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Moderne Faulenzer.

»Seid Ihr nun bald Alle richtig im Senkblei?« fragte an einem heißen Juniabend der Geheimrath Quintus die Seinen. Das sagte er immer, wenn er des Wartens satt war, und Jeder im Hause wußte, was das bedeutete: mühsam verhaltene Windstille vor dem losbrechenden Wetter. Wo er den Ausdruck her hatte, wußte man nicht, doch sollte er nach einer dunklen Familiensage in seiner Jugend gern Maurermeister geworden sein, absonderlich deßhalb, weil er sich so schön Zeit lassen könne und der Tropfen Maurerschweiß einen Thaler kostet.

Die Familie stand kurz vor der Abreise. Von dem Familienhaupte waren die Rundreisebillette seit Wochen ausstudirt und der Gewinn genau berechnet, den man damit dem Staatsseckel abjagte. Nun mußte nur noch Gepäckrevision gehalten werden, denn sonst verschlangen die unfreien Koffer den ganzen Gewinn. Das gab denn ein Seufzen und Jammern in allen Tonarten, als ein Colli nach dem andern von dem Vater visitirt wurde, als wäre er ein Steuerbeamter. Was wollten die Kinder nicht noch alles mitgeschleppt haben und auch die Frau! Aber das half alles nichts. Und das Wort vom Senkblei that seine gewünschte Wirkung. Er war ja sonst ein herzensguter Mann, der Geheimrath, der von Morgens bis Abends arbeitete und gern den Seinen eine Freude machte; aber freilich, verdorben durfte sie ihm nicht werden. Denn versalzen war ihm das Leben ohnehin schon genug, da er ein vielgeplagter Mann war.

»Also in 1½ Stunden sitzen wir auf der Bahn und fertig zum Abläuten!« So geschah's auch. Mit guten Worten und einem verständnißvollen Händedruck hatte er sich ein Coupé erobert, in welchem er sich mit seinem fünfköpfigen Anhang ausdehnen und das nöthige Kleingepäck unterbringen konnte. Dessen war nicht wenig. Den älteren Kindern war die Portion zugetheilt, die jedes zu ergreifen hatte, wenn es an ein Umsteigen ging. Bald sank auch alles in süßen, tiefen Familienschlummer, und in ihm versank noch der letzte Rest von Sorge und Plage und die Angst auf den folgenden Tag vor der trüben Stunde, die jeden Morgen die Kinder aus den Betten weckte, um die nöthige Wissenschaft einzusaugen. Was ist es doch um solch eine Abfahrt mit dem Zuge, wo Niemand mehr einem nachlaufen und aufhalten kann! Ein Hochgefühl von Entronnen- und Geborgensein umfängt den gebildeten Menschen, eine Empfindung verdienter, langersehnter Ruhe, und vielleicht ist darum der Mensch manchmal so grimmig auf seinen Nebenmenschen im Coupé, weil er ein gewisses Recht zu haben glaubt, in seiner Ruhe nicht aufgestört zu werden.

Das Ziel der geheimräthlichen Reise war der Schwarzwald. Die ganze Literatur darüber war gründlich studirt, alle möglichen Partieen, die man von dort aus machen konnte, hatte sich der Geheimrath so sorgfältig eingeprägt, als ob er schon dort gewesen. Somit hätte er füglich auch zu Hause bleiben können, wenn ihm nicht die gute Luft und die Ruhe hochnoth gewesen. Und selbst das hätte ihn nicht fortgetrieben, wäre ihm nicht von seinem Sanitätsrath mit dem ernstesten Gesicht, dessen er überhaupt fähig war, bedeutet worden, daß es seine Pflicht als Familienvater und besonders als »Beamter« durchaus erheische, sich alljährlich einen sechswöchentlichen Urlaub von seinem Ministerium zu erbitten.

Hinter dem Sanitätsrathe oder vielmehr hinter seinen Worten stand der eigentliche Leibarzt des Geheimraths – und das war seine lebensfrohe und humorvolle Frau. Wenn so die Zeit der Ostern herannahte, dann erschien der Sanitätsrath auf der Bildfläche, zu einer gründlichen Familienuntersuchung. Und danach wurde der Ort bestimmt, wohin die Familie zu wandern hatte. In den Osterferien hatte der Geheimrath die freiste Zeit zu Reisestudien in Hand- und Kursbüchern. Das wußte »sie« genau. Und ebenso verstand sie es, die Aufmerksamkeit des Sanitätsraths immer auf die Orte hinzulenken, die sie zu sehen wünschte. Ueberhaupt war des Geheimraths Hauptglück auf Reisen wie auf der ganzen Lebensreise seine Eheliebste, mit der sich leicht reisen ließ – was ja leider nicht bei allen guten, noch bessern Hälften der Fall sein soll. So sehr sie sich zu Hause mit Mägden, Handwerksleuten, Schulaufgaben und großer Wäsche, Besuchen und Gesellschaften abplagte –, auf Reisen schüttelte sie den ganzen Staub ab, froh, einmal für Wochen keinen Küchenzettel entwerfen und keiner widerborstigen Köchin Standreden halten zu müssen. Aber freilich, ihre Kinder mußten mitreisen, sonst wär's ihr nicht wohl gewesen. War's doch die einzige Zeit im Jahr, wo sie einmal ganz mit ihnen leben konnte. »Ich bin eine Schnecke, die ihr Haus mitschleppt«, sagte sie oft lachend, wenn sie von Leuten hörte, die froh waren, ihre Kinder einmal los zu sein. War auch manche Mühseligkeit dabei, so lösten sich doch alle die kleinen Unannehmlichkeiten in Heiterkeit auf. Wer eine feste Heimath hat, und drinnen sein Licht und seine Freude, den stört schließlich ein grober Wirth und ein hartes Bett in einem Gasthofe nicht. So ist's ja mit der ganzen Lebensreise, wenn man sein Heim in der Ewigkeit hat. Da kann man bei allem Ungemach dennoch mit den alten Tersteegen singen:

Wir sind hier fremde Gäste
Und ziehen bald hinaus.

Die Nacht war bald verschlafen, und als die Familie aufwachte, befand sie sich schon vor den Thoren Frankfurts. Am schönen Heidelberg vorüber, was in der Geheimrathsseele allerhand frohe Erinnerungen weckte, ging es dem Schwarzwalde zu. So kamen sie endlich die Berge heraufgekrochen mit dem großen Familienkoffhttps://www.gaga.net/pgproj/f45d51be/0116.pnger und landeten in herrlicher Gegend, dicht von Tannen eingeschlossen. Die Zimmer waren nach Wunsch, die zwei Jungens kampirten beim Vater, die Mädchen bei der Mutter, denn sonst hätte es allerhand Unsinn gegeben. Das jüngste Mädchen war 4 Jahre alt, die zwei Jungens 8 und 10, und das älteste Mädchen 14. Die Eltern hatten sich eben etwas erfrischt und dann einen Gang gemacht, der sie gleichmäßig entzückte. »Ja, hier kann man wahrhaftig wieder einmal Mensch sein!« rief der Geheimrath aus. »Als ob Du's nicht immer wärst, lieber Mensch,« sagte lachend die Frau. »Aber 's ist wahr – Du bist ein armer geplagter Schelm, dem das »Menschsein« zu gönnen ist!«

Mittlerweile hatten die Kinder sich mit den Bewohnern des Hauses angefreundet, vor allem mit dem netten Bauernmädchen, das in der zierlichen Tracht jener Gegend ihnen die Zimmer zum Abend zurecht machte. Die freute sich an dem muntern Geplauder der Kinder, von dem sie zwar den allerwenigsten Theil verstand, da die nordische Kinderwelt in einem Spracheilzug fuhr, daß dem Mädchen Hören und Sehen verging. Aber die Kinder waren zutraulich, die Kleinste war müde und sagte: »Leg' mich ins Bett.« Da staunte denn die »Apollonia«, so hieß das Mädchen, über all dem feinen Zeug, welches das kleine Ding auf dem Leibe trug. Sie mußte sich erst zurecht finden in all die Knöppeleien und machte sich allerhand Gedanken über die Stadtfräulein, wie die wohl besonders zusammengehalten werden müßten, damit sie nicht aus dem Leime gingen.

Der Geheimrath sammt seiner Eheliebsten hatten auch bald die wünschenswerthesten Anknüpfungspunkte gefunden in der Pensionsgesellschaft. Die Geheimräthin war, was unschätzbar in solcher Lebenslage ist, wo eine zusammengewürfelte Menschheit – wie Bruchtheile einer großen Hotelrechnung – sich zusammenfindet, so eine Art Generalnenner und glücklich verbindendes Glied. Sie brachte die Leute zu gemeinsamen Spielen und Ausflügen und, was von ihrem guten Herzen zeugte: sie nahm sich auch der Vereinsamten an, die mühsam einen Anschluß suchten, sei's durch Aufheben einer Serviette oder Hinreichen des Zahnstochers. Selbst den kranken Lehrer, der wegen Schlaflosigkeit von seinem Arzte heraufordinirt war und mit Niemand »gesundheitshalber« verkehren wollte, hatte sie zum Singen gebracht; und eine Rentiere, die von nichts Anderm als von Pensionen zu sprechen wußte, die sie alle, namentlich ihres Küchengehalts willen, abgegrast hatte und darum der Schrecken aller Küchenchefs war – selbst diese hatte sich einige Meter hoch über ihre sonstigen Gespräche gehoben. Das ging nun so Woche für Woche. Der Apollonia aber wuchsen die Kinder und die Eltern immer mehr ans Herz. War doch die Frau so gütig und munter, und auch der Geheimrath hatte sich nach ihren Eltern erkundigt, und sie hatte treuherzig alles erzählt, was sie wußte. Dazu war das Mädchen selbst so sauber in ihrer Arbeit, alles blink und blank in der Stube, und, was dem Geheimrath am meisten imponirte: nichts verräumt, selbst jeder kleine Zettel aufgehoben, jedes alte Briefcouvert hübsch hingelegt. »Ach,« seufzte er, »wenn man doch so eine hätte, die nicht ›im Ramsch‹ arbeitet und alles verkramt!« Morgens um Fünf war sie schon auf und sang am Brunnen, beim Waschen der Kübel, während sein »faules Fräulein Grethchen« zu Hause um 7 Uhr kaum aus den Federn zu kriegen war, trotzdem er eine elektrische Klingel von seinem Bette aus zur Dachkammer auf eigene Kosten hatte herstellen lassen. Dazu noch erschien ihm die Apollonia als ein Waldkind mit unverdorbenem Appetit und Anschauungen – kurz, es stieg der leise Wunsch in ihm auf, seiner Ehegattin den Vorschlag zu machen, das Mädchen mitzunehmen und dafür die »faule Grethe« zu entlassen, da ja bereits in Gestalt einer Kanone ein Exemplar dieser Gattung im Zeughause vorhanden wäre.

Die Pensionsgesellschaft hatte sich Abends um 9 Uhr schon meist auf ihre »Gemächer« oder vielmehr Höhlen zurückgezogen und schlief, ermüdet von Fußwanderung und Harzduft, ein, während unten, im Untergeschoß bei dem Küchenchef, der ein weitgereister Mann war, sich noch das Kellner- und Küchenvolk, vom Oberkellner abwärts, zur Soiree zusammen fand. Da wurde denn die ganze Gesellschaft, die sich oben versammelte, der Kritik unterzogen. »Die Leute haben's doch eigentlich riesig gut,« sagte der Oberkellner, der bereits schon einen bedenklichen Mondschein auf dem Haupte leuchten hatte und daher meinte, ein Vorrecht zu haben zum Sprechen – »alle Tage herrlich und in Freuden, brauchen für nichts zu sorgen, kümmern sich um kein Essen und Trinken und faulenzen da draußen den ganzen Tag. Wenn ich's nur in meinem ganzen Leben einmal so gut hätte« – »Herr Oberkellner, das kommt schon mit der Zeit,« sagte der Küchenchef lachend, »wenn einmal Ihr reicher Onkel, den Sie in Brasilien auf Lager haben, das Zeitliche segnet und Sie sich mit Fräulein Emma (hier sitzt sie) verbinden werden, zu einem Hotel ersten Ranges.« »Gut haben Sie's schon,« meinte der Jean, der die Gläser zu schwenken hatte, »heute Rheinwein, morgen Mosel und so die ganze Weinkarte durch. Der neue Geheimrath da droben weiß auch, was Essig und was Wein ist; dem schmeckt unser Affenthaler, wie wenn er noch nie so einen Tropfen unter dem Kragen gehabt hätte, und doch kriegt er noch lange nicht vom Besten. Die müssen Geld wie Heu haben.« »Ja,« sagte »Fräulein Emma«, die als eine Art Orakel galt, weil sie im Winter immer in Nizza bei »hochfeinen« Herrschaften war, – »das ist wahr – was muß sich unsereins plagen vom Morgen bis Abends, oder so ein armes Bauernweib, wie das Brodweible, das alle Tage 80 Pfund auf ihrem Schädel den Berg drei Stunden weit heraufschleppt und dann so eine gnädige Frau, wie die eine mit den vielen Ringen an den Fingern – die so halbe Tage in der Hängematte liegt und liest – es ist eigentlich sündhaft! Und alle Tage Partieen, oder sie sitzen stundenlang im Wald herum oder liegen unter den Bäumen und lassen sich den Wind um die Nasen gehen.« – Das alles hörte die Apollonia auch, und sie dachte, so unrecht hat das Fräulein Emma nicht – wenn man's nur auch einmal so haben könnte. Wie nett spielt der Geheimrath mit seinen Kindern Kegel und Ball, und erzählt ihnen; den ganzen Tag ist er mit ihnen lustig und vergnügt.« So ging's noch eine Weile fort, und den nächsten Abend wieder, und nur der Küchenchef warf so mal ein Wort dazwischen, »daß nicht alles Gold wäre, was glänzt«, oder sonst eine Redensart. Denn der Chef war im Winter tief im Aegyptenland und hatte da viele Elende und Kranke gesehen mit glänzenden Augen und fieberrothen Wangen, und auch Manchem das letzte Süpplein in dieser Welt gekocht. – Aber der Apollonia gingen im Traume all' die Reden nach, und wenn sie nach Hause dachte und wie's da alle Tage Kartoffel gab und wenig Butter dazu und harte Arbeit, da kam ihr doch auch der leise Wunsch herauf: wenn du's auch so gut haben könntest wie der Geheimrath und seine Frau, die sich nicht zu sorgen brauchen! Und der Gedanke: Wenn sie dich mitnähmen, da gingst du gleich mit, stieg ihr auch herauf, und waren also der Geheimrath und die Apollonia so gar nicht weit von einander.


Die Zeit neigte sich zum Abschiede, der Urlaub war bis zur letzten Woche abgelaufen. Alle sahen so braungebrannt und frisch aus – und doch war über den Geheimrath schon die Unruhe gekommen. Ein großer Brief aus der Residenz machte ihm allerhand zu schaffen, und der Boden fing an, nach der fünften Woche unter seinen Füßen zu brennen. Im Geiste sah er schon die aufgestapelten Aktenbündel, die sich von Woche zu Woche still zu einander gesellt – ihm selbst war die Arbeit zum Bedürfniß geworden. So fing er denn wieder mit dem »Senkblei« an, das wir oben bereits in seiner Bedeutung erörtert haben. Und die Frau begriff sofort. Aber auch die »Apolloniafrage« war zwischen den Ehegatten verhandelt worden. Die Kinder hatten sie selbst an die Eltern gerichtet und das Lob des Mädchens in allen Tonarten gesungen, das so flink und gut wäre, gar nicht wie ihre faule Grethe. Die Frau hatte zwar einige Bedenken und sagte so etwas wie, »daß man Edelweiß und Alpenrose nur im Gebirge aufwachsen sehe«, aber nicht in der Ebene, und was dergleichen praktische Andeutungen mehr waren. Aber sie wolle nichts dagegen haben, wenn das Mädchen und ihre Eltern einverstanden seien. So wurde denn beim Bettmachen leise angeklopft bei dem Mädchen, und die sagte gleich ja – nur müßte es auch ihren Eltern recht sein. Die wohnten zwei Stunden weg, im Gebirge. Es ward ihr der Vorschlag gemacht, sie sollte Nachmittags mitfahren in der eleganten Equipage, und die Geheimraths wollten selbst mit den Eltern sprechen. Das war ihr nun besonders lieb, so angefahren zu kommen, und das Herz klopfte ihr schon bei dem Gedanken, was Vater und Mutter für Augen dabei machen würden. Also gleich am Nachmittag saß schon alles richtig im Wagen. Die Apollonia hatte die Kleinste auf dem Schooß, die ihr Aermchen um sie schlug, die Jungens saßen lustig auf dem Bock; – so ging's an einem herrlichen Herbsttage hinüber. Die Eltern waren zwar überrascht und etwas bedenklich, ihr Kind so weit weg zu geben, aber als die Frau Geheimrath sie so herzlich anredete und sagte, sie wolle sorgen für das Mädchen, wie für ihr eigenes Kind, und sie auch noch von dem Lohn hörten, den ihre Apollonia bekommen sollte, und als der Herr Geheimrath sogar gleich als Haftgeld einen Goldfuchs auf dem armseligen Tisch springen ließ, der noch nie solch Wild gesehen – da war's den Leuten doch recht, daß sie ein Kind weniger »im Futter« hatten. Die Habseligkeiten waren bald hinter der Kutsche aufgepackt, denn viel mehr, als sie auf dem Leibe hatte, besaß die Apollonia außer ihrem Sonntagsstaat nicht. Die armen Leute küßten ihr Kind und vermahnten sie, brav zu bleiben, denn sie hatten von der Stadt, trotz ihres stillen Winkels, so allerlei gehört, was sie bedenklich machte. – Die Apollonia grüßte noch einmal die stille Hütte und sah, wie die alte Mutter sich mit dem Schürzenzipfel die Thränen wischte. Dann verschwand der Wagen hinter den Bäumen.


Der Abschied ging glücklich von statten. – Der Küchenchef hatte zwar seine stillen Bedenken bei der Sache, nur der Oberkellner gratulirte dem Mädchen; »Fräulein Emma« konnte aber weniger begreifen, daß man einen solchen »Bauernbengel« engagirte, und äußerte auch: der Geheimrath müßte doch eigentlich nicht zu den »hochfeinen Leuten« gehören, da er solch eine ungebildete Person mitnähme. Aber der Geheimrath hatte an seiner gebildeten faulen Grethe schon genug. Der Schnellzug flog dahin; wie gern wäre die Apollonia ausgestiegen und hätte sich die Städte angesehen, deren Namen sie nur gehört hatte. Bis Frankfurt a. M. reichte ihre Geographie, dann ward's ihr wirr im Kopfe, als so eine Stadt nach der andern auftauchte, sie konnte gar nicht glauben, daß es soviel Menschen auf der Welt gäbe, und ein gewisses Bangen überkam sie, als die Sache gar kein Ende nahm und immer noch kein Aussteigen. Als nun gar die zweite Nacht hereinbrach, so um Halle herum, da wollte das Heimweh kommen, aber sie verbiß es sich tapfer. Endlich Berlin – der hellerleuchtete Bahnhof, die himmelvielen Menschen, die aus- und einstiegen, die lange Fahrt durch die hellen Straßen in der dunklen Nacht und die drei hohen Treppen hinauf und der Hängeboden über der Küche – das alles that seine Wirkung. Wie anders war's im stillen Wald, in ihrer Eltern Haus, wo man so von ebener Erde hineinging. Aber die Frau Geheimrath war ja so freundlich und sagte: »Nun schlaf recht gut unter unserm Dache« – aber von Schlaf war nicht viel zu finden. Die Eindrücke der Fahrt, der Stadt, überwogen die Müdigkeit, und sie lag stundenlang mit hellen Augen da und hatte Zeit zum Nachdenken; als sie aber gar nichts mehr denken konnte, worüber denken, kam der barmherzige Schlummer, der Freund der Betrübten, und wiegte sie ein. Frühmorgens kam die Geheimräthin zur Küche, zeigte ihr die Stuben, und was alles drin zu machen, und stellte ihr ihre »Collegin« vor. Die »Köchin« war eine richtige Ostpreußin; die beiden wußten nur, daß sie Menschen waren, aber weiter verstanden sie von einander nichts. Der Ostpreuße schüttelte sich vor Lachen, als die Apollonia anfing zu sprechen, und meinte, das sei wohl »gar kein Deutsch nicht«. Und dasselbe Compliment hätte die Apollonia auch ihr machen können. Schließlich lachten sie beide, und das verstanden sie alle zwei. Der erste Tag ging noch mit Auspacken hin, die Kinder zeigten dem Mädchen alle ihre Spielsachen, nur wunderte sie sich, daß die Zimmer alle so klein und so voll waren, daß man sich kaum darin herumdrehen konnte. Als sie das Fenster öffnete, sah sie gegenüber gerade so große Häuser, nirgends einen Baum noch Strauch, sondern nur so ein bißchen Himmel. Ach, bei ihr zu Haus, da war der Himmel so groß und weit, da konnte man hinunterschauen, stundenweit hinüber ins Elsaß und die blauen Berge, und hier war's mit dem Sehen aus. Da kam ihr der Gedanke, so müßte es etwa im Gefängnis sein, wo man nirgends hinausgucken könne. Die Ostpreußin rief sie aus ihren Träumen, sie solle sich schnell fertig machen und das »gnädige Fräulein« begleiten. »Was ischt dens,« fragte sie. »Nun, Sie sind doch sechs Wochen mit ihr zusammen gewesen, das ist die ›kluge Else‹.« »Ach so,« sagte Apollonia. Das Kind kam, und zutraulich faßte die Apollonia ihre Hand, wie sie's gewöhnt war, die mit feinen Handschuhen überzogen war. »Du brauchst mich nicht zu führen, Apollonia, aber Du mußt immer einen Schritt hinter mir bleiben auf der Straße.« Da wußte sie auch nicht warum. Und nun trippelte das Fräulein voran und zeigte dem Mädchen den Weg zur Schule, damit sie am nächsten Morgen sich wieder zurückfände, wenn sie das »gnädige Fräulein« begleitete. Glücklicher Weise merkte sie sich's: »zweimal rechts und dreimal links«, und sagte sich das mehrmals vor, wie sie ihre Liederverse einst auswendig gelernt hatte. Alle Morgen halb Acht mußte sie das Fräulein zur Schule begleiten. Es war ihr merkwürdig; denn sie dachte, das Fräulein weiß doch den Weg besser als du, und das drückte sie so lange, bis sie die Geheimräthin fragte: »Warum das Fräulein begleitet sein müßte«. »Ja, liebes Kind,« sagte diese, »sieh, Morgens früh geht's nicht an, so ein Mädchen allein gehen zu lassen, da ist's doch nicht sicher auf dem weiten Weg, zumal es noch durch den Thiergarten geht.« »Aber, da ist's ja gerade so schön im Wald.« – »Ja, liebes Kind, das ist bei Euch so, da thut Einem Niemand Etwas, aber hier muß man sich doch vor den Menschen hüten.« – »Ist denn das immer so?« – »Ja, am Abend auch darf sie nicht allein fort.« – »Aber, das ist doch arg, nicht wahr, bei uns droben im Schwarzwald hat sie hinlaufen können, wo sie gewollt hat – da ist ja das Fräulein eigentlich gefangen.« – »Ja, da hast Du Recht, sieh, das sind wir auch. Darum thut's uns so wohl bei Euch im Schwarzwald in der Freiheit.« – Und der Apollonia fiel mit einem Male der Küchenchef so von ungefähr ein.


Der Geheimrath mußte früh Morgens um 6 Uhr seinen Kaffee haben, wogegen sich der Ostpreuße schon mehr als einmal opponirt hatte. »Gelt, Apollonia,« sagte er, »Du machst mir von jetzt an den Kaffee – Du bist ja das Frühaufstehen gewohnt.« »Ja, recht gern,« antwortete sie – »aber im Schwarzwald haben Sie doch immer erst so gut ausgeschlafen und sind erst um 9 Uhr zum Kaffee gekommen.« »Ja, liebes Kind – da hast Du Recht, aber hier geht's nicht, ich muß arbeiten.« »Aber Sie sind doch erst so spät ins Bett, es muß wohl Eins gewesen sein – denn ich hab's noch schlagen hören, wie Sie gerade die Thür zugemacht haben.« Der Geheimrath lachte und sagte: »Ja, siehst Du, da droben war's halt gut; da ruhte man sich aus, aber paß mal auf, wie's heut geht, heut ist der erste Arbeitstag.« – Ja, er hatte Recht – das war ein wahrer Taubenschlag, die »himmelvielen« Menschen – was wollen die nur alle? Es war seine Sprechstunde von Neun bis Zwölf. Da dachte die Apollonia: jetzt geht's doch zum Mittagessen – aber da war nichts davon zu spüren. Sie sah, wie die Frau Geheimräthin in ein Papier ein Stück Butterbrot mit etwas Fleisch wickelte – und ihm mitgab. Und sie dachte: »Ist das sein ganzes Essen?« – Die Jungen kamen aus der Schule, und der eine legte sich gleich hin aufs Sofa und schlief ein, das war der achtjährige. Den hatte der erste Schulgang wieder einmal angegriffen, und er hatte sein altes Kopfweh bekommen. »Laß ihn nur ruhig schlafen,« sagte die Geheimräthin, »sonst wird er wieder krank.« »Ja, aber der Fritz war doch so gesund wie ein Fisch – droben im Schwarzwald hat er nie geschlafen.« »Das glaube ich wohl,« sagte sie, »dafür war aber auch keine Schule. Er ist aber ein zartes Kind vom Scharlach her, und seit dieser Zeit kriegt er so sein Kopfweh, daß nichts mit ihm aufzustellen ist.« Und der Apollonia kamen fast die Thränen in die Augen, denn das hätte sie nie von dem munteren Burschen geglaubt. – Die Kinder aßen allein zu Mittag, da sie Nachmittags wieder zur Schule mußten. »Ißt denn Euer Vater nie bei Euch Mittags?« »Nein, nur am Sonntag, und auch da nicht immer,« sagten sie im Chore. »Wann spielt denn der Vater wieder mit Euch Kegel?« Da lachten sie alle. »Vater! o der spielt nie hier Kegel mit uns.« »Wann geht er denn spaziren mit Euch und erzählt Euch wieder so schöne Geschichten?« »Ach, Vater geht nie mit uns, ja an Ostern einmal« »Ja, warum denn nicht?« »Ha, weil Vater keine Zeit hat. Gieb Acht, um 6 Uhr kommt Vater zu Hause, dann ißt er mit Mama.« Richtig – um 6 Uhr war er da – die Kinder sagten ihm guten Abend und gingen auf ihre Stube, denn sie hatten ihre Aufgaben zu machen. »Müßt Ihr denn auch noch lernen so spät?« »Ja, da sieh mal her, all das muß ich noch lernen und schreiben, sechs Seiten,« sagte der ältere, Hans. »Aber ich erst!« sagte die Else, »ich werde gar nicht fertig.« Es war 9 Uhr, und die Mutter mahnte zum zu Bett gehen Aber das gab ein Geheul. Nur der Kleinere suchte sein Lager. Aber die beiden Anderen mußten erst überhört werden, und dann kam der Aufsatz der Else. Der wollte aber trotz allen Federkauens kein Gedanke kommen. Mitleidig stand die Apollonia schon eine halbe Stunde mit dem Licht in der Hand, um sie zu begleiten, aber das Kind weinte und konnte für heute nichts zusammenkriegen. Endlich ging sie; aber beim Auskleiden schlief sie schon halb ein. Derweilen hatte der Geheimrath sich Thee machen lassen und saß über den »himmelvielen« Büchern, als die Apollonia hereintrat. »Gehen Sie noch nicht ins Bett, 's ist ja schon 10 Uhr, und im Schwarzwald sind Sie ja immer schon um 9 Uhr so müd gewesen?« »Ja, liebes Kind, da hast Du wieder Recht, aber das sind halt andere Zeiten, morgen muß das alles geschafft sein.« »Das wollen Sie alles lesen, was da herumliegt? Da braucht man ja ein Jahr dazu.« »Ja, Du freilich,« seufzte der Geheimrath im Stillen, den es auch sehnte nach Schlaf. Kopfschüttelnd ging das Mädchen weg. – Das war der erste Tag – und so ging's alle Tage, außer Sonntag. Da schliefen die Kinder ein wenig länger, und wurde um 2 Uhr gegessen. Aber der Geheimrath kam kaum einmal in die Kirche; das that seine Frau für ihn; weil er meinte, da am besten arbeiten zu können, und ihn Niemand störe. – Der Apollonia war aber nach Wochen, als ob sie auch nicht mehr so früh aufstehen könnte wie früher, und es lag ihr wie Blei im Rücken des Morgens. Aber der Geheimrath dauerte sie, der wollte doch seinen Kaffee haben. Alle 14 Tage konnte sie ausgehen, das war ihr auch neu; denn sie hatte alle Tage eigentlich frei zu Hause – aber jedenfalls alle Sonntage. Freilich, solange sie in dem Hotel war, hatte sie auch keinen Sonntag, aber das war doch nur ein paar kurze Monate. Und wo sollte sie hin, in der großen Stadt? Zwar die Ostpreußin hatte ihr allerhand schöne Dinge erzählt vom Theater und Tanzlokal. Sie ging an ihrem Sonntag, wie ein Pfau geschmückt und noch viel schöner angezogen als die Madam, und kam spät nach Hause, so daß die Geheimräthin sie öfters zankte. Deswegen blieb die Apollonia am liebsten daheim und schrieb an ihre Eltern, wozu sie freilich für zwei Seiten einen ganzen Nachmittag brauchte, bis sie alles richtig aufs Papier gemalt hatte. Nach etlichen Wochen brach der Winter an, da hieß es, die Kohlen aus der Tiefe schleppen die drei Treppen herauf, das war auch so anders und recht mühselig zu nennen. Aber mehr noch war das, was jetzt anfing: die Gesellschaften. War es doch in dem Ministerium des Geheimraths Stil und Regel, daß alle Räthe nach einander »ihre« Gesellschaft gaben, um damit ihren »Pflichten« nachzukommen. Zuerst wurden Geheimraths geladen. Und dann hieß es: »Wie Du mir, so ich Dir.« Da ging zuvor ein Schneidern los, und die Frau Geheimräthin seufzte über all das viele Geld für die Kleider. Wieder konnte die Apollonia nicht begreifen, warum man denn alle paar Tage ein anderes Kleid haben müßte, das eine wäre doch so schön und noch ganz sauber. Trug sie doch auch ihr Staatskleid jahraus, jahrein und änderte nicht einen Faden groß daran. Aber wieder ward ihr der Bescheid: »Das ist eben anders, als droben im Schwarzwald.« »Sieh, wenn ich immer in demselben Kleide komme, oder zu Jedem ohne Unterschied, dann denken die Leute, ich achte sie nicht, oder achtete Einen wie den Andern, und da muß man sich doch sehr in Acht nehmen.« Das leuchtete dem Mädchen aber noch weniger ein, daß die Leute das übel nehmen könnten, wenn Jemand im selben Kleid käme.

Die Kinder bekamen nun die Eltern noch weniger zu sehen, denn auch das Essen am Abend konnte man sich ja schenken. Die Geheimräthin konnte die Kinder nicht mehr zu Bett legen, außer dem Kleinsten – aber, was das Aergste war, auch ihrer klugen Else nicht mehr helfen an den Aufsätzen. Die Kinder waren jetzt erst recht nicht zu Bett zu kriegen, und der kleine Fritz, den sein Kopfweh alle paar Tage überfiel, bat oft so flehentlich: »Ach, Mama, bleib doch bei uns –« und der Geheimräthin standen manchmal die dicken Thränen in den Augen, und die Apollonia konnte wiederum nicht begreifen, warum man denn in eine Gesellschaft gehe, wenn man dabei weinen müßte. Sie hatte immer gedacht, eine Gesellschaft sei etwas Fröhliches. Da kam die Zeit der Weihnacht; die Gesellschaften wurden etwas weniger, aber dafür war die Frau Geheimrath fast alle Tage aus, denn sie mußte für verschiedene Vereine Bazare und Konzerte veranstalten helfen, weil die Leute nach Weihnachten nicht mehr in der Schenklaune waren, oder kein Geld mehr hatten. Da war sie denn oft ganze Tage fort, und die Kinder sahen sie nicht mal mehr bei ihrem Essen. Und dann kamen die Einkäufe für das eigene Haus, und sie wurde immer blässer und elender, so daß sie am Weihnachtsabend nur eine Stunde aufstehen konnte und unterm Christbaum mit ihren Kindern ein Lied singen und dann sich wieder legen mußte. Die Frohsten waren die Kinder dabei, denn auch der Geheimrath war so müde, daß es zu keiner rechten Weihnachtsfreude kommen wollte. Und wieder dachte die Apollonia, wie anders es bei ihr zu Hause wäre, – da wär' alles voll Christbäume gestanden rings umher, und der Schnee und die Eiszacken hätten daran gefunkelt wie die Lichter, und früh Morgens seien sie über den knisternden Schnee in die Christmette gegangen und hätten Weihnachtslieder dort gesungen. Und wenn sie auch nichts geschenkt bekommen hätte, als ein paar große Lebkuchenherzen mit allerhand Zuckersand darauf gestreut, so sei's eben doch schöner gewesen als jetzt. Und ihre Herrschaft konnte sie doch so herzlich dauern, um so mehr, als der Ostpreuße den ganzen Abend verstimmt war über dem Geschenk, was sie bekommen. Denn sie hatte sich auf Allerhand gespitzt gehabt. Die Apollonia selbst staunte über die vielen Sachen, die ihr die Frau Geheimrath geschenkt, und das funkelnagelneue Geld, was der Geheimrath extra aus der Reichsbank sich für sie hatte einwechseln lassen. Und doch hätte sie alles gern hergegeben, wenn nur ihre liebe Frau am Abend dagewesen wär. Die stand aber so bald nicht wieder auf; denn das Fieber hatte sie gepackt, das auch fast alle Jahre einmal über sie kam. So hatte sie denn die Kranke zu pflegen und die Jüngste ganz zu versorgen bei Tag und Nacht. Erst lange nach Neujahr erholte sich die Geheimräthin wieder. Er aber hatte während dieser Zeit böse Tage. Denn die Köchin machte, was sie wollte, und manchmal bekam er sein Essen kalt, oder so wenig, daß er kaum satt wurde, so daß auch er vom Fleische fiel. Ende Januar mußten sie aber selbst ihre große Gesellschaft halten, so schwach die Frau noch war. Sie schleppte sich heraus und ließ einen Lohndiener kommen, der diesmal alles besorgen mußte. Da sah denn die Apollonia ihr blaues Wunder – wie alles in dem Hause umgekrempelt wurde und die Kinder aus ihren Schlafzimmern heraus mußten, weil man den Raum brauchte. Sie wurden bei einer Tante während dieser Tage in Kost und Logis gegeben. Und nun kamen erst recht die »himmelvielen Leute«, wie Apollonia sich stets ausdrückte. Sie wußte nicht, daß sie selbst in ihrer Schwarzwälder Sonntagstracht mit ihren zwei langen Zöpfen das Haupteffektstück des Geheimraths war. Der Ostpreuße hat sie graulich genug gemacht, wie es ihr wohl gehen werde beim Serviren. Umsomehr aber hatte sie der Lohndiener einstudirt und war mit ihren Kunstleistungen beim Probeserviren zufrieden. Die Gesellschaft dauerte bis spät nach Mitternacht. Sie selbst war todtmüde zum Umsinken, aber noch mehr sah sie's ihrer Geheimräthin an, wie die sich immer wieder aufraffte, wenn ihr die Augen zufallen wollten. Als sie die Leute hinunterbegleitete, das Haus aufzuschließen, drückten sie ihr alle Geld in die Hand, so daß sie eine ganze Schürze voll hatte. Das brachte sie Morgens der Geheimräthin ans Bett und sagte: »Das haben mir alles die Leute gegeben, nicht wahr, die haben ihr Essen bezahlt, und das gehört doch alles Ihnen, denn das Essen kostet gewiß noch viel mehr?« So elendig es der Geheimräthin zu Muthe war – lachen mußte sie doch, als sie sagte: »Nein, das gehört ja Dir und der Köchin, und das mußt du ehrlich mit ihr theilen. »Das alles?« fragte die Apollonia. »Das will ich aber meinen Eltern schicken und auch das neue Silbergeld. Die werden einmal gucken!« Derweilen aber war der Fritz so elendig geworden, daß er gar nicht mehr in die Schule konnte. Und auch das Kleinste, das sonst so kugelrund war, wurde immer schwächlicher. Auch der Geheimrath konnte wenig mehr schlafen. Und als es den Ostern zuging, da wurde er immer kribbeliger und zankte bald seine Frau, bald seine Kinder, und selbst auch die Apollonia bekam etwas ab, weil er behauptete, sie habe ihm etwas verkramt. Da weinte sie und klagte ihr Leid der Geheimräthin. Die aber tröstete sie und sagte: »Ach sieh, der arme Mann ist eben krank und kann nicht mehr schlafen, und da mußt Du's ihm nicht übel nehmen, wenn er einmal ärgerlich ist.« Dazu kam noch als besonderes Ostergeschenk, daß der Aelteste nicht versetzt worden war – und damit die Frau Geheimrath auch das Ihrige hätte, so hatte ihr der Ostpreuße gekündigt: »Sie sei die Schinderei satt und wolle nicht mehr in einem Hause dienen, wo Kinder wären«. So war denn viel Roth auf einmal, und die sonst so lebensfrohe Frau weinte viel. Sie mußte wieder ein neues Mädchen anlernen, die gar nichts verstand, aber die Apollonia half tapfer an allen Ecken und Enden. »Ach gelt. Du verläßt mich nicht in meinem Kreuz, Du bist noch mein einziger Trost – ich habe schon mit dem Geheimrath gesprochen, daß wir Dir mehr Lohn geben wollen, wenn Du bleibst; denn Deine Eltern haben Dich ja nur bis zum Juli hergegeben.« Daran hatte das gute Mädchen gar nicht mehr gedacht, und jetzt fiel ihr's auf einmal aufs Herz, daß sie's könnte besser haben. Aber das war nur ein kurzer Kampf; soviel war ihr klar: sie hatte es noch viel besser, als ihre Herrschaft, die wirklich wie Eltern zu ihr waren. Und jetzt wollte sie sie am allerwenigsten verlassen. Es war ihr eigentlich so wohl ums Herz geworden bei dem Gedanken, daß sie etwas leiste und gelte, und darum sagte sie: »Ich bleibe gern bei Ihnen, wenn Sie's nur den Eltern schreiben wollen.« Die Geheimräthin reichte ihr die Hand und sagte ihr: »Nun, das können wir mit Deinen lieben Eltern schon mündlich ausmachen, denn sieh, Apollonia, heute Morgen war der Sanitätsrath da und hat gesagt, wir müßten wegen meinem armen Mann und wegen dem Fritz und auch wegen mir wieder in den Schwarzwald. In sechs Wochen sitzen wir wieder auf der Eisenbahn, und Du fährst mit. Das andere Mädchen schicken wir unterdessen in ihre Heimath.« Da wurde sie ganz dunkelroth vor Freude, und sie zählte jeden Tag, umsomehr als der Geheimrath manche Tage schon nicht mehr aufstehen konnte, und die Geheimräthin so mager wurde, daß ihr alle Kleider am Leibe herumhingen; hatte doch das Kleinste die Masern und schwebte Tage lang zwischen Leben und Tod. Nur der Aelteste und die Else waren auf den Beinen. Der Junge war aber dickfellig und ärgerte den Vater und seine Lehrer, und das gnädige Fräulein Else gab der Mutter oft unfeine Reden, so daß es der Apollonia manchmal in der Hand zuckte, ihr ein großes Pflaster auf den Mund zu legen.

So kamen denn bald die Tage des Juli heran. Die alte Prozedur begann, und das längst bekannte: »Alles richtig im Senkblei?« tönte wieder von des Geheimraths Lippen; der alte Familienschlummer im Eisenbahncoupé wurde wieder aufgeführt wie ehemals, und die Apollonia schlief auch ununterbrochen den Schlaf des Gerechten von Berlin bis Frankfurt. Der Wagen kroch wieder den Berg hinauf, die alten Stuben wurden wieder eingenommen. Nach acht Tagen kannte man den Geheimrath nicht mehr, und auch die Wangen seiner Eheliebsten fingen wieder an, sich zu färben. Der Fritz hatte sein Kopfweh in Berlin gelassen und der Andere seine Dickfelligkeit, und das gnädige Fräulein ließ sich wieder gern an der Hand nehmen oder ging mutterseelenallein im Walde herum. Punkt Neun ging's ins Bett. Als aber am Abend wieder Küchensoiree beim Chef begann, und der Oberkellner das alte Lied unter noch größerem Mondschein als voriges Jahr begann, – von Tagedieben, von Schlafratten, und auch Fräulein Emma wieder von ihrer Weisheit etwas zum Besten gab, da faßte sich die Apollonia ein Herz und sagte: »Davon seid mir still, daß das Faulenzer sind. Das weiß ich besser. Wenn Ihr wüßtet, was die für ein Leben führen müssen in der Stadt, Ihr thät's ihnen wahrhaftig gönnen, daß sie den ganzen Tag die paar Wochen lang unter den Tannen liegen und in den blauen Himmel gucken. Und Du, Jean, Du thätst dem Geheimrath auch sein bißchen Affenthaler gönnen, – denn was der Geheimrath zu Hause trinkt, – das schmeckt mehr nach Essig als nach Wein. Ja, 's mögen meinethalb schon Manche drunter sein, die es nicht brauchen da oben, aber soviel kann ich Euch sagen: meine Herrschaft, das sind keine Tagediebe. Und jetzt gut Nacht! Mir thut auch der Buckel weh, und morgen leg' ich mich auch unter die allergrößte Tanne und schlaf mal meinen ordentlichen G'satz!« (Teil). – Auf acht Tage durfte sie zu ihren Eltern, denen sie viel erzählte. Aber so schön das auch war, sie fühlte doch, daß sie keine rechte Arbeit hatte. Am Geheimrath und seiner Frau hatte sie gesehen, daß das Leben, wenn es köstlich gewesen, Dienen, Mühe und Arbeit sei, und daß es in der Welt ein Kreuz gibt auch bei den Reichen, das Niemand ahnt, und nicht alle Sommerfrischler Faulenzer sind.


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