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Am Kreuz des Klosters Fremersberg.

Es war im Jahre 18.., da von Baden-Baden eine fröhliche Gesellschaft von Alten und Jungen dem Fremersberg zuwanderte. Das ist ein Berg, der sich mit seinem bewaldeten Rücken heraus ins Rheinthal schiebt. Will man etwas sehen von Gottes Pracht und Schöne, so muß man dorthin wandern. Zu Füßen liegen inmitten von Obstbäumen und Weinbergen die Städte und Dörfer der Rheinebene; zwischendurch zieht sich der Silberstreif des Rheins, und in der Ferne steigen die blauen Vogesen mit ihren Felszacken empor. In grauem Flor sieht man den Straßburger Münster wie einen mächtigen Fingerzeig nach oben ragen, und über dem Waldgrund schauen aus den dunklen Tannen die Trümmer der düstern Iburg hervor, eine Burg, die mit Sagen ebenso umwoben ist, wie mit grünem Epheu. Dort oben die Sonne sinken sehen, die ganze Gegend in Abendgold getaucht, die Glocken hören, die den Abendsegen läuten, und den Abendwind durch die hohen Tannen gehen sehen – das alles ist ein unvergleichlich Schauspiel. Es war Nachmittag geworden, ehe der heiße Weg zurückgelegt war, der über manchen nackten, steinichten Fels ging. Endlich empfing ein großer, schöner Garten, mit hohen Malven und Lilien reichlich geschmückt, und eine freundliche Herberge die müden Wanderer. Nachdem sie sich erquickt, lagerten sie sich in einen schattigen Busch.

»Ihr wißt doch, lieben Freunde,« so begann der Aelteste unter der Gesellschaft, ein Mann mit edlem Antlitz und silberweißem Haar – »wo wir sind?«

»Nun ja – auf dem Fremersberg beim Adlerwirth, der guten Affenthaler und Limburger Käse hat,« sagte ein junger Fant von zehn Jahren.

»Gewiß, bei dem sind wir auch, du hungriger Schnabel – aber weißt du auch, daß hier einst ein Kloster stand? Da, wo du jetzt sitzest, gingen Mönche in braunen Kutten und Kapuzen über dem Kopf auf und nieder und sangen die Hora und Vesper.«

»Ein Kloster!« sagte erschrocken der Junge, »das ist ja doch was Ehrwürdiges! Warum ist's denn jetzt ein Wirthshaus? sag mir doch.« –

»Ja, das ist eine lange Geschichte. Siehst Du dort unter den Malven das hohe, weiße Kreuz? Geh doch mal hin und schreib Dir den Vers ab, der unten auf den Sockel steht, dann sollst du weiter hören.«

Der Junge kam bald zurück und las den Vers vor, der lautete:

»Ob auch die Welt in Trümmer geht,
Das Kreuz doch unerschüttert steht,
Ob auch die Seel' im Kampfe bricht,
Mein Herr und Christ, ich laß dich nicht!«

»Wie kommt denn dieser Vers da drauf?« sagte ein blondgelocktes Mädchen, »er ist so schön und klingt ganz neu. Es ist doch ein altes Kloster gewesen.«

»Nun, laßt Euch sagen. Ich kannte noch den letzten Mönch des Klosters; das war der Pater Hermann, ein altes, gebrechliches Männlein, der wohnte hier mit zwei Knechten. Er hatte einen gelehrigen Pudel, der alle Tage mit einem großen Korb im Maul den Weg durchs Gebirg nach Baden-Baden machte und dort Brot und Fleisch holte. Er kannte ganz genau die Läden und lieferte alles richtig ab. Als der alte Pater gestorben war, wurde das alte, baufällige Kloster auf den Abbruch versteigert, und nun ist's ein Wirthshaus geworden. Aber nun zu der Inschrift. Sieh' dort, wo das Kreuz steht, war einst der Hochaltar der Fremersberger Kirche. Im Jahre des Heils, da man schrieb 1411, lebte oben ein Einsiedler mitten im dichtesten Wald, das war der Bruder Heinrich, seines Zeichens ein Leineweber, der ein fleißiges und frommes Leben führte. Aus den Dörfern ringsumher kamen die Leute, ihn zu hören, und bald traten auch andere Waldbrüder zu ihm, die die Einsamkeit mit ihm theilten. Da geschah's einmal in einer Nacht, daß die Waldbrüder durch den langgezogenen Ton eines Hüfthorns aus dem Schlaf geweckt wurden. Sie sprangen auf, zündeten eine Fackel an aus Pech und Reisig und machten sich auf den Weg. Da hören sie es rauschen aus dem Gebüsch; mit Mühe ringt sich ein Roß aus dem Sumpf und Gestein, und darauf sitzt blutend aus manchen Wunden ein Jägersmann in ritterlichem Kleid. Sie fassen die Zügel und bringen den Verirrten in ihre Klause und waschen ihm die Wunden. Noch halb in Ohnmacht und Fieber sprach der greise Jägersmann die Worte:

»Mein Herr und Christ, ich laß dich nicht!«

Deß freuten sich die Brüder. Sie merkten, daß es doch kein Unhold war, den sie da unters Dach genommen, sondern ein frommer Reitersmann. Einer der Brüder aber schaute verwundert auf einen goldenen Schmuck, den der Jäger um den Hals trug (es war eine schwere goldene Kette mit dem Bilde des Kaisers); und hatte dabei so seine Gedanken. Als am frühen Morgen der Jägersmann gestärkt erwachte, sagte er zu den Brüdern: ›Nun, vergelt's Euch Gott, Ihr frommen Brüder, daß Ihr mich aufgenommen. Nehmt die goldene Kette zum Lohn, aber mehr noch will ich thun. Da, wo Eure Klause steht, soll ein Kloster gebaut werden und ein Kirchlein dazu, damit, wenn sich andere Wanderer hier verirren, man sie pflege und hege. Bin ich doch der Markgraf Jacob von Baden, dem ihr das Leben gerettet!‹ Da küßten sie ihm die Hand und dankten ihm. Bald darauf fing es an zu hämmern und zu klopfen, Stein an Stein fügte sich und Stamm an Stamm, und das Klösterlein war 1426 fertig. Viel Stürme sind darüber gezogen. Krieg und Brand haben's oft verheert, aber immer ist's wieder aufs Neue erstanden. Viele arme Wanderer haben hier Quartier und Hülfe gefunden, und in Hungerzeiten sind die Armen gespeist worden. Zuletzt starben die Patres aus. Als auch die letzte Spur des Klosters gefallen, da hat unser Großherzog Leopold den Ahnherrn noch geehrt und sein damaliges Stoßgebet in den schönen Vers gewoben und das große Sandsteinkreuz errichten lassen, zum Gedächtniß, daß hier einst eine stille Stätte des Segens gewesen. Das Kloster ist dahin, die Mauern sind gefallen, und die Patres gestorben – aber das Kreuz ist geblieben. Und das Kreuz wird auch bleiben, ob auch die Welt in Trümmer geht, und selig ist doch der, der sagen kann: ›Wenn auch die Seel' im Kampfe bricht: Mein Herr und Christ, ich laß dich nicht‹.« –

Der alte Herr hatte geendet. Der Junge war derweil zu seinen Füßen still eingeschlafen und träumte an dem heißen Sommernachmittag von den Mönchen, die hier gewandelt; über die andern kam aber eine wunderbare Stille, wie sie manchmal mitten über eine fröhliche Gesellschaft so kommt. Da mag denn Keiner der Erste sein, der anfängt zu sprechen. Sagt man keinen besonders guten Gedanken, so jagt man damit die guten Gedanken, die möglicherweise jeder still für sich hat, weg. So stand die Gesellschaft auf und machte sich zum Kreuze hin, das weithin sichtbar war. –

»Wenn ich zur Klosterzeit gelebt, ich wäre dort oben auch ein Mönch geworden,« sagte ein schlank gewachsener junger Mann, der etwa achtzehn Jahre alt sein mochte.

»Du und Mönch!« sagte lachend ein Mädchen, das unter dem großen Florentiner Strohhut, auf dem ein mächtiger Strauß von Feldblumen lagerte, mit seinen hellen, braunen Augen voll quellenden Lebens vorschaute, »Du wärst gerade der rechte! 's wär' doch schade um Deine braunen Locken und Deine interessante Nase, wenn sie so spurlos hinter Klostermauern verschwunden wären.«

»Wer weiß, ob sie beide da nicht besser sich konservirten, als draußen in der Welt. Was ist das bißchen Tonsur gegen die Haare, die man sonst im Leben lassen muß!«

»Das ist Geschmacksache,« entgegnete das Mädchen, das den Namen Veronika trug. »Ich mache an das Leben andere Ansprüche. Ich will hier glücklich werden und sehe gar nicht ein, warum man nicht darauf lossteuern soll. Die Welt für ein Jammerthal ansehen, ist mir von jeher als eine höchst unsympathische krankhafte Anschauung erschienen. Und wenn selbst auch die Welt das wäre, sollen wir sie nicht in einen Freudengarten umwandeln? Sieh mal diese sprossenden Blumen, diese üppigen Rebgänge sind unendlich schöner als die Malvenstauden und Kreuzgänge der alten, jammernden Mönche.«

»Du nimmst den Mund ziemlich voll, geliebtes Kind,« antwortete eine Dame in schneeweißem Haare. »Vielleicht daß Du später anders denkst und kleinlauter bist, wenn Du gesehen, daß es Mächte gibt, gegen die Du nicht ankämpfen kannst. Vielleicht daß ich Dir einmal erzählen kann vom Glück unter den Menschenkindern. Was da an dem Kreuz unten steht, das ist meine Lebenserfahrung.«

Während dieses Gespräches hatte sich ein junges Mädchen hinter Veronika gestellt und ihren Arm um sie gelegt. Sie lauschte und sog mit ihren tiefen, schwarzen Augen die Worte vom Munde der greisen Dame. Veronika wandte sich rasch um. »Du bist's, Clärchen, das ist ganz was für Dich, Du hältst es ja mit dem Klosterleben.«

Unter dem Kreuze hatte sich still ein Junge von acht Jahren gelagert. Ein tiefschwarzes, großes Augenpaar sah fragend und forschend in die Welt hinaus und ebenso tief in den Himmel hinein. Es gibt solche wunderbare Kindergesichter, die ein großes Geheimniß und Fragezeichen sind. Was wird aus ihnen werden? – Man sah es ihm an, daß er über den Spruch nachgesonnen. Mit einem Male sprang er auf und lief auf die Dame zu, die vorhin geredet, und sagte: »Mutter, wird denn die Welt in Trümmer gehen, diese schöne Welt! Wie ist's denn möglich? Werd' ich das noch erleben, und Du auch? Mutter, wie wird denn das sein? Sag' mir's doch!«

»Du fragst viel auf einmal, mein Kind!« entgegnete sie und schaute mit einem liebevollen Blick ihren Jungen an, »aber ich will Dir nur etwas sagen. Siehst Du nicht dort den bunten Schmetterling? Kroch er nicht einmal auf der Erde herum als eine häßliche Raupe, und wie schön sind jetzt seine Farben und wie leicht seine Flügel! Hättest du je gedacht, daß so was aus dem kriechenden Thiere werden könnte? So wird's mit der Erde und dem Menschen auch sein. Was Du siehst, ist nur ein Anfang, aber es wird was Schöneres draus. Meinst Du nicht?«

»Das ist schwer,« antwortete der Junge. Das sagte er immer, wenn so was Besonderes in sein Leben ragte.

»Hat er wieder einmal gefragt, Dein kleiner, schwarzer Philosoph?« sagte ein Geschwisterpaar, ein Knabe und ein Mädchen, die sich Beide umschlungen hielten.

»Gewiß hat er gefragt. Wer nicht fragt, lernt nichts. Habt Ihr nie die Geschichte gelesen von dem Rittersmann, der nie fragte und darum das Beste versäumt hat?«

»Ja, ja, die kennen wir, die steht in den Volksbüchern, weißt Du, Mutter, auf Zundelpapier in Reutlingen gedruckt. Der Ritter hieß Parzival.«

»Nun denn, da konntet Ihr auch was draus lernen. Ihr werdet den Spruch auch einmal verstehen, der unten am Kreuze steht, Ihr und der kleine Schwarze.« – Die Sonne war mittlerweile am Sinken; die kleine Gesellschaft saß noch am Tische. Unter fröhlichem Plaudern waren die gestandene Milch, Himbeeren und Erdbeeren, der Limburger Käse und der rothe Affenthaler nachgerade verschwunden, und der Senior mahnte zum Aufbruch. Unter fröhlichen Liedern ging's durch den Wald nach Baden zurück. Daß aber in Etlichen Nachts im Traume das weiße Kreuz leuchtete und in sanften Tönen das Lied klang: »Mein Herr und Christ, dich laß ich nicht«, hat Niemand geahnt.


Fünfzig Jahre sind reichlich ins Land gezogen seit jenem Nachmittag. Was ist aus ihnen geworden, die einst so fröhlich plaudernd dort saßen und zu dem ernsten Kreuze aufschauten? Ob sie die Inschrift haben verstehen lernen? Ich lasse im Fluge etliche ihrer Bilder an der Seele vorüberziehen. Der alte Herr im weißen Haar, Gott hab' ihn selig! Von ihm muß ich auch singen wie der alte Wandsbecker Bote:

»Friede sei um diesen Grabstein her,
Süßer Friede! Ach, sie haben
Einen guten Mann begraben,
Und mir – mir war er mehr.«

Kaum ist mir im Leben eine solch sonnige Natur wieder begegnet, wie die seinige. Im Hause war er schon in der Jugend der Sonnenschein seines Vaters; das einzige Kind, das »Du« zu dem ehrwürdigen Greise sagen durfte, während die andern Kinder nach strenger Zucht und alter Sitte ehrerbietig »Sie« sagten. In seiner Seele klang jeder echte, edle Ton wieder. Gibt es doch Menschen, unter deren Händen alles, was sie berühren, zu Gold wird; sie sind keine Zauberer, keine Goldmacher, aber sie wissen den Goldgehalt in den Dingen herauszumuthen. Ein unscheinbares, von Andern achtlos übersehenes Ding – sie heben's auf, betrachten es und geben es uns als Gold und Edelstein wieder. Es sind eben die Augen der Liebe und der Freude, in denen alles so licht wiederstrahlt. Sollte solch ein Mann am Kreuze vorübergehen, ohne seine stille Herrlichkeit erblickt zu haben? Nein – ihm leuchtete es ins Herz. Eine stille Seelenverwandtschaft zog ihn, der für alles Schöne ein offenes Auge hatte, zum schönsten der Menschenkinder hin, ihm kostete es weder Kopf noch Herzbrechen. » Jesus sah ihn an und liebte ihn,« hieß es auch hier – nur war seine Antwort eine andere, denn die jenes reichen Jünglings. Denn es fährt die Geschichte seines Lebens nicht fort mit dem: »und er ging traurig davon, denn er hatte viele Güter,« sondern: »und er sah auch Ihn an und liebte Ihn wieder, und gab Ihm nicht blos, was er hatte, sondern alles, was er war.« Ob Dir solche Menschen begegnet sind, denen (wie in etlichen Ländern) die Sonne ohne trübe Dämmerung und Kampf mit Finsterniß und Nebel gleich in voller Pracht aufgeht? – Auch seine Lebenssonne sank licht und klar. Ohne krank gewesen zu sein – er war es überhaupt nie im Leben – kam der Tod als lichter Bote. Mit seiner hellen, hohen Tenorstimme, trotz seiner hohen Jahre, hatte er noch Abends das »O Lamm Gottes unschuldig« gesungen. Nachdem er Palette und Pinsel eben weggelegt und gerade den Fremersberg im sanften Abendsonnenschein gemalt – tönte ein Ruf aus seinem Munde: »Das ist der Tod!« ein anderer: »Im Frieden«, und ein letzter: »Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!« Länger, als dies zu schreiben, dauerte es nicht, und das Auge schloß sich für diese Welt und Zeit, um sich droben in Wonne zu öffnen. »Ob auch die Seel' im Kampfe bricht – Mein Herr und Christ, Dich laß ich nicht!« So klang's im Tode, und war darum kein Tod hier zu sehen, noch zu schmecken.


Sechzehn Jahre vor seinem Heimgange – und jenes Geschwisterpaar, das sich umschlungen hielt und über den kleinen Fragekasten sich wunderte, hatte den letzten Kampf gekämpft. Der Junge, ein still vergnügtes Original, das eigentlich Niemandes bedurfte, um glücklich zu sein, weil er sich seine eigene kleine Welt ausgebaut, die Andere nicht zu verstehen brauchten, stieß darum mit der rauhen, wirklichen Welt immer zusammen. Sie puffte ihn und er sie, überall war er für sie zu kurz und zu lang; seine Lehrer weissagten ihm darum alles mögliche Unglück, und er war nahe daran, es zu glauben. Doch schaute er sie wieder mit den großen, braunen Augen an, als wollte er sagen: »Ihr versteht mich doch Alle nicht.« Ein tiefes Leiden, ein Erbtheil seiner Mutter, hielt ihn von lauten Kreisen der Menschen zurück; um so mehr genoß er innerlich. Sparsam im Worte, öffnete sich nur dann und wann einmal die Schleuse der Rede, dann sprudelte es voll fröhlicher Einfälle über das, was er erlebt, so nüchtern er sonst drein sah. Aber etwas zu werden in dieser Welt, dazu brachte er es nicht. Vor lauter Gedanken konnte er keinen einzigen recht erfassen und durchführen. Da sank er mit den Jahren bisweilen in Schwermuth und Traurigkeit, zu der sein einsames Grübeln die Vorstudien waren. Jeder herzliche Blick und jedes gütige Wort that ihm dann wohl. Plötzlich holte er sich eine schwere Entzündung der Brust und Lunge, von der er zwar anscheinend genas, die aber den Keim des Todes zurückließ. Er war schließlich bei der Kunst wieder angelangt, die er zuerst gepflegt. Zum Besten einer Anstalt für kranke Kinder sollte ein Stahlstich gemacht und verkauft werden. Er sagte: »Laßt's mich machen!« und er zeichnete und stach jenes Kreuz des Hochaltars auf Fremersberg mit dem Spruch darunter. Das schöne Blatt ging in vielen Exemplaren weg und brachte eine Menge Geld. Da flog über das blasse Antlitz, aus dem die fiebernden Augen dunkelglänzend vorschauten, ein Strahl der Freude. Es war seine letzte Arbeit, und eine Ahnung, daß ihm der Vers gelte, zog ihm längst schon durchs Gemüth. Die Tage wurden schwerer, aber auch seine Geduld größer. Unverwandt sah er sein eigen Werk, das an der Wand seines Bettes hing, an. Jugend und Tod, Sehnsucht, erlöst zu sein und wieder zu genesen, rangen mit einander. Aber die Seele kämpfte sich durch, und als er einmal einem älteren, vertrauten Freund sein ganzes Herz ausgeschüttet und Alles, was ihm auf Seele und Gewissen lag, schlicht und kindlich gebeichtet hatte, ging's mit raschen Schritten der Erlösung entgegen. »Ich bin so glücklich! Ich hab' Euch Alle so lieb – mir ist vergeben, ich geh' nach Haus.« Das waren die letzten Worte, und mit dem Blick aufs Kreuz brachen die schönen, dunkeln Augen. Er war eben einundzwanzig Jahre alt geworden, als »im Kampf die Seele brach«. –


Und seine Schwester, das zarte Kind mit den um den Kopf geschlungenen, dicken Zöpfen? Man mußte sie lieb haben in ihrem stillen Wesen. Manchmal brach freilich der Schalk bei ihr durch, aber sie konnte so herzig dabei lachen, daß man ihr nicht böse werden konnte. Bei allen Spielen war sie die Friedensstifterin zwischen den wilden Jungen, und Keiner traute ihr zu opponiren. Sie reifte zur Jungfrau heran, ihre Gedichte und Tagebücher, in die ich einmal einen Blick thun durfte, sagen, was alles ihr durchs junge Herz gezogen. Sie war reich begabt für Musik und hatte eine glockenhelle Sopranstimme; eben waren die Lieder Felix Mendelssohns erschienen, und mit Wonne sang sie diese. Eine stille Neigung verband sie durch die Musik mit einem jungen Künstler, doch blieb alles unausgesprochen. Der Tag kam, der das Geheimniß offenbaren sollte, freilich so anders, als sie's gedacht. Von einem Ausfluge zurückkommend überfiel sie des Nachts ein Fieberschauer, der den Anfang eines tückischen Typhus bildete. In den Fieberphantasien sprach sie von ihrer Liebe, ihre Mutter hielt die fieberglühende, webernde Hand und tröstete sie, so gut es ging. Das Fieber wich, die Krankheit schien gebrochen, aber das Herz war ermattet. Sie fühlte es wohl, daß ihre Tage gezählt seien, und das junge Leben kämpfte schwer dagegen an, ins Entsagen zu gehen. Als sie die Gewißheit hatte, daß wenig oder keine Hoffnung mehr sei, hob sich wunderbar ihr Geist zu völliger Klarheit und Ruhe. »Nun laßt mich nicht mehr schlafen – wir wollen jede Stunde noch beisammen sein. Lest mir die Psalmen! Mutter – weißt Du noch, was Du sagtest am Fremersberg, »man soll doch fragen?« Ja Du mußt mir noch viel sagen, wie's drüben ist. Jetzt weiß ich auch, was der Vers bedeutet, den unser Bruder gestochen hat.« So ging's Tag für Tag, bis sie ohne irgendwelchen Kampf einschlief. Die Mutter hatte ihr einen Myrthenkranz aufs Haupt gelegt, der junge Künstler wurde uns befreundet, und das Bild der jungen, unverlobten Braut hat ihn bis zu seinem Ende begleitet. Nicht weit ruhen die Geschwister von einander, die sich einst so traut umschlungen hielten.

Und Klärchen – nun Veronika hatte recht, sie war zwar nicht ins Kloster gegangen, wohl aber in den Dienst barmherziger Liebe. Nicht als ob es gerade ihr leicht geworden, aus dem trauten Kreise der Familie zu treten, aber es war der sehnliche Wunsch ihres Vaters, der selbst an der Spitze eines Krankenhauses stand, daß eines seiner Kinder, anderen Mädchen zum Beispiel, in die Krankenpflege träte. Sie brachte das Opfer für die andern, das rührende, selbstlose Menschenkind. Zwanzig Jahre stand sie in treuem Dienste, das Band der Liebe mit allen festhaltend, die einst mit ihr unter dem Kreuze gesessen. Nun trug sie es selbst auf der Brust und im Herzen. In ihrem Nachlasse aber fand sich – das Bild des Kreuzes auf Fremersberg.


Und jenes lebensfrohe, übermüthige Kind, die die großen Anforderungen des Glücks an das Leben stellte, wo ist sie geblieben? Veronika! Sie fuhr mit vollen Segeln ins Leben hinaus, in allen Dingen und Menschen das Beste heraussuchend und auch findend. »Du schöpfst überall den Rahm ab,« hatte ihr lachend ihre Mutter gesagt, »und wir können dann die sauere Milch trinken.« »Nun, die ist auch was Gutes, wenn's recht warm ist,« gab sie zur Antwort, und dies geflügelte Wort ging lange in der Familie. Durch ihren sprudelnden Witz und den noch besseren Humor zog sie die Menschen schnell an sich. Daher kam's, daß man ihr, trotz ihrer hohen Sittenstrenge, allerhand Liebesabenteuer nachsagte. Als ihr eine Freundin Vorwürfe machte, weil ein junger Mensch zu nahe ans Feuer gegangen und sich an ihr das Herz verbrannt hatte, während sie doch einen Andern sehr anzog, sagte sie: »Ja, man liebt eben immer anders. Aber, wenn ich ein bischen Interesse für die Menschen habe, glauben sie gleich, sie müßten sich mit mir verloben. Warum können denn nicht Freundschaften zwischen jungen Leuten verschiedenen Geschlechts bestehen? Muß man denn gleich heirathen?« Jene alte Dame, die ihr damals schon ein Wort gesagt, nahm sie bei einem Besuche wieder einmal beim Worte, als sie abermals Aehnliches sagte: »Mein liebes Kind, Du glaubst das, aber glaube mir einmal: es geht nicht. Die Linie ist, zu fein, wo Achtung und Liebe in Leidenschaft übergehen. Junge Leute, wenn sie idealer Natur, legen ihre Ideale in ein Geschöpf und lieben sich eigentlich in ihm – und die Enttäuschung bleibt nicht aus, weder beim Einen noch beim Andern. Du wirst so lange spielen, bis Du Dein Leben verspielt hast. Es wäre Dir viel besser, wenn Du einen braven, tüchtigen Mann nähmest, der Dir ein Führer würde und Dich in fester, aber milder Hand hielte. Dann könnten Deine Gaben sich entfalten und Dir und Andern zum Segen werden. Jetzt fürchte ich, daß sie Dir und Andern nicht zum Segen sind.« Das Mädchen wurde nachdenklich. Nie vergaß sie diese Worte, auch nicht während der langen Jahre, die sie ihrer Gesundheit halber in Frankreich und Italien zubringen mußte, denn ein organisches Herzleiden hatte sie von Jugend an von der Heimath getrieben, da das dortige Klima für ihren Zustand verderblich war. Es ist genug, wenn ich sage, daß ihr Leben eine Kette von frohen Stunden, aber noch mehr von Enttäuschungen war. Wenn sie dachte, ihr Leben werde einen festen Halt gewinnen, dann scheiterte, besonders an ihrem Leiden, im letzten Augenblicke die Hoffnung. So kam sie nach Palanza, dort lernte sie den Begleiter eines kranken, jungen Prinzen kennen, dessen ganze Persönlichkeit sie ungemein anzog. Das gehaltene, aber doch herzliche Wesen, womit er mit dem Prinzen sowohl als der ganzen Gesellschaft umging, der milde Ernst, der aus den Augen sprach – alles machte sie still in seiner Nähe, während Andere durch das geistvolle Gespräch, das er meisterhaft zu führen verstand, angeregt und lebendig wurden. Wer mag das sagen, wie wunderbar dieselbe Persönlichkeit auf verschiedene Menschen wirkt, und was alles dabei mitwirkt! Da der Mentor des Prinzen von Hause aus Theologe war, so baten die Gäste, die keinen Gottesdienst hatten, um eine Predigt. Seit Jahren hatte er nicht mehr gepredigt, es wurde ihm nicht leicht, es nun und gerade vor solch einer Gemeinde zu thun, schließlich willigte er ein. Er predigte in einem kleinen Saale, den man schnell zur Kapelle hergerichtet. Sein Text war: »Alles, was mir mein Vater gegeben, kommt zu mir. Und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.« Er begann seine Predigt mit einer Jugenderinnerung. In der Stiftskirche zu Stuttgart sei eine Silberglocke, die werde Mitternachts geläutet. Laut einer alten Stiftung hätten sich einst junge Herzoginnen verirrt bei der Jagd und seien dann durch eine Glocke wieder zurechtgekommen. Daher sollte das Silberglöcklein in der Mitternacht läuten. Er deutete das Wort geistvoll auf die mancherlei Züge des Vaters zum Sohne hin und schilderte dann dies allen offenstehende Herz, in welchem allein volles Genüge zu finden sei. – Veronika saß unter den Zuhörern. Ihr tauchte ein altes, längst verschwundenes Bild vor der Seele auf: oben unter dem Kreuze – ja wie war doch der Spruch? War's nicht auch so, daß dort ein Verirrter gefunden ward? Sie suchte sich die Worte wieder zusammen. Mehr vielleicht noch, als die Rede, war ihr die Erinnerung alles dessen, was sie seit langer Zeit erlebt und erlitten (daran hatte es nicht gefehlt), durch die Seele gegangen. Sie ging still auf ihr Zimmer, und als zur Table d'hôte gerufen ward, kam sie neben dem Begleiter des Prinzen zu sitzen; sie mußte wohl oder übel mit ihm ein Wort über die Predigt sprechen. »Sie haben mich an ein Erlebniß meiner Jugend erinnert,« sagte sie, »mit dem Anfang Ihrer Predigt« – und erzählte nun jenen Sommernachmittag. »Aber den Vers kann ich nicht mehr zusammenbringen.«

»O, den weiß ich, es ist erst acht Wochen her, daß ich von Baden-Baden aus den Weg nach dem Fremersberg machte. Ich habe den Vers aufgeschrieben, auswendig kann ich ihn ja auch nicht, aber ich werde ihn gleich finden.« Er zog sein Notizbuch heraus und las: »Ob auch die Welt in Trümmer geht etc.« – »Ja, ja, so hieß er, wie merkwürdig, daß Sie es gerade notirt. Wollen Sie mir ihn nicht aufschreiben?«

»Gewiß, da ich auch jetzt Ihnen die Geschichte der Inschrift zu danken habe. Es kommt bei solch einem Verse nicht auf die Poesie, sondern vornehmlich darauf an, daß er für uns eine Bedeutung gewonnen und in unser Leben sich geflochten hat. Wohl dem, der diesen Vers nicht blos lesen, sondern wahrhaft beten kann.« Veronika wurde still. In Trümmer war ihr vieles gegangen, das war nur zu wahr, und im Kampf die Seele manchmal am Brechen gewesen, das war auch wahr; aber das andere? – Ein Jahr war vorüber, und auf einem Gebirgsdorf in S… sitzt still am Winterabend ein Paar im traulichen Pfarrhause. Es ist Veronika mit ihrem Manne. Nicht mit jenem Reisebegleiter des Prinzen, wohl aber mit einem nahen Freunde desselben, der bald darnach ankam, hatte sie sich verlobt. Durch die Predigt war ein wunderbares Band überhaupt um die, bisher sehr lose sich begegnenden Bruchtheile der Gesellschaft in der Pension geschlungen worden; mit einem Male war ein Centrum gegeben. Der Reisebegleiter selbst hatte einst eine Pfarrei, ein junges, sonniges Glück – in einem Jahre war es ihm versunken. Seine Frau starb an einem Fieber, das ins Dorf gekommen, während er selbst fast rettungslos und ohne Bewußtsein krank lag. Er hatte sie nicht mehr gesehen, und nach Wochen erfuhr er erst ihren Heimgang. Das hatte ihn bewogen, zumal er völlig gebrochen war, das Amt zeitweilig aufzugeben und die Stelle bei dem Prinzen anzunehmen. Ihm lag jeder Gedanke fern, sein Haus wieder aufzubauen; darum hatte er den Vers gleich verstanden. Aber sein gleichgesinnter, doch dabei lebensfroher Freund hatte Veronikas Herz gewonnen, und sie war ihm gefolgt. Glückliche Jahre durften sie oben verleben in der stillen weltverlornen Gemeinde. Drei prächtige Kinder saßen am Tische, vornehmlich ein hervorragend schöner und begabter Junge. Als er ins Gymnasium nach der Stadt geschickt wurde, errang er schnell den ersten Platz. Er war die ganze Freude der Eltern und seiner Schule. Während eines Ferienbesuchs bei einem Freunde erkältete er sich im Bade, und in wenig Tagen raffte ihn eine Unterleibsentzündung weg. Diesen Schmerz überlebte Veronika nicht. Ihr Herzleiden, das jahrelang im Glück geschwiegen, erwachte mit neuer Stärke, monatelang litt sie. Es kamen bange Tage mit namenloser Angst, aber sie überstand sie mit einer Seelenstärke und einem Muthe, der allen unfaßlich war. Mit großer Klarheit hatte sie alles geordnet. Ueber ihrem Bette hing der Spruch des Kreuzes, den ihr Mann künstlerisch gemalt; war er doch die Brücke geworden, daraus die Liebe zu ihm herübergewandelt kam, und wie oft deutete sie auf ihn. Nun ruht sie längst neben ihrem Sohn auf der stillen Waldhöhe, und ein Kreuz deckt die beiden Hügel.

Und der kleine fragende Junge mit den schwarzen Augen, die wie ein unergründlicher See waren? Man könnte ein Buch über seine Wanderungen und Wandlungen schreiben. Reich zum Künstler veranlagt, trat er in seinen Knabenjahren aus der Schule und ging in ein Künstleratelier. Er machte reißende Fortschritte, und alle Genossen prophezeiten ihm eine glänzende Laufbahn, als er plötzlich Grabstichel und Nadel weglegte, wieder auf die Schulbank saß und zur Hochschule sich bereitete. In seinem Innersten erfaßt in den Tagen seiner Confirmation, glaubte er dem Drange folgen zu müssen und wurde Theologe. Was er war, war er ganz, aber die dunkeln, schwarzen Augen sahen überall auf den Grund, und wo er ihm nicht stichhaltig schien, kam die Unruhe über ihn, und er brach die Brücke ab, aus Vaterland und Freundschaft gehend um seiner Ueberzeugung willen, um sich wieder in neue Kämpfe zu stürzen. Trotzdem quoll ein reicher Liebesstrom aus seinem Herzen, er trug darin ein selten zartes Verständniß für die ringende Jugend; die künstlerische Ader zog sich durch alle Reden und Schriften als ein Erbtheil seiner Jugend hindurch, in wenigen Menschen war die Wahrheit so mit der Schönheit verbunden. Aus Leidensgluthen ging die geistesmächtige Natur geläutert hervor, mild und barmherzig geworden. Seine ganze Theologie, Dogmatik und Ethik concentrirte sich schließlich in Einem – und das Eine war nichts Anderes als jener Spruch unter dem Kreuze. › Christus solus, sola gratia, sola fide‹ – Christus allein, aus Gnaden allein, durch den Glauben allein – waren die letzten Worte, die er schrieb. »Mein Herr und Jesu Christ, dich laß ich nicht!« – das wollten die stummen, hocherhobenen Hände, die er dem Tode entgegenstreckte, laut und beredt sagen.

Und jener junge Mann, der so gern ins Kloster gegangen wäre, ich will nicht viel von ihm sagen, nur daß er ein scheinend und brennend Licht war, das sich in sich selbst verzehrte. In seiner Kunst war er zum Meister geworden und, wie es Wenigen gegeben ist, fand er gerade, seinem Gemüth entsprechend, den elegischen, sehnsuchtsvollen Zug in der Natur heraus, jener Sehnsucht, von welcher Geibel singt:

In Stein und Flur
Der Kern ist aller Kreatur,
Die aus dem Wald mit tausend grünen Armen greift,
Im irren Ton als Echo schweift
Und aus der Blumen Auge mild
Dich anschaut mit der stummen Seele.

Es erblühte ihm ein stilles Glück an der Seite seines jungen Weibes. Da eilte sein Gott mit ihm nach Hause. Während einer Studienreise in Tyrol, von einem Gewitter überrascht, an einem überaus heißen Tage, flüchtete er sich in einen Tunnel, der mit Eiseskälte den Erhitzten umfaßte. Ein rheumatisches Fieber warf sich auf das Herz, in wenig Wochen war die Scheidestunde da. Die Fenster seines Krankenzimmers schauten gerade hinüber nach dem Fremersberg. Von seinem Weibe und seinem Kinde nahm der blühende Mann, der noch nicht die Dreißig erreicht hatte, Abschied. Zu seinem Gott aber sprach er als letztes Wort: »Vater, in deine Hände befehle ich mein Herz.« Und dies Herz, das man vor der Thüre klopfen hörte, hatte ausgeschlagen.

Der träumende Knabe aber, der am Fuß des Kreuzes eingeschlafen war, er ist es, vor dessen Seele die Bilder aller derer stehen, die einst unter diesem Kreuze gestanden und im Frieden dieses Kreuzes entschlafen sind.


Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co.
in Altenburg.

 


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