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Ein Postscriptum zu: »Aus einer Berliner Amtswoche«.
»Wann geht Ihr Tag an?« so frage ich oft die Leute, denn daraus kann man schon merken, was für Menschen sie sind; ob's Menschen des Morgens, oder Menschen der Nacht sind. Die Menschen der Nacht sind amüsanter als die des Morgens, aber ob sie viel fertig bringen, wer möcht' es entscheiden? Sie sind wie eine Lokomotive, die sich des Morgens sehr langsam in Bewegung setzt und erst am Abend und in der Nacht in richtige Kurierzugschnelligkeit kommt. Etwas Cassius- und Catilinaartiges haben sie an sich und sind immerhin mit Vorsicht zu gebrauchen. Der »Morgenmensch« ist entschlossener, thatenfroher und selbstbewußter. »Rede nie mit einem Menschen, der nicht ausgeschlafen und der nicht ordentlich zu Mittag gegessen,« sagte mir einmal ein geriebener Menschenkenner, »wenn Du etwas von ihm haben willst.« Das hat seine Wahrheit. Schließlich ist es die bittere Noth gewesen, die mich zu einem Morgenmenschen machte, wenngleich mir jedes Mal bei dem Citat »Morgenstund' hat Gold im Mund« unsere alte Köchin einfällt, die nie versäumte, als »Nachtrag« hinzuzusetzen: »aber Blei im Buckel«. – Der ganze Tag holt die versäumte Morgenstunde nicht mehr ein, und was läßt sich in der Morgenstille nicht alles denken und thun! Sie bleibt doch die Zeit der Gürtung für den ganzen Tag, der Waffenprobe, ob alles fest sitzt und hieb und schußfest ist. Denn jeder Tag führt mehr oder minder auf ein Schlachtfeld, vorab in Berlin – was wird er bringen, was wird er nehmen, und welche Wunden Dir schlagen? Da ist's denn gut, Luft einzuathmen aus der oberen Luftschicht, in die Daniel in Babylon sich tauchte, »wenn er auf dem Söller stieg und sein Antlitz gen Jerusalem wandte«.
Zuerst erscheint nach dieser stillen Stunde die »niedere Geistlichkeit« zur Meldung. Das saugt denn schon einen Theil »Morgenluft« weg. Die epische Breite ist unserm Volke eigen, und wer es nicht ausreden läßt, erfährt wenig. Denn das »Eigentliche« kommt erst zuletzt. Da der Inhalt zumeist dürftig, hat man Zeit, die Form zu studiren, in welcher sie den Gedankenfonds fassen. Es ist immerhin »Volk«, das man studirt, entweder in seinem natürlichen Mutterwitz, oder in jener Bildung, die das fehlende Unterfutter unter dem eleganten Rock sofort wittern läßt. Ich erzählte schon oben von einem alten Berliner Original, das die Menschen in »Subjecte« und »Objecte« theilte, da wußte man schon gleich den Rangunterschied. Da er selbst in einem gewissen Spitale lag, so roch er aus der Ferne gleich den Leuten, den »Objecten«, den Branntwein an und konnte auch sofort Sorte und Preis bestimmen. »Er riecht nach Anisette for zwee Jute« – »jeben Se man nichts.« Wer kann sich da das Lachen verbeißen? Der Umgang mit dem »Heiligen« macht nicht immer selbst heilig, und man hat alle Noth, immer wieder diesen Leuten »theologisches Bewußtsein« einzuflößen. Nicht alle Küster haben den feinen Standpunkt, den jener Küster inne hatte, von dem mein seliger Bruder oft erzählte. Der stand an einer Kirche, in welcher die Candidaten ihre Probepredigten zu halten hatten. Da war, wenn die Predigt nicht gerathen, das Küsterurtheil: »Es war ein schwerer Text«; war der Predikant ängstlich und schwach, dann lautete es: »Der Herr hat geholfen«, war die Predigt aber gut, dann sprach er: »Ich habe mich erbaut«. Gewiß eine Zensur, die einem Consistorialrath Ehre machte.
Nun die Sprechstunde? Manchmal könnte man sagen, sie heißt deswegen so, weil der geistliche Herr da nicht zu sprechen ist, d. h. weil so viele Leute da sind und man den Eindruck hat: bis die alle dran gewesen, bist entweder Du »alle«, oder der gute Mann ist's, mit dem Du sprechen willst. Aber sie soll doch eigentlich nur dazu da sein, daß man eine bestimmte Zeit weiß, in welcher man einen Herrn trifft. Zu sprechen muß ein Geistlicher doch immer sein, wie ein Arzt. Wer weiß, wer zum letzten Male kommt und was gerade Manchem auf der Seele brennt? Hätte unser Herr und Meister nur am Tage Sprechstunde gehabt und nicht auch bei Nacht – wir hätten das herrliche Nachtgespräch mit Nicodemus nicht! Nichts ist schlimmer, als den Leuten den Eindruck zu geben, man habe keine Zeit. Das bringt Einen in Unruhe, hält auch vielleicht Manchen ab, der's recht nöthig hätte, daß man ihm das Bündel abnähme. Ich habe immer gefunden – Menschen, die viel Zeit haben, haben nie Zeit; und die, die »nie« Zeit haben, haben immer Zeit, weil sie eben ihre Zeit zu nützen wissen und so vorsichtig damit umgehen, wie mit einem anvertrauten Kapital. Der tiefste Grund vom »Nichtzeithaben« liegt freilich tiefer. Er liegt darin, daß die Leute etwas Anderes nicht haben. Das hat 'mal der geistvolle Wilhelm Hoffmann einem Herrn auf den Kopf gesagt, der auch behauptete, keine Zeit zu haben. »Sagen Sie nicht, ich habe keine Zeit, sagen Sie: ›ich habe keine Ewigkeit‹, darum haben Sie keine Zeit.« Auf dieser Wage gewogen, hat die Zeit erst den wahren Werth. – Nun freilich, mit was allem kommen die Leute! Zumeist sind es gestrandete Schiffe, die anlanden, denen man helfen soll, flott zu werden. Alles drängt in die Städte und namentlich nach einer Stadt wie Berlin. Da wollen sie »hinmachen«. Kaum der zehnte Theil sucht ernstlich den Erwerb, die Andern alle Freiheit und Vergnügen. Ich wollte das einmal einem Menschen klar machen und sagte ihm: »Sie kommen nach Berlin; wissen Sie, was das heißt? Sie kommen in ein großes Wasser, da ist Gelegenheit zum Schwimmen, aber auch zum – Versaufen.« Da gab er mir die klassische Antwort: »Nein, Hochwürden, saufen thu ich nicht.« So war denn mein Pfeil richtig abgeprallt. Die Bettelbriefe werden zuerst erledigt. Sie unterscheiden sich in »Fabrikarbeit« und »eigne« Leistung. Die ersten stammen aus der Bettlerbörse, die das Verzeichniß der Namen hat von Leuten, bei denen etwas zu »machen« ist. Diese Adressen werden je nach Werth bezahlt. Machte doch einmal ein junger Mann aus guter Familie die Wette, er wolle sich an einem Tage mindestens zwanzig Mark erbetteln, alles mit Adressen und geliehenen Papieren. Er brachte am Abend noch sechs Mark mehr – natürlich, um die Gaben den Gebern mit einer Warnung zurückzuerstatten. Die Bettelbriefe sind meist nach einem Schema abgefaßt. Sie beginnen mit einem Lobe der »allgemein« bekannten Wohlthätigkeit, des Hoch- und Edelsinns des betreffenden Opfers. Nach dieser wohlangebrachten parfümirten Rasirseife blinkt dann das scharfgeschliffene Rasirmesser. Zuletzt erscheint im Hintergrunde – der Selbstmord, der wie Samiel im Freischütz mit vollster Länge über die Bühne schreitet, und zu allerletzt dann der »liebe Gott im Himmel«, auf den man so fest baue, als auf den Einsturz des Chimborasso und anderer umliegender Berge. Dann kommt der große Devotionsstrich, kunstgerecht gemalt und irgend ein Name, dem man's anmerkt, daß er im Schreibunterricht sich fern vom Katheder gehalten hat. Das alles wandert zumeist in den Papierkorb zu den andern »Brüdern«. Wenn aber dann so ein Originalscriptum erscheint, ist man um so angenehmer überrascht. Wenn z. B. Einer seinen Brief anfängt: »Nathan, Nathan! Bei Gott, Ihr seid ein Christ« – dieses Wort des großen Lessing paßt janz uf Ihnen, Herr Hofprediger, darum bitte ich um eine kleine Unterstützung,« so läßt das wenigstens klassische Bildung ahnen.
Ein Anderer beginnt:
»Ich sag's, gebückt auf allen Vieren (!)
Der Hauswirth will mich exmittiren –
Würden Sie nicht vor mich lassen –
Ich müßte wirklich heut' erblassen« –
Ihr sehr ergebenster
Welch vielsagende Situation! Nicht minder zum Staunen ist's, wenn Einer »am liebsten sein krankes Bein mündlich« zeigen will. Dem andern Manne war's gewiß zu glauben, wenn er schreibt: »Wir sind wirklich in großer Noth. Selbst meine Frau hat vor acht Tagen ein Kind geboren,« oder wieder Einer: »Sie werden mir gütigst erlauben, daß wir uns in großer Noth befinden.« Ich könnte diese Blumenlese fortsetzen, wenn nicht schließlich der Verleger Einspruch thäte. Aber immerhin liefern solche Briefe ein Stück unfreiwilligen Humors, an welchem unser Volk so reich ist. Freilich, einmal stürzte ich doch zum Zimmer hinaus, als eine biedere Frau, deren Kind ich untergebracht, mir folgende Dankes- und Ehrenerklärung gab: »Ja, sehen Sie, ich habe immer zu ›Vatern‹ wieder gesagt: ›Siehst Du, unser guter Herr Hofprediger bleibt doch immer unsre beste – Retirade!‹« Kann man Einen besser bezeichnen? Ich mußte mich aber doch eine Weile von diesem freudigen Schreck erholen. Kurz, das alles ist ein Stück Volksleben, und man sieht den Leuten wie durch ein Schiebfenster ins Herz. Unser Volk ist ein Maler, der mit der Spachtel statt mit dem Pinsel malt und Licht und Schatten trefflich aufsetzt. – Es gehört Liebe dazu, ein gutes Wort zu sagen, aber oft noch mehr Liebe, einmal zu schweigen und einen Strom der Klagen still über sich ergehen zu lassen. Oft ist einem Menschen durch bloßes Anhören seiner Noth schon geholfen; ein Schriftsteller schreibt sich so 'was vom Herzen weg, wie ein Goethe seinen Werther; und ein Andrer, der nicht gerade Goethe und aus Frankfurt a. M. ist – redet sich's weg. Aber sich selbst objectivirt zu haben, hat immer etwas Befreiendes in sich. – Nun kommt die Stunde des Unterrichts. Welch bunte Menge, diese Berliner Kinder! Es wird manchem Lehrer und Geistlichen blutsauer, da hinein zu gehen, weil die Haut vielen Jungen zu kurz ist und irgendwo platzt. Ich habe aber nie zur › ultima ratio‹ – zum Stock greifen müssen und nie etwas Schlimmes bei den Jungen erlebt. Vielleicht hat meine Antrittsrede einigen Eindruck gemacht, in welcher ich meinen verehrten Zuhörern auseinandersetzte, »daß ich ein Schafhirt und kein Schweinhirt sei. Der Schafhirt gehe voraus, und die Schafe folgten, er ziehe kein Schäflein am Strick, noch schlage er sie; der andere Hirt ginge aber hinterdrein mit der Peitsche. Sie könnten sich also selbst den Vers machen, wohin sie gehören wollten, und die Wahl stünde ihnen frei«. Das nehmen sie denn auf die Ehre, und ich habe nie Noth, etwas zu sagen. Ach, wer sich nur immer in ein solches Kind hineindenken könnte und in seinen Gesichtskreis! Wie so manches Kind hat kaum einen richtigen Sonnenstrahl – Hof fünf Treppen links – weder vom Himmel oben, noch von den Eltern und einem Menschen auf Erden empfangen! Mehr als alles Einlernen und Ausfragen heißt es doch, die Kinder in dieser Stunde in eine reine, heilige Atmosphäre zu heben, in der das junge Herz ahnungsvoll etwas einathmet, wovon es in späterer Zeit lebt. Die liebsten Stunden sind mir oft die gewesen, wenn im Juli der »Rest« zurückblieb, dem es nicht vergönnt war, auf Sommerfrische zu gehen, und der in der heißen Julizeit seine Sommerfrische auf seine Art sucht. Das waren oft die originellsten Kinder, nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt, die kein Sool- noch Seebad brauchten. Freilich werde ich immer noch an jenen Jungen denken, der mir unter einem großen Nußbaum, unter welchem ich die Kinder versammelt hatte, in aller Morgenfrühe zur Antwort gab, als ich ihm den Nutzen des Schweigens klar machen wollte und sagte: »Gott habe dem Menschen zwei Ohren und nur einen Mund gegeben, das deute also wohl darauf hin, daß der Mensch zweimal so viel hören als« – und da fiel der tiefsinnige Mann mir in die Rede – »als essen solle.« Der Junge hatte aber auch unglücklicherweise einen Mund wie ein Stephanscher Briefkasten, so daß alle Kinder ihn anschauend in ein wahrhaft homerisches Gelächter ausbrachen. Kurz, auch da ein Stück Volk unter Knaben und Mägdlein; so viel Blüthen – wird sie der Reif der Großstadt nicht treffen?
Des Nachmittags wollen die Leute meist heirathen, und auch da läßt sich die »Volksseele« studiren, von der die jungen Theologen heutzutage mit besonderer Vorliebe predigen, zumeist ohne sie in ihren Tiefen zu kennen. Wie redet schon der ganze Brautzug, die Unterhaltung der Gäste in der Sakristei von dem spiritus familiaris, der in den Herzen weht. Zumeist ist es ja völlig unbekanntes Volk, dessen Vorgeschichte man nicht kennt, höchstens wenn die Leute nach ihren Eltern gefragt werden. Freilich ist's manchmal verwunderlich, was alles die Leute zur Hochzeit mitschleppen oder auch sich vorsingen lassen. Der Eine wählte als Hochzeitslied das Lied »Aus tiefer Noth schrei ich zu Dir«. Als ihm bedeutet wurde vom »Herrn Küster«, »das sei doch so eigentlich weniger ein Hochzeitslied« – meinte der Bräutigam, »das Lied sei beim Begräbnisse seines seligen Vaters gesungen worden und habe ihm so gut gefallen, da habe er es auch zum Hochzeitslied sich ausgesucht«. Nun, nicht so ganz weit ab von ihm hielt jener andere biedere Bräutigam, der mir nach meiner Hochzeitsrede unter warmem Händedruck sagte: »Herr Prediger, ich danke Ihnen sehr für Ihre trostreichen Worte!« Wer weiß, ob er nicht ahnungsvoll geredet!
Nach der Hochzeitsfeier in der Kirche kommt die im Hause, oder zumeist in irgend einem »Lokal«. Da muß denn der Toast gehalten oder – gehört werden. Es gibt Toaste, bei deren Anhören Einem der Angstschweiß ausbricht. Er geht als ein »freier Sohn der Natur« an gefährlichen Abgründen vorbei und streift Gebiete, deren Betreten streng untersagt ist. Aber wenn da Einer so frisch ins volle Menschenleben hineingreift, ahnungslos, daß er auf einem Krater wandelt, der sofort nach seinem Hoch zu speien beginnt; wenn Leute sich still an einen Toastredner heranmachen und ihn an seinem »extra mitgebrachten« maienfrischen Frack zum Aufhören und Niedersetzen zwingen wollen, er sich aber vielleicht gar noch umkehrt und sagt: »Was zupfen Sie mich denn,« und nun unaufhaltsam das Unglück sich weiterwälzt – das alles muß man mit erlebt haben, um einen Begriff zu bekommen von dem, was man bisweilen beim Anhören zu dulden hat. Schwer ist es auch oft, bei wildfremden Menschen den Anknüpfungspunkt zu finden, will man nicht etwa den »kleinen Toastredner« citiren, Seite vierzig – und gewärtig sein, daß der folgende Redner mit Seite achtundvierzig fortfährt. Manchmal getröste ich mich des Wortes Rudolf Kögels:
Es ist ein Gesetz beim Spinnen von Gedankenfäden:
»Man muß drauf los reden.«
Etwas hat man doch immer auf Lager, wie eine gute Hausfrau allezeit etwas im Rauch, oder im Salz, oder Essig liegen hat, womit sie einen unerwarteten Gast tractirt. Ein bißchen Salz der Lebenserfahrung und der daraus destillirten Lebensweisheit gehört freilich dazu, soll's kein Redebandwurm werden. Aber ich studire dabei die Menschen und schaue zu, wie viel Gemüth noch in unserm Volke in der Tiefe blitzt; oftmals unter recht viel Katzengold doch eine ächte Erzstufe. Der Mangel freilich – nicht an Witz, wohl aber an wahrem Humor muß Jedem auffallen. Unsere Zeit ist eben pessimistisch angehaucht; und Pessimisten sind allemal keine Humoristen. Zwei – dreimal oft am Nachmittag wechselt die Hochzeitsscene und das Menu, das vielsagender ist, als Mancher denkt. Auch das musikalische Menu ist oft ebenso bedeutsam als – sinnlos. Man fühlt den Pulsschlag der Zeit auch darin, welches die Lieblingsstücke und -Melodien der Leute sind. Kurz, es könnte ein einziger Tag oft Stoff zu mehr denn einer kulturhistorischen Novelle geben, hätte man immer Auge und Ohr offen, noch mehr aber ein bißchen mehr Liebe, die allerwegen der Schlüssel zum Verständniß unsers Volkes bleibt. – Es kommt der Abend, und mit ihm entweder jene berühmten »Theeabende«, die ein Bazar in »Grün« sind, allwo man sich zum Besten irgend einer »Wohlthätigkeit« um die Nachtruhe bringt; oder die Gesellschaften, die leider oft mehr einem Menschen – Mixpickles als einer Gesellschaft gleichen und mehr Arbeit als Erholung sind. Am Strome stehen und sinnend hineinschauen, was alles in ihm vorübertreibt, ist interessant; aber seliger ist's, aus diesem Strome Einen retten zu dürfen. Dann war auch solch ein »Tag in Berlin« nicht verloren. –