige Unterrichtsstunde an die andere reihte.
Als die Pause angebrochen war, regnete es draußen so stark, daß niemand Lust verspürte, auf den Hof zu gehen. Mißlaunig blieben die Mädel auf ihren Plätzen sitzen und verzehrten ihr Frühstück.
Auch der Klassenlehrer, Herr Dorn, war im Zimmer geblieben und hatte, nachdenklich auf und ab gehend, seine Semmel verzehrt.
Da schien ihm plötzlich ein Gedanke zu kommen. Er putzte sich die Hände an seinem Taschentuche ab, stieg auf das Katheder, klopfte einmal mit dem Lineal, gebot Ruhe und sagte:
»Roselore Stelling! – Hast du wohl zufällig das Töchterbuch bei dir? Ich möchte euch daraus etwas vorlesen.«
Wie froh war Roselore, daß sie von Tante Loni das Buch erhalten und es auch gerade bei sich hatte! Himmel – – wenn sie Herrn Dorn hätte sagen müssen, daß Taddy das Buch zerrissen hatte, ehe sie es überhaupt gelesen! – Wie peinlich wäre das für sie gewesen!
Sie reichte dem Lehrer das Buch mit einem artigen Knicks hin, und er lächelte ihr freundlich Dank zu.
Nun saßen alle gespannt aus ihren Plätzen. Sie mochten es überaus gern, wenn Herr Dorn vorlas, und nun gar so etwas Nettes, ohne Zweifel Lustiges! – Es wurde ganz still in der Klasse, und die Augen aller waren nach dem Katheder gerichtet, wo Herr Dorn suchend in dem Buche blätterte.
Auf einmal stutzte er.
Er klappte das Buch wieder zu, besah es von allen Seiten, schlug es dann wieder auf, ließ den Blick sinnend auf den Seiten ruhen – und wurde ganz rot dabei.
Den Mädels in der Klasse wurde bange ums Herz. Was war denn mit dem Buche los? Hatte sich Herr Dorn erschrocken? Langsam verebbte die Röte wieder auf seinem Gesicht und machte einem feinen Lächeln Platz.
»Also paßt auf, Mädels, jetzt geht's los!« sagte er, immer noch lächelnd. Und nun las er vor, Seite auf Seite, und seine Stimme hatte einen merkwürdig weichen, schmeichelnden Klang.
»So könnte er bis heute abend vorlesen!« tuschelte Gretel Taurig ihrer Nachbarin zu. »Das hört sich zu schön an.«
Nun, das Vorlesen dauerte freilich nicht bis zum Abend, aber die Mädel genossen dennoch die Freude, daß Herr Lehrer Dorn das Zeichen zum Wiederbeginn des Unterrichts überhörte und, obwohl die Pause beendet war, weiter in die nächste Unterrichtsstunde hineinlas – – gerade bis in die Mitte der langweiligen deutschen Grammatikstunde hinein.
Dann klappte er das Buch zu, stieg vom Katheder und gab Roselore das Buch zurück.
»Ist das das nämliche Buch, welches ich dir gegeben habe?« fragte er.
Roselore bekam einen roten Kopf. O weh, nun kam es doch heraus! Was sollte sie tun? Lügen mochte sie nicht. Aber in ihre Augen stiegen Tränen.
»Ach, Herr Lehrer, seien Sie nur nicht böse,« bat sie. »Meine Tante Loni hat mir dieses Buch geschickt, weil unser Taddy das andere entzweigemacht hat. Das tat ihr so leid, und sie schenkte mir heute früh ein neues.«
Sie sah mit ihren großen, dunklen Augen zu ihm auf, und da er sie ebenfalls ansah, ohne etwas zu sagen, senkte sie ihren Blick wieder. Die anderen Mädel fingen an zu kichern.
Da gab sich Herr Dorn einen Ruck, lächelte Roselore freundlich an und sagte: »Es ist gut, Roselore. Du meintest doch die Tante Lehrerin, nicht wahr? Fräulein Leontine Stelling in Biesenthal?«
»Ja, die ist es,« gab das Mädel erstaunt zur Antwort und fühlte sich auf einmal ganz hochgeehrt, weil nun die gesamte Klasse gehört hatte, daß sie eine Lehrerin zur Tante hatte, und daß Herr Dorn diese Tante kannte.
Der Rest des Schulunterrichts verlief in altgewohnter Weise. Vera Teuerkauf drängelte sich beim Fortgehen an Roselore heran und sagte: »Du, Rose, leih' mir das Buch, sobald du es ausgelesen hast.«
»Ja, gewiß sehr gern,« entgegnete Roselore und war erfreut, Vera nun als Freundin wiedergewonnen zu haben.