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Aus Bädern.

Aus einem »weltverlornen« Bade.

Salzschlirf, am 4. September 1888.

»Was – nach diesem Bade willst du gehen?« sagte mir ein Freund, als ich ihm von Salzschlirf sprach. »Das ist ja ein ganz weltverlornes Ding!« »Nun – mach' mir nicht graulich, Du bist ja wie Aennchen im Freischütz, die vor der Wolfsschlucht bebend singt: Wie! was! an jenen Schreckensort!« entgegnete ich ihm. »Hier ist der Prospectus! Lies einmal, gegen was alles dies Bad gut ist: Gicht, Gallenstein, Gelbsucht, Fettsucht, Rachitis, Gelenkrheumatismus, Neurasthenie, Rachenschleimhautkatarrh und sonstige Bresten – mein Liebchen! was willst Du noch mehr? Dazu Moorbäder, kohlensaure Bäder! In dem Wasser: Chlornatrium in Menge, Chlorlithium mehr als in irgend einer Quelle in Europa – kohlensaures Natron, Eisenoxydul, Jodmagnesium und 87 2,9 ccm freie Kohlensäure – und das alles soll nicht helfen? Es blüht so manches Veilchen im Thal, das unbeachtet, weltverloren duftet! Die großen Bäder sind wie die grand vins: sie verderben noch mehr als sie helfen. Ja, die vielen Menschen dort verpesten noch das bißchen Luft, das man athmet. Früher erholte man sich an den Menschen, und heutzutage von den Menschen. Darum auf nach dem weltverlorenen Salzschlirf!« Der Eilzug brachte uns schnell nach Fulda. Ich kannte die alten Thürme noch, die schwarze Kuppel, die sich über dem Grabe des Apostels der Deutschen wölbt. War ich doch noch mit den verflossenen Thurn- und Taxisschen Postwagen von Frankfurt über Fulda, Vacha, Schmalkalden nach Leipzig gefahren und hatte damals Zeit, mich in Fulda umzusehen. – Eine halbe Stunde später, und wir waren jetzt auf der Fulda-Gießener Bahn in Station Salzschlirf. Die Bahn stieg aufwärts, ganz »kurprogrammäßig«: 250 Meter über Meeresfläche. Welche Höhe der Weltanschauung! Gibt's einen hübschen Bahnhof, so ist es der von Salzschlirf. Der Wald zieht sich nah heran von der einen Seite, von der andern sieht man in ein grünes, tiefes Thal. Der Stationschef, eine prächtige Kattengestalt, mit braunem Haar und Bart, ist ein wahrer Gartenkünstler. Die prächtigsten Blumen zieren den Bahnhof; ein mächtiger Myrthen- und drüben ein Granatenbaum, also Liebe und Ehre, stehen am Eingange zu einem lauschigen Vorplatz vor dem Wartesaal II. Klasse, und Lachtauben nisten in dichten, reblaubumhangenen Käfigen, sicher vor dem Weih und Geier, die, aus dem Buchenwald kommend, sich in den Lüften wiegen. Hinter dem Bahnhofe, mit einem köstlichen Blicke ins Thal, ladet eine Mooshütte Dich ein, deren Buzenscheiben dem heutigen »Bedürfniß« Rechnung tragen. Wenn nun der prosaische Bahnhof, diese moderne »Angststätte« schon so poetisch geschmückt den Badegast begrüßt – wie wird erst das Andere sein! Und so war es auch. Der Kurhauswagen, ein ganz breiter, solider Kunde, brachte die mittlerweile zu uns Gestoßenen hinab ins Thal zum Kurhause. Es ist ein großes, dreistöckiges Haus mit hübscher Veranda, die zu einem geschmackvoll angelegten Parke führt. Eine sinnige Hand muß es gewesen sein, die die Mischung der Bäume besorgte. Scheint Abends der Mond durch die leise zitternden Rüstern, Silberpappeln und Blutbuchen, ist's wirklich zauberisch. Erinnerte Einen nur nicht der hohe Schlot des Dampfhauses an die gemeine Wirklichkeit! Aber Dampf, wo weilst Du heute nicht! Gegenüber von dem Kurhaus steht das Badehaus, tiefer im Parke selbst der Bonifaciusbrunnen, zu dem eine Allee alter, hoher Bäume führt. Unmittelbar am Wege fließt die Schlitz, deren Bosheit und krummen Winkelzüge in diesen Tagen durch eine Flußregulirung korrigirt wurden.

Wir traten dann ein in den Speisesaal, wo wir gerade noch recht zum Abendessen kamen, setzten uns an ein isolirtes Tischchen, gedenkend, daß wir hier ja weltverloren und ungekannt seien. Aber wie kann der beste und aufgeklärteste Mensch sich täuschen! Nicht fünf Minuten saß ich da, als sich langsam ein Badegast in Gestalt eines kurhessischen Metropolitans und Superintendenten auf mich zuwälzte, mit der Frage, ob er nicht die Ehre habe, den bewußten »Verfasser« zu sprechen. Also »entdeckt«, sagte ich, wie jener Amerikaner, als »Monsieur Columbus« ihm nahte, und ergab mich in mein Schicksal. Es saß nämlich in der großen Gesellschaft unglücklicher Weise eine Leserin des Daheimkalenders vom Jahre 1888, worin mein Bildniß abgeklatscht war (zum Nichtkennen ähnlich, wie ich meinte) – aber sie hatte mich danach erkannt, was mich für den besagten Kalender doch freute. Der hochwürdige Amtsbruder sah für die acht Tage, die er erst da war, schon sehr »entgelbt« aus, so daß ich doch die Wirkung irgend eines der Oxydule an ihm mit Freuden entdeckte. Am folgenden Tage ging's zu der Trinkkur Morgens um 6 Uhr, zu dem zwar nicht gerade süßen, aber nicht allzu bitteren, kühlen Wasser mit etwa 20-30 gleich ausgeschlafenen Menschenherzen. Dann kommt das berühmte Frühstück, wie allerwärts, als erste Belohnung für die Bitterkeiten des Frühaufstehens und des Brunnens, dann das kohlensaure Bad, Ruhe in sehr vortrefflichem Sprungfederbett; dann wieder Trunk des Bonifacius und um 12 Uhr ein Mittagessen, reich genug, jeden Hunger zu stillen, vortrefflich und »unter Oberaufsicht des Kurarztes« gekocht, und das alles für 1 Mark 25 Pf. – Dann wieder Wassertrinken um 5 Uhr, und Abendessen um 7-8 Uhr. Um 9 Uhr senkt sich tiefe Stille über Thal und Kurhaus, und der brave Kurgast schläft und träumt von Salzwasser und Kohlensäure. Das ist unser Tag. Aber dieser Tag geht hin in köstlicher Luft. Im Kessel liegt wohl Salzschlirf; aber nicht etwa eingeschlossen, dumpf und feucht, nein – luftreich und doch geschützt durch die Ausläufer des Vogelsberges, mit dem schönen Wald auf der einen Seite, den Ausläufern der Rhön auf der andern; mitten drin sattgrüne Wiese, die die muntere Schlitz mit ihren Nebenbächlein durchzieht. »Nirgends hat sich,« so meldet ein Bericht, »hier eine luftverderbende Großindustrie festgesetzt.« Ja, wo sollte sie auch hin! »Dafür aber,« so meldet der klassische Bericht weiter, »findet der Kurgast rasch, je nach Wunsch – Anschluß an angemessene Gesellschaft. Nie kann sich in Salzschlirf jene gedrückte Stimmung festsetzen, wie in andern Bädern – nein – die anämische blutleere Dame gedeiht sehr gut neben der auf Gewichtsverlust (welcher Euphemismus!) arbeitenden, stets munteren Truppe der Wohlbeleibten! Die große Mehrzahl der Kurgäste gehört den gebildeten Ständen an und hat guten Fonds zu angenehmer Unterhaltung in sich selbst (!) und sucht rauschende Vergnügungen und Pomp im Interesse der Sammlung des Gemüths zu vermeiden.« Ja, hier rauscht kein seidenes Kleid, sondern nur die Wipfel der Bäume und das stille Wasser der Schlitz. Die einzige Aufregung verursacht das »Kurorchester«, das mit der Musik keinen allzu großen Mißbrauch treibt und nur Donnerstags, sechs Mann hoch, aus dem benachbarten Lauterbach kommend, sich hier produzirt. Bei der Musik sammelt sich, was sonst sein müdes Haupt anderwärts als im Kurhaus niedergelegt hat. Denn das Kurhaus ist kein Abgrund, in den Jeder erbarmungslos gestürzt wird. Noch einige gute Logirhäuser und Gasthöfe sind da, und drüben über der Schlitz im Dorfe sind gute Zimmer zu haben. Vom Dorfe ist man im Kurhause völlig getrennt, und man sieht es nur vor sich liegen, den Berg hinauf gebaut mit seiner hübschen Kirche. Aber da nach »alter Väter Weise« noch der ganze »Nibelungenhort der Landwirthschaft« frei, offen, duftig durch die Straßen fließt, so ist es kein Schade, daß das Dorf lieber vis-à-vis als »nah debi« ist. »Langeweile hat noch nie ihren Einzug in Salzschlirf gehalten,« sagt der obige Bericht, sie, »das Geheimniß der vornehmen Welt«, ist hier also unbekannt. Welch ein Glück! Und es ist nicht zu viel gesagt. An seiner Langeweile ist der Mensch ja nur selber schuld. Aber wenn sie je ihren Einzug hielte mit Pauken und Trompeten – am Bonifaciusbrunnen und bei der sommersprossigen Wassernixe daselbst wird sie verenden! Denn das Wasser ist ja wirksam gegen »hypochondrische Verrücktheit«, und macht im Gegentheil durch die »Menge freier Kohlensäure« den Menschen, auch den an »geringem Hydrocephalus« leidenden frisch und fröhlich und gesellig. Das haben wir hier erlebt. Ist hier ein armer Junge aus der Rhön, das einzige Kind seiner Eltern, etwa siebzehn Jahr alt, gelähmt und schwach, den sein Vater ins Bad trägt, wie er ihn übers Gebirge getragen. Da wird von einer edlen Frau der Gedanke angeregt, ein »Wohlthätigkeitskonzert« zu veranstalten. »Das Geld ist da, es ist nur noch nicht hier,« sagte einst mein origineller Freund. »Die Kunst besteht nur darin, das Geld was da ist, hierher zu bringen.« Also schnell das Programm entworfen, der Eßsaal durch einen »konschtverständigen« schwäbischen Baumeister zu einem Konzertsaal umgewandelt, mit Podium und Fahnen in Landesfarben, mit Kaiser und Kronprinz. Das Piano wird im Schweiß des Angesichts hinaufgezwängt, der Prolog kündigt Zweck des Ganzen an. Dann vierhändiges Spiel zweier Damen, russisches Volkslied einer Deutschrussin – statt der plötzlich »abgesagten« Primadonna ein Duett, Gesang Löwescher Balladen durch einen noch nicht völlig verärgerten Amtsrichter; Violoncellspiel eines veritablen Deutschengländers von etwa fünfzehn Jahren, der als »Knabe ein Röslein« mit Variationen stehen sah, nebst einigen dornigen Passagen; Vortrag eines gemüthvollen Gedichts an die holde Muse der Tonkunst – und zum Schluß Vortrag des Verfassers über die »Wonne des Gebens« – das wurde geboten. Vor dem Saale lauerten an einem Tischchen zwei Cerberusse in Gestalt eines Frankfurters und eines Cölners, die gegen eine Mark Entree mit bedeutsamem Hinweis auf »Mehr« den Eintritt gestatteten. Der Ertrag war schließlich über 300 Mark. Die Kurkosten wurden bezahlt und das verkaufte Kalb des armen Bauern wieder ersetzt. Jeder fühlte sich gehoben und im Herz- und Geldbeutel erleichtert, und empfand, daß er selbst ein Bonifacius – d. h. ein Wohlthäter sein könnte, und schlief des Abends doppelt sanft nach seinem Bonifaciusbrunnen auf dem Federkissen eines »edlen Bewußtseins« ein. That der Brunnen nicht Wunder? Wo findet man in Karlsbad, Baden, Teplitz, Marienbad, Nauheim, Aachen eine ähnliche wohlthätige, schwefelsaure Gesellschaft?

Aber wir sind dazu in berühmter, altchristlicher Gegend. Hat doch Pipin der Kurze, alten Angedenkens, an das Kloster Fulda auch » Salzschlirf« geschenkt, und schon 885 läutete dort ein Glöcklein zur Kirche. Die gefürsteten Aebte zu Fulda bezogen aus den Salinen dieses »weltverlornen« Ortes ihr Salz, und konnte der Abt 1779 rescribiren: »Der gute Betrieb unserer Saline gereicht uns zum gnädigsten (!) Wohlgefallen.« Aber dann kam freilich das XIX. Jahrhundert und fegte Bischof und Saline, Domkapitel und Fürstprimas, alles von der Erde weg. Der Brunnen wurde unter kurhessischer Regierung vollends zugeworfen. Aber wie alles eine Zeitlang zugeschmissen werden kann und sich dann wieder ans Licht drängt, so auch der Bonifaciusbrunnen. In großer Mächtigkeit quillt er jetzt wieder in der Tiefe, liefert brav in 24 Stunden eine halbe Million Liter Wasser, und was er nicht leistet, das besorgt der Kinderbrunnen, der Tempelbrunnen – und bei wem es gar nicht durchgreifen will, dem hilft das » hessische Bitterwasser« im nahen Großlüder mit Sicherheit auf die Beine. Kurzum – es ist Friede hier unter den 500-600 Menschen, die seit 15. Mai bis jetzt hier weilten, alle »stillbeglückt ihrer Freuden wartend«. Da ist kein Drängeln zum Brunnen wie in Karlsbad; kein orangegelber oder grasgrüner Ritter von Gallenstein, oder Freiherr von Nierenstein, aber still gesundende Menschen, denen kein anderes Bad geholfen, Lahme, die wieder gehen lernten, und Menschen, die ihres Lebens wieder froh wurden. Ein intelligenter Arzt – (kein empedokleïscher Priester der Balneologie mit orakelndem Dunkel) – giebt Dir Rath, ohne Dich zu »bemuttern«. Die Apotheke fehlt freilich, aber desto gesünder befinden sich die Leute, und was noth thut, führt der Arzt selbst. Post und Telegraph fungiren nach allen Erdtheilen; das Wasser geht in viel tausend Flaschen jährlich zu allen Schichten der Gesellschaft. – Aber ringsum ladet Dich der Wald und manche alte wohlerhaltene Burg, manch kleines, in sich befriedigtes Städtlein zum Ausflug ein. Eine Stunde von hier wohnen die Grafen von Görz zu Schlitz – (der Majoratsherr, der ehemalige feinsinnige Direktor der Kunstschule zu Weimar). Drüben in Eisenbach sitzen im herrlichsten Tann, in altem feuerfesten Schlosse die Freiherren von Riedesel. Wie heimlich und traulich das Schloß mit den alten Schießscharten und hohem Thurme und welch entzückender Blick hinab in den herrlichen Park! Eine Karosse, die einst »Sr. fürstbischöflichen Gnaden« gedient, bringt Dich hinüber in kurzer Zeit. In wenig Minuten erreichst Du aber auch vom Bade den Waldrand, und der Weg führt Dich durch den duftenden Wald erquickend stundenweit. Also lebt sich's im weltverlornen Bade. – Ich kam hierher, berlinmüde und voll Schmerzen. Vierzehn Tage sind nun vorüber – ob mich das »weltverlorne Bad« von »Hypochondrie« und »Wasserkopf«, von »Rachenschleimhautentzündung« und »Gehirnschwund« geheilt, mag dieser Brief zeigen!

Aus Wildungen.

Diesmal nicht aus dem »weltverlornen« Salzschlirf, sondern aus einem stadtkundigen »Geschwisterkinde« desselben, sende ich Gruß und Handschlag. Von Salzschlirf habe ich aber gute Mär zu melden. Der arme Peter, von welchem ich erzählte, den sein Vater auf dem Rücken über die Rhön schleppte, ist diesmal auf zwei Stöcken zu Fuß herübergewandert. Unser damaliges Wohlthätigkeitskonzert hat ihm die diesjährige Kur auch noch ermöglicht. Einen Stock hat er jetzt schon weggeworfen – und vielleicht folgt der zweite nach, »'s ischt halt e Bädle,« pflegte meine schwäbische Wirthin von der wundersamen Quelle zu Liebenzell zu sagen – und ich sag' es auch von Salzschlirf: »'s ischt halt e Bädle« und thut im Stillen Wunder. – Die Sommerhitze in Berlin war nachgerade bedenklich geworden. Den Büblein in der Schule, denen im strengen Winter der Verstand eingefroren, trocknete der übrige Rest dieses werthvollen Materials in der Sommerhitze noch ein, und auch anderen, längst aus der Schule Entlassenen, ward's nicht minder drückend. Da blieb denn nichts übrig, als zu entfliehen; freilich zunächst als homöopathisches Mittel in die ebenso heiße Eisenbahn. So ein durchwärmtes Coupé ist zur Winterszeit immer behaglich, aber zu Eiskühlern im Sommer hat sich der Eisenbahnminister noch nicht aufgeschwungen trotz seiner sonstigen Fürsorge. Als ich die drohende Menge von Menschen sah, die merkwürdiger Weise gerade so klug waren wie ich, am schlesischen Bahnhofe einzusteigen, um den guten Eckplatz für die Nachtruhe zu erobern, nahm ich schnell als »Mensch erster Klasse« das entsprechende Billet und fuhr ab, glücklich allein im engen Raum! Aber am Alexander-Bahnhof stieg das Unglück in Gestalt eines Passagiers (nach rührendem Abschiede »allerseits«) ein. Wir passirten glücklich die Scylla des Friedrichstraßenbahnhofs und die Charybdis Potsdams – und nun waren wir ziemlich »sicher bis Magdeburg« und darüber hinaus. Mein Mitinhaber begann gleich hinter Potsdam mit seiner Nachttoilette, die er in einem ziemlich großen seidenen Bündel mit sich führte. Er that ganz wie zu Hause: die Stiefel aus, die Schlappen an, die Beinkleider aus, die Weste, den Rock – ich dachte: was kommt nun noch? Dann hüllte er sich in den kaftanartigen Burnus, der seine etwas massigen Glieder mollig umwogte, zog eine Art seidener Kapuze um den Kopf, und der Anzug war fertig. Er beschaute sich beim letzten Sonnenstrahl im Spiegel, und dann versank er von Potsdam an bis hinter Kassel in unsäglichen Schlummer. »Der Bildungsgrad eines Menschen wird am besten im Eisenbahnwagen erkannt,« hat jüngst Jemand glücklich herausgebracht, und Riehl, der Kenner von Land und Leuten, hat in seinen Lebensräthseln herausgerechnet, »daß unter hundert Menschen, die erster und zweiter Klasse fahren, kaum fünf gut erzogen sind«. – »Das ist minimal,« pflegte mein Freund zu sagen, wenn ihn etwas an der Menschheit ärgerte. – Das Schlimmste war aber, daß dieser im Ehestande befindliche »Zeitgenosse« – denn das ist doch immerhin Jeder, wenn er auch sonst nichts ist – sich von seiner Eheliebsten das Schnarchen nicht hatte abgewöhnen lassen. Er hätte Vorstellungen darin geben können; denn es ging vom höchsten Sopran und lächelnden und fächelnden Säuseln bis hinab in des Basses Grundgewalt und ward oft zum behaglichen Grunzen. An Schlaf war somit für mich nicht zu denken, den leider jedes Uhrticken weckt. So galt es denn, sich des gesunden Schlafes seines Nebenmenschen neidlos zu erfreuen. Es war eine »Nachtübung« in der Geduld für den Soldatenpfarrer. Als der Morgen graute, waren wir in Kassel, allwo es Kaffee gab – welche Erquickung! Er hätte noch verschlafener und aufgewärmter sein können, als er war, er hätte doch geschmeckt. Und nun nach dem Kaffee und der etwas antiken Tunke von Milchbrod, im frischen Morgengrauen die Cigarre! Das war doch Ersatz für die Schlaflosigkeit. Als der Schlaf- und Zeitgenosse jedoch den Dampf roch – ward er geweckt und murmelte: »Erster Klasse nur unter Zustimmung aller Mitreisenden das Rauchen gestattet.« Er hatte Recht, ich sagte ihm aber ernsthaftiglich: »Wissen Sie aber auch, daß eine neuere Bestimmung das Schnarchenin erster Klasse nur unter Zustimmung aller Mitreisenden erlaubt? Sie haben nun sieben Stunden in einem weg, ohne mich zu fragen, geschnarcht – gestatten Sie mir eine Viertelstunde zu rauchen.« Er grunzte etwas, aber verfiel gleich wieder aus dem Reden ins Schnarchen. Endlich kam Wabern – die Station für Wildungen, wohin ich wollte. Ich wünschte dem Manne noch weiteren Schlaf über Marburg und Gießen hinaus bis zum schönen, neuen Frankfurter Bahnhof; und er beschnarchte den guten Wunsch, und ich ging ab.

Es war noch sehr früh; frischer Morgenthau lag auf den von der Hitze völlig verdorrten Feldern, keine Wolke am Himmel, es gab wieder einen heißen Tag. Die biedere Klingelbahn klingelte und schlang sich durch die Wälder, durch die Felder, »ich war allein auf weiter Flur«. Es hat etwas Eigenes, so allein im Morgengrauen im Eisenbahncoupé vorüberzusausen an stillen Dörfern und Städten, alles liegt noch ahnungsgrauend im Dämmerlicht; was wird der Tag bringen oder nehmen? Hier noch tiefer Schlummer, dort steigt schon der Rauch aus dem Schornstein, und eine verschlafene Magd zündet gähnend und sich reckend das Feuer an zum Kaffeekochen. Das thut sie alle Tage, und ihr Leben geht nach des »Dienstes gleichgestellter Uhr«, nur qualitativ verschieden vom Leben Bismarcks und Moltkes. So war's schon vor Jahrtausenden, und der 104. Psalm (dem Alexander von Humboldt den Preis aller Naturschilderungen zuerkennt) sagt von Nacht und Tag: »Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon – (die Löwen und das Ungethier, das im Finstern sich regte) und legen sich in ihre Löcher. So gehet denn der Mensch aus an seine Arbeit und an sein Ackerwerk bis an den Abend,« und so wird es sein bis an das Ende der Tage!

Endlich nach sechs Klingelstationen »Wildungen«. Ich dachte: nun kommt das Ende der langen Fahrt – aber wie kann ein sonst mit leidlicher Intelligenz behafteter Mensch sich wieder täuschen!

Nun ging's erst aufwärts, eine Chaussee entlang. zum hochgelegenen Städtchen, dessen Pflaster sich einer tiefen Versunkenheit zu erfreuen hat. Ich begriff nicht in meinem beschränkten Unterthanenverstande, warum man die Bahn nicht noch ein Ende weiter hinaufgeführt hat. »Hindernisse, wenn welche da wären, sind doch schließlich dazu da, um überwunden zu werden,« sagte mein alter Pioniermajor. Aber dieser letzte Rest Weges muß einem armen Leidenden, der ohnehin schon mit letzter Kraft ankommt, noch »den Rest« geben, und dazu dem größten Kontingente der Badegäste, den Nierenleidenden. So mußten einst viele Jahre hindurch zu einem andern berühmten Weltbade eine Stunde weit her die Reisenden von der Station abgeholt werden, alles von wegen des Posthalters, der seine Wagen doch nicht umsonst halten konnte. Erst nach vielen Jahren kam es zur Zweigbahn, die absolut keine Schwierigkeiten bot, sondern jetzt sachte wie Olivenöl durch die Fluren hinwandelt. Aber der kleine Posthalter hielt doch Jahre hindurch, wenn auch nicht die Weltgeschichte, so doch Abertausende von Menschen zum Nutzen seines Säckels auf. Wer weiß, an welch kleinem Rade in der Maschine eines Ministeriums eine Sache oft jahrelang sich zerarbeitet! Auch Wildungen mit seinen alten, buckeligen Straßen lag glücklich hinter uns, und wir mündeten endlich in die schöne, alte Baumallee. Hohe, ehrwürdige Bäume sagen, daß hier keine Augenblickspflanzung eines Luftkurorts, die wie die Pilze aus der Erde hervorschießen, uns umfängt, sondern daß Generationen unter dem Schatten dieser Bäume schon gewandelt und – geseufzt haben. Zur Rechten und Linken villenähnliche Hotels und Logirhäuser mit blühenden Gärten; alles athmet Behagen und verhüllt das Elend, das hierher geschleppt wird. Endlich winkt die »Pension Göcke« mit Kurhausanhang, ein stattliches Haus, mitten im Garten gelegen, jedes Zimmer mit einem Balkon versehen und unten große Veranden. Kaum erinnere ich mich eines Hotels, das so vortrefflich dirigirt ist. Alles geht still und flugs seinen Gang, man weiß: es sind leidende Menschen hier, denen außer anderen Bresten auch die edle Geduld fehlt; Menschen, die nicht »Herren von Wartenberg«, sondern alle »von Eilenburg« sind, um mit dem alten Valerius Herberger zu reden. Da ist denn alles vermieden, was den kranken »gebildeten« Menschen reizt, Teller- und Besteckgerassel, überlaut plaudernde Kellner, und was dergleichen Reizmittel mehr sind.

Zur Victorquelle ist's auch noch ein Endchen zu gehen; aber der Weg führt durch prächtige Parkanlagen hinab in einen kühlen Wald- und Wiesengrund. Dort entfaltet sich erst die ganze Pracht alter Bäume, die in einer Allee zum Brunnen führen. Aber vom Wiesengrunde aus wird der Blick begrenzt durch das hochgelegene Schloß, das aus Waldesgrün mit seinen Zinnen schaut. Es ist so wohlthuend fürs Auge, sich nicht in endlose Ferne verlieren zu müssen, sondern den festen Ziel- und Schlußpunkt zu haben – und was dem Auge gilt, gilt auch unserm Denken und Handeln. Beschränkung ist noch keine Beschränktheit. Die Quelle ist in einem zopfigen Tempel gefaßt – wie man etwa im vorigen Jahrhunderte der »Freundschaft« und der »Genügsamkeit« ihn weihte. Da ist keine prächtige » halle à boire« wie in Baden-Baden, keine massive Brunnenkolonnade wie in Karlsbad, die als günstigster Rheumatismusfang auch den Gesunden noch »liefert« – schmuck- und anspruchslos ist die Perle gefaßt. Es ist ein Männlein und ein Fräulein, die hier ihre Schätze aufthun. Victor und Helene, der erste stark und kräftig, die zweite sanfteren Gemüths – so wie es in rechter Ehe sein soll. Aber die sanfte Helene ist auf Flaschen gezogen, wie so manches Fräulein der Neuzeit mit etwas »Etikette« versehen. Denn sie logirt etwa drei Viertelstunden von ihrem Victor und führt ihren Haushalt für sich. Die verehrliche »Actiengesellschaft« hat sich noch nicht zu einer Pferdebahn aufgeschwungen, die die Trinkenden in kurzer Zeit schmerzlos dorthin führte; nur ein Omnibus fährt dorthin. Wer aber solch Möbel von ferne kennt, der spricht mit Grethchen: »Heinrich, mir graut vor Dir«. Da muß denn die kohlensaure Helene noch etwas sanfter bei Victor ankommen, um dort getrunken zu werden.

Nun die Menschen! Sie setzen sich aus allen Ständen zusammen, von der Excellenz bis zum Gemeinen, der in seiner Uniform, ohne Säbel, aber am selbstgeschnitzten Stocke sich schleppt; vom Geheimrath, dem wirklichen oder sogenannten, bis zum Supernumerar, aus Männern und Frauen und Kindern. Es sind keine quitten-, orange- und olivenfarbenen darunter wie in Karlsbad, keine Menschen mit doppelter oder dreifacher Nase und kolossaler Leibesfülle – meist sind sie blaß und hager. Aber auf manchem Antlitz steht eine ganze, jahrelange Leidensgeschichte:

Angst, davon die Augen sprechen,
Noth, davon die Herzen brechen.

Jeder räth still an dem Andern, was ihn wohl hergetrieben, denn just zur Freude kommt man nicht hierher. Und die Menschen – sonst so schweigsam, sie verhehlen ihr Leiden nicht; mit peinlicher Genauigkeit erzählen sie vom »Leib der Demüthigung«, wie Sanct Paulus sagt, oft unbekannten Menschen. Aber der Generalnenner »Leiden« – und der andere – die »Heilquelle«, bindet diese bunten Mosaikstücke und Bruchtheile der Menschheit zusammen. Da ließe sich mit Gotthold Scriver gleich eine »zufällige Andacht« zusammenschmieden. Wären doch sonst die Menschen so offen, was ihre Fehler betrifft, so eins in der Hoffnung auf Genesung durch die eine Lebensquelle, die nicht nach Stand, Reichthum und Bildung fragt, sondern »universal« heilkräftig wirkt!

Am Ende der Allee ist auch ein »Badehaus« mit sechsundzwanzig ganzen Bädern für etwa fünfhundert Menschen! Da ist leicht hinein zu dividiren, wie viele auf einen kommen, und es geht Manchem wie dem armen Kranken am Teiche Bethesda, da immer ein »Anderer« zuvor hineinstieg. Bis Abends 6 Uhr wird in dem an Kohlensäure reichen Wasser gebadet, und wir gratuliren dem letzten Badenden zur »geruhsamen« Nacht, wenn er sie richtig fertig bringt. Für die Männlein geht's noch, aber die armen Fräulein! »Dreimal muß ich mich umkleiden alle Tage, und keine Kammerjungfer!« seufzte die eine. Ob nicht »Gewässer« genug vorhanden für mehr Bäder? Nun, das ist das Geheimniß der »Brunnenverwaltung«, dessen Schleier zu lüften wir nicht berechtigt sind. 's ist nur ein bißchen »wunderbar« und nicht zu verwundern, wenn mancher Badearzt des Nachts herausgetrommelt wird, dem wahrhaftig bei so vielen Leidenden ein wenig Nachtruhe zu gönnen wäre. Die Aerzte sollen dort sehr geschickt sein, aber wenn ich an all ihre Marterwerkzeuge denke, dann überkommt mich dasselbe Gefühl wie beim Omnibus. Ich war froh, keinen Arzt belästigen zu dürfen, sondern als Subject unter diesen Objecten Wildungens wandeln zu dürfen. Und wahrlich, es könnte Einen locken, auch ohne Leiden in diese Wald- und Bergluft zu gehen, unter das Dunkel dieser schattigen Bäume. So viel auch Menschen hier – im Nu ist man ihnen entrückt im nahen dichten Waldesgrün. Es gehört ja zum heutigen Reisestil, die Menschen zu fliehen, statt sie aufzusuchen.

Für Wohlthätigkeitskonzerte wie in Salzschlirf gab's hier keine Gelegenheit, kein armer Peter und auch keine Sänger und Dichter waren da. Die Musik besorgt eine ganz anständige Kurkapelle, die sich bis zur »Walküre« aufgeschwungen, aber auch die »Adelaide« ganz hübsch spielt. In dem Anbau der Pension ist der Kursalon, der noch ein kurzes Dasein fristet, um später einem großen Kurhause, das im Bau begriffen, zu weichen. Dort ist auch »Theater«, und zum Vergnügen leidender und schlafloser Badegäste sammeln sich die Schönen der Umgegend, um »Ball« zu halten. Auch ein Zauberkünstler und Seelenleser fand sich ein. Dem man entflieht in den Städten, man findet's in mäßiger Auflage allenthalben wieder. So verfolgt den gebildeten Menschen die »Bildung« als Furie auf Schritt und Tritt. Wir machten uns dagegen auf, um in der Familie des liebenswürdigen »Kadis von Wildungen« und seiner jungen Frau das Schauspiel eines beglückten, jungen Paares zu sehen und den Tönen zu lauschen, die der rechtskundige Gatte perlend den Saiten seiner Violine entlockte. Es war ein Stück Heimath und Haus in der Fremde.

Wem leidende Menschen kein Abscheu, dem werden sie ungesucht zum Stoffe für einen Dankpsalm dem Erhalter des Lebens zu Ehren, der uns bislang vor schweren Leiden bewahrt und freundlich geführt. Den Leidenden selbst aber, an denen Wildungen Wunder gethan, gilt die schöne Inschrift, die der alte Hufeland in den kleinen Quellentempel geschrieben: »Dank sei dem gütigen Schöpfer, der den Menschen zum Trost diese Heilquelle geschenkt!«


Aus luftiger Schwarzwaldhöhle.

Luftkurort Hundseck, 1. August 1889.

Erschrecken Sie nicht über den ungeheuerlichen Namen des Ortes, von welchem aus ich Ihnen schreibe. Er könnte an ein Wirthshaus im Spessart gemahnen, allwo Einem unversehens der Garaus gemacht wird, wenn man sich nicht etwa zusammensetzte und à la Hauff des Nachts Geistergeschichten erzählte. Aber nichts von alledem ist auf Hundseck zu befürchten. Freilich, vor nahezu fünfzig Jahren stand fast auf derselben Stelle ein langes, strohgedecktes, verräuchertes Haus. So eine ächte Schwarzwälderhütte, wie sie die ehrsame Polizei der heutigen Tage und die Feuerversicherungsgesellschaften zum Wohle der Menschheit und ihrer Kassen verbieten. Als Jungen zogen wir damals selbacht hinauf, um die Hornisgrinde zu besteigen. In dunkler Nacht trafen wir in dem Wirthshause ein, in welchem in der rußigen Stube ein hellrother Kienspan brannte, um ihn her schwarze Gesellen und an den Wänden blitzende Aexte. In der Nacht überfiel die eine Quartetthälfte ein Schauer, sie kamen im Nachtkostüm mit ihren Betten herübergewandert und erzählten uns Schauermären von Bohren und Sägen an der Wand, von leisen Menschenstimmen und Pfeifen und Pusten. »Die bringen uns um,« unkte der Eine, ein zartes Bürschlein, das eine Tante in Baden hatte und sehnsüchtig weinend in die Worte ausbrach: »Wann i nur bei meiner Tante in Bade wär'.« – Wir rückten Waschtisch und Schränke gegen die Thüre, der Eine lud sein rostiges Terzerol, und wir warteten schaurig der Zukunft. Aber es kam nichts – stille schlich es den langen Gang hinab, und wir hörten nichts mehr. Morgens wollte sich die wohlbeleibte Wirthin schütteln vor Lachen über unsere Angst und Nothwehr und erklärte uns den Spuk der Nacht. »Ja, meine Herren, das sind ja die Kohlenbrenner und Holzhauer aus'm Wald, die schnarchen so und pfeifen, als ob sie Tannen sägten, und als ob der Schwabenwind über die rauhe Münzach käm' – da macht m'r sich nichts draus.« Wir zogen denn etwas beschämt von dannen.

Nun ist die Hütte abgebrannt, ein grauer, bemooster Felsstein bezeichnet noch die alte Stätte; wenig Schritte davon erhebt sich das neue stattliche Haus mit der vielbesagenden Inschrift: » Luftkurort Hundseck. 3000 Fuß über dem Meere. Stützpunkt für viele prächtige Touren. Hotel. Pension. Restauration. Nähere Auskunft mit Hülfe genauester Karten ertheilt gern der BesitzerHammer.« – »Mein Liebchen, was willst du noch mehr?« könnte man wohl singen. Aber man kann noch Besseres sagen, als das glänzende Schild meldet. Denken Sie sich ein ziemlich großes Haus mit etwa 40 Zimmern, mit gelben Holzziegeln von außen bekleidet, drinnen reiche Wasserleitung, Telephonverbindung mit der »ganzen Welt«, ein großer, luftiger Eßsaal – also alles, was der gebildete Mensch braucht in dieser Einsamkeit. Und einsam ist's hier – ein Schritt vom Hause, und meilenweit dehnt sich der Wald mit den herrlichsten Tannen und weichem moosigen Grunde in üppigster Vegetation, durchrauscht von klaren Bächen, zu allen Seiten aus. Wir sind wie auf einer Art Paßhöhe, wo die Wege sich treffen und theilen. Aber diese Höhe ist nicht öde und kahl. Der mächtige Tannenbaum schaut uns freundnachbarlich ins Fenster hinein, und sein Rauschen wiegt sanft in den längst vermißten Schlummer. Unmittelbar am Hause, von den oberen Fenstern auch zu erschauen, strahlt die Krone Hundsecks: der bezaubernde Blick hinein in einen ächten Schwarzwaldgrund.

Erst dehnt sich wie ein Teppich eine kleine, lichtgrüne Wiese in satten Farben aus, dann schieben sich rechts und links die bewaldeten Berge in ihren Ausläufern wie Coulissen in einander, einer immer etwas höher als der andere und immer blauer, bis ins Tiefschwarze sich verlierend, und hinten als Hintergrund der lange Rücken der »langen Grind«, die das Murgthal von dem Oosthal trennt. Da ruht das »häusermüde« Auge aus in dem farbenreichen Grün; im freiwilligen Abgeschlossensein von aller Welt – (selbstverständlich ohne jeglichen »Menschenhaß«) und völligem Umschlossensein von der Tannenwelt – liegt schon ein Stück Heilkraft für den Menschen des XIX. Jahrhunderts. Auch sonst werden ihm hier etliche Kulturflügel geschnitten. Für Toiletten, Fräcke, Schminken und Haarkräuslerkünste ist kein Raum; auch ist absolut nichts zu schachern und kaufen, wenn's nicht ein Stock wäre oder ein Cigarrenkistchen mit einem höchst gefährlichen Kraute und der Devise: » Souvenir de Hundseck«. So kehrt nothgedrungen der Mensch zur »Einfachheit« zurück. Freilich ist's mit der Einfachheit so eine Sache. Es ist gerade wie das Zeugniß unserer Schüler, das sie mit getheilten Empfindungen nach Hause bringen und worin es heißt: »befriedigend« oder »fast befriedigend« oder »kaum nicht befriedigend«. Man ist so klug wie vorher, denn man weiß ja nicht, womit eigentlich der betreffende Herr zufrieden. Mit dem Wissensdurste ist es wie mit dem gemein-menschlichen Durste: der Eine ist mit zwei Seideln Bier »befriedigt« und der andere mit zwölfen noch lange nicht. So ist's auch mit der »Einfachheit« hier. Des Morgens reichlich Kaffee oder Thee oder Kakao, Milch, Butter Honig – um ½1 Uhr Mittagsessen mit Suppe, dreierlei Gängen Fleisch, einer süßen Speise und Dessert und Abends ½8 Uhr Suppe und zweierlei Gänge warmes und kaltes Fleisch mit Salat oder Kompott. Ob Sie damit »befriedigt« sind und das »einfach« nennen nach Ihrer diätetischen Grammatik, weiß ich nicht. Dies »einfache« Essen, sammt Zimmer mit einem Bett, kostet 6 Mark pro Tag. Ob Sie das billig finden, muß ich wieder Ihrem wahrscheinlich »billigen Ermessen« ganz ergebenst »anheimstellen«. – (Diese letzte Redewendung ist von seltener Güte, dehnbarster Bedeutung und immer da anzurathen, wo man selber entweder keinen Rath weiß oder den Andern »reinfallen« lassen will. Gebrauchen Sie dies Wort recht oft und recht gesund!)

Der Tageslauf beginnt also mit dem Frühstück und verliert sich dann in Hängematten, die in den dichten Tannen angebracht sind, in welchen sich unser einzigstes »gnädiges Fräulein« wiegt, während wir andern Civilseelen die Waldwege aufsuchen, die sich in Fülle hier ausdehnen. Im Nu ist auch hier alles aus einander gestoben, sei's hinauf auf die verschiedenen Köpfe der Umgegend (denn außer unsern Köpfen, von denen manche weniger »bewachsen« sind, sind wir von einem Heer von dichtbewaldeten Köpfen umgeben) dem Riesen-, Hoch-, dem Mehliskopf. Des Nachmittags sammelt sich die Jugend beim Kegelspiel, dieweil die Alten schlafen, und dann wird zum Theil gemeinsam der Ausflug gemacht bis zum Abend. Sind's doch bis zum sagenhaften Mummelsee nur zwei Stunden, allwo man sich gruseln lassen kann, wenn auch der Wirth dort nicht bereit ist, wie ein Kollege in Neckarsteinach, dessen Schild besagt: »Auch ist der Wirth erbötig, Legenden und Sagen der Umgegend seinen Gästen vorzutragen.« Wer ein bißchen angehaucht ist von Märchenduft, macht im stillen Tann sich von Märchen selbst, was er ins Haus braucht; dem erzählen rauschende Wipfel und bemooste Steine, gefällte Stämme gerade genug. Fällt gar der Lichtglanz der untergehenden Sonne durch die Tannen, so lichtgold, daß man nicht hineinschauen kann, dann ist's, als ob irgend eine blonde Fee holdselig durch den Wald schritte und lockte, an ihrem Glanze sich die Finger zu verbrennen. Was Wunder, wenn überall Sage auf Sage sich hier oben drängt! Oder es geht hinunter nach Hundsbach, dem biederen Vetter der Hundseck. 's ist ein richtiges Schwarzwaldthal, mit Sägemühlen und zerstreuten Höfen mit Wohlhabenheit und Armuthei; denn die findet sich wie die Flechte an den grünen Tannen angerankt, auch hier oben, wenn auch kein Bettler sich sehen läßt. Um so schöner von unserm Forellenwirth am Eingange des Ortes, der seit zwölf Jahren keinen Hauszins von der armen Wittwe in seinem Nebenhause gekriegt und ihr bislang nicht gekündigt hat. Es zieht sich dann der Weg vom Forellenwirth, in dessen schattigem Tannengrund ein klares Bächlein links vom Kaffeetisch rauscht, hinauf zum Kirchlein – rechts eine Illustration zu Uhlands Kapelle mit der Mahnung hinab ins Thal:

»Hirtenknabe! Dir auch singt man dort einmal!«

Dann hinauf in die Waldschlucht hinein bis zum Original Hundsbachs, dem »Stabhalter« – einer Art Bürgermeister. 's ist ein kleiner, freundlicher Mann, der seinen Dienst mehr um der Ehre, als um des Geldes willen thut. Als wir ihn fragten, wieviel Gehalt er denn habe im Jahr, gab er lachend die klassische Antwort: »Wenn ich 900 Mark aus meinem Sack drauflege, dann habe ich gerade 1000 Mark.« Sie sehen, daß dort ein Philosoph im Bauernrocke haust.

Oder man geht hinauf zum »Kirchweg«, der von Hundsbach nach » Herrenwies« zur Pfarrkirche sich zieht. Der Weg selbst ist ein Stück Predigt: so kirchenstill mit seinen tiefen Tannengründen, hinter denen die Badener Berge blauen, dazu so schön gehalten, als wäre man im fürstlichen Park. Herrenwies ist eine Forstkolonie aus alten Zeiten, jetzt nicht mehr die Hochschule junger Förster wie einst. Ein Priester, ein Lehrer und Förster, ein Stabhalter und der Wirth zum Auerhahn – da ist so ziemlich alles beisammen, was im Winter eingeschneit, sich vom Sommer erzählen kann. Alle vermiethen, und man ist überall gut aufgehoben, wenn nicht gerade einmal der Blitz in den Schornstein schlägt und die Suppe versengt. Es ist eine Herrenwiese – still und friedlich liegt sie vom Walde umkränzt, die Lust ist weicher und linder als hier oben auf Hundseck, wo sie Einem wohl, wie uns jetzt, mit fünf Grad Wärme um die Nase geht. Denn an den Barometer schert sich der »Schwabenwind«, der über den schwäbischen Schwarzwald kommt, nicht. »Der Barometer geht hinauf, und der Regen kommt herunter«, das ist hier oben der Trost. Im vorigen Jahre muß wochenlang ein böses Wetter hier gehaust haben. In dem unvermeidlichen »Fremdenbuche«, das für den Senat des deutschen Reimvereins eine reiche Ausbeute böte, haben sich denn auch die Klagetöne hören lassen. Ein Schwabe hat seinen berühmten Landsmann travestirt und bei drei Grad Wärme sich folgendermaßen ausgedrückt:

Es reden und träumen die Menschen viel
Von besseren künftigen Tagen;
Der Mensch hofft immer Verbesserung,
Doch stets folgte die – Verwässerung. –
Beginnen wir Morgens den Tageslauf,
So machen wir hoffend die Läden auf!
Verhüllt auch die Sonne ihr Angesicht,
Wir pflanzen die Hoffnung: es werde noch licht.

Eine »Rheinschwäbin« mit kräftiger Schrift seufzt:

Samstag, Sonntag, Montag Regen,
Feucht und naß auf allen Wegen,
Sturzbadwellen, Wasserleitung,
Rothe Nasen, Winterkleidung,
Immer Barometerfragen,
Stets erneutes Weheklagen,
Ein'ge spielen desperat
Domino und Bilderskat!
Sprach entsetzt Herr Justus Schneider:
»Nein, so geht es nimmer weiter,
Hier im Zimmer sitzen nur,
Ist doch keine »Waldluftkur!«

Sie sehen, Gelegenheit macht Diebe und Dichter. Welcher Holzfrevel im deutschen Dichterwald wird nicht in diesen Luftkurorten verübt! Schreibt doch Einer:

Gerne hätt' ich jedem Andern
Meinen Auftrag übertragen:
Festtagsdichtung hier zu machen,
Denn mir fehlt's an Poesie. (!!)
Aber hier am trauten Orte,
Angehaucht von Tannwaldgeistern
Schwillt die ungefüge Ader,
Das Poem »entwickelt« sich!

Und nun die Gesellschaft, die sich hier oben findet? Erwarten Sie keine Kurliste, wo Herzöge und Grafen den Reigen bilden. Wir sind uns alle unseres Werthes bewußt und bildeten bis vor wenig Tagen, so verschiedenartig wir auch komponirt waren, doch die Grundmelodie des »bürgerlichen Schauspiels«. Alte und Kinder, gerade sieben Schwaben, fünf Nordländer, die Andern aus Mannheim, Frankfurt, Mainz und Baden-Baden. »Was sich liebt, das neckt sich«, und der ist »keiner von den Besten, der sich nicht selbst zum Besten hat und haben lassen kann«, gilt hier. Gerade die Stammverwandten kennen die Schwächen der Andern genau, aber Jeder traut dem Andern das Beste zu. Man kann solch eine Vereinigung nicht machen; ein einziger Gast kann als Bankos Geist fungiren und einen Bann über Alle legen, wie auch Einer Alle elektrisiren und zusammenhalten kann. Aber es traf sich glücklich – die Kinder gemahnten an die eigne sorglose Kinderzeit, wo so recht der der Schulfessel entledigte, biedere Flegel sich bei maßlosem Appetit entwickeln konnte. Die frische Kuhmilch wird hier den Kindern erbarmungslos eingepumpt, und man erinnert sich jener holden Jahre, wo Einem Aehnliches widerfuhr. Aber Jeder erzieht auch die fremden Kinder und fühlt sich berechtigt, als »Onkel« oder »Tante« zum gemeinsamen Besten einzugreifen, wenn Eines sich »überlebt« (wie der süddeutsche klassische Ausdruck für ein »Ueber-essen« heißt) oder übermäßig heult. Ein gemeinsames Waldfest mit Improvisation, Gesang und Spielen vereinigte Alle, um die verspielten Partieen in Bier und Selterwasser und Schinkenbroten aufzulösen; am regnerischen Abend wurden Scharaden gemacht und eine Räthselfluth losgelassen.

Am Sonntag einigte uns eine stille Feier im Saale, zu der die Gäste der fernen Pensionen heraufwallten. Unsere Herbergseltern sind die Hammerschen Eheleute; er, ein hübscher, sangbarer, gebildeter Mann, der in Bühl einem ausgedehnten Eisengeschäfte vorsteht; seine junge sanfte Frau hier oben mit ihrem Augentrost, dem (damals) einjährigen Max, ist mit Hülfe des vielgewandten Stellvertreters, Maushardt, und des internationalen Koches, der im Winter dem Khedive in Kairo kocht, die »Mutter vons Janze«. So trug Hundseck für uns den Charakter der guten alten Herberge, wo man wirklich noch »Gast« und nicht »Zimmernummero« im Hause ist.

Aber ich habe eben andere Pensionen genannt – nicht etwa auf Hundseck, denn wir sind einzig in unserer Art – wie bereits in jenem Buche Einer sang:

Man schafft so oft sich Sorg' und Müh',
Sucht Bäder auf und findet sie –
Und läßt die » Hundseck« unbemerkt,
Die doch am Wege blüht! –

Nein, tiefer unten liegt der » Sand«, die älteste der Pensionen, etwa 20 Minuten von der Hundseck. Es ist ein traulich Haus, kleiner als Hundseck, enger die Stuben, beschränkter der Raum, aber dafür ein freier Blick ins Rheinthal hinab auf Straßburgs Münster und die Vogesen; geschützter gegen rauhe Luft als hier oben, aber dafür auch wärmer und dumpfiger bei anhaltender Hitze. Der Wald ist in unmittelbarer Nähe hinter dem Hause, das der Gemeinde Bühlerthal gehört, deren Pächter der berühmte Wirth, mit dem noch berühmteren Namen »Maier« ist. Als Zeichen seiner poetischen Stimmung (die er auch in seiner weißen Jacke nicht verleugnet, da er zugleich Selbstherrscher der Küche ist), steht auf dem Balken in der Wirthsstube in altdeutscher Schrift:

Der Sandwirth von Passeyer
Als »Hofer« war bekannt,
Der hiesige wird »Maier«
Von seinen Gäst'n genannt.

Im Frühstückszimmer wird dem Gaste mit dem Zaunpfahl gewinkt und derselbe über den Sand getröstet durch folgende Verse:

Merkwürdig, daß am Waldesrand
Dieser Ort ist »Sand« benannt.
Fürchtet drob nicht Mangel hier,
Küch' und Keller sorgt dafür.
Würzig ist des Waldes Duft,
Prächtig labt des Berges Luft,
Eines guten Weines Quelle
Sprudelt hier an dieser Stelle.

Der Tisch wetteifert mit dem der Hundseck, wenn man den Gourmands trauen darf, die auf diesen Artikel hin die Pensionen bereisen. Aber »Herr Maier« hält sich auf der Höhe und behandelt jeden Gast als seinen Freund, wenn er nicht gerade mit einem zusammenrennt, der aus dem Küchenchef nicht den Hausherrn herauszudestilliren versteht. So ist's auf dem Sand ganz gemüthlich, wenn auch zusammengedrängter als auf Hundseck; beim guten Wetter geht es, aber beim schlechten ist's vielleicht etwas beengend. Vorab sind die Wirthsleute gegen einzelne Damen, die sich dort ansiedeln müssen, sehr aufmerksam.

Noch tiefer unten liegt der » Plättig«, etwa 20 Minuten vom Sand. Richtig so genannt, weil er auf einer Platte liegt. Hier ist die prächtige Aussicht noch freier ins Rheinthal hinab. Wer Sonne liebt, der wird sie dort finden. Ein neues Logirhaus über der Straße mit einer warmempfundenen, aber feuchtangelegten Bierstube mit Bildern von kunstvoller Hand gemalt, birgt die Gäste, die zum Mittagsmahl in den niederen Eßsaal herüberwandern müssen. Die Gesellschaft ist wohl dadurch getheilt und weniger Zusammenhang in ihr als bei uns, aber sie rühmt sich etlicher Exzellenzen und Baroninnen; vor allem einer guten Küche, der die Seele des Ganzen, die tapfere Frau Weiß, vorsteht, während ihr Mann, ein braver Krieger aus 1870, der noch tapfereren Frau gegenüber vielleicht seine Fehdelust eingebüßt hat und friedevoll über dem doppelten Plättig waltet.

Diese drei Pensionen sind stille Rivalen, nicht der Wirthe, die die Gäste den Andern gönnen, wenn sie ihr eignes Haus voll haben, sondern der Inwohner. Wir auf Hundseck blicken auf diese »Sandwich- und Plattkopfinsulaner« hoch herab, freuen uns des Schwabenwindes, den wir aus erster Quelle beziehen – während die beiden andern den Emporkömmling Hundseck, der erst vor zwei Jahren sich zu einem menschenwürdigen Dasein emporgeschwungen, bemitleiden und ihm seinen »hündischen« Namen von Herzen gönnen. Wohlan, wenn nur Jeder mit seinem Loose zufrieden, sich hier oben erholt und findet, was er gesucht, verliert, was er sich wegwünscht, gewinnt, was er verloren, seinen schlechten Humor und sein Geld los wird, wozu er hier reichliche Gelegenheit findet. Denn z. B. das Fahrenmüssen ist hier ein theures Vergnügen für den, der nicht kapitalfest auf den Füßen und am Herzen ist. Die Wagen werden aus Bühl erst citirt, da nur auf dem Plättig ein Landauer zu haben ist. Aber freilich ist's das Ideal des Reisens im Schwarzwald: im offenen Wagen sich die Welt zu besehen, auszusteigen, wenn man Lust hat, und ohne Ermüdung den Vollgenuß zu haben. Die Jugend aber soll mit dem Ränzlein auf dem Rücken zu Fuß wandern, wir Alten aber, denen das Herz klopft beim Steigen, dürfen uns erlauben, vierbeinig die Berge zu besteigen. Und doch auch bei dem Herzklopfen ist uns ein klassischer Trost geblieben. Als eine etwas empfindsame Dame einem schwäbischen Doctor hier oben klagte: »Ach, mein Herz klopft so arg,« antwortete er gelassen: »Sein Se froh, daß's klopft!« Also per Wagen hinüber durch prächtigen Hochwald nach Breitenbronn, auch einem »Luftkurort«. Was der gute Oertel mit seinen »Luftkurorten« und »Terrainkuren« angerichtet! Wie vielen Wirthen hat er damit auf die Beine geholfen! Nun ist alles »Luftkurort«, und damit ist die Berechtigung für die »Sommerfrische« motivirt. Denn ein »bißchen krank« muß doch heute Jeder sein, wenn er Anspruch machen will, irgendwie interessant zu sein. Aber gut ist's schon, daß die Aerzte den Leuten mehr durch gute Luft, als durch vieles Baden helfen wollen. Denn man badet sich auch manchen Rheumatismus nicht blos weg, sondern auch gründlich an. Werden die Menschen wieder zu Menschen in guter Luft, bei gutem Wasser, bei früh auf und früh zu Bettgehen, lassen sie einmal ihre Würden und Bürden zu Hause – so sind sie widerstandsfähiger, auch ihre Bresten zu tragen, mit denen sie eben doch einmal so behaftet sind, daß sie sie als besonderes Eigenthum betrachten. Würde sonst Einer sagen: Ich habe heute » mein« Kopfweh wieder! – Nun also nach diesem Erguß: Breitenbronn. Es liegt dieser jüngste, eben im Ausschlüpfen begriffene Kurort in herrlicher Lage. Buchenwald und Tannenwald stoßen hier zusammen, da Breitenbronn tiefer liegt. Ein massives, hübsch gebautes Haus, die Zimmer mit Altanen versehen, die Vorderfront mit einem wunderbar schönen Blick auf die Reuchthalberge gerichtet, während die Hinterfront in den Wald schaut – die Stuben hübsch und zum Theil geräumig. Tiefe Abgeschlossenheit von aller Welt findet dort der Wanderer. Noch geht kein Telegraph, und die Post ist erst »im Werden«; das Haus ist bislang noch unfertig, wiewohl völlig trocken – aber es wohnen schon Familien darin, die sehr zufrieden sind. Ich glaube, daß für eine gewisse Art Erholungsbedürftiger dieser stille, weltverlorne Ort eine schöne Zukunft hat.

Nun lassen Sie mich aber schließen. Der Postbote drängt. Er ist der Bruder »Schmerzensreich« mit seinem noch schmerzensreicheren Kollegen, der am Abend den Berg heraufkriecht. Drei Stunden scharf bergauf von Bühlerthal, oft mit 15 bis 20 Kilo Gepäck in Sommergluth und dafür 1 Mark 50 Pfennig Verdienst, wovon noch Abzüge für Kleider, Krankenkassen, abgehen! Auch eine sociale Frage. Was wäre es auch, wenn bei der reichen Korrespondenz auf diesen drei Luftkurorten, da doch täglich mindestens etwa hundert Briefe ein- und abgehen, ein kleiner Wagen mit einem Pferde aus dem Säckel der Reichspostverwaltung angeschafft würde! Und nun denke man sich diesen Weg im Winter! Haben Sie zu dem geistvollen Stephan Beziehungen, helfen Sie, daß sein Herz nicht hinter seinem Geiste zurückbleibt. » Qui proficit in literis et deficit in moribus, plus deficit, quam proficit« – das war ein lateinisches Thema und heißt zu deutsch: »Der Kopf ohne Herz ist wenig werth.« Was hier erquickt im Schwarzwald auf Hundseck – das ist » Einsamkeit und Gemeinsamkeit«, keins ohne das andere. Ueber dieses schöne Thema rathe ich Ihnen, eine hübsche Novelle zu schreiben!


Soweit ging jener Brief. Seit dieser Zeit ist es aber anders geworden; Hundseck ist vergrößert, und der Sand hat einen großen Palast gebaut. Auch mit den postalischen Verhältnissen soll's besser geworden sein. Ob's aber noch so gemüthlich ist, wie damals, weiß ich nicht. Viele Menschen machen leider die Luft und eine Gegend nicht immer besser. Doch denke ich, 's wird noch soviel Tannenduft da oben übrig sein, daß müde Menschen sich noch reichlich erquicken können.



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