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Sebaldus Nothanker.

I.

Die Geschichte unseres Sebaldus beginnt da, wo die Geschichte anderer sterblicher Menschen aufhört: nämlich mit einem Grabstein. Das ist jedenfalls unter allen Steinen, die dem Menschen nachgeworfen werden, der beste; denn er trifft ihn nicht mehr, und selbst die Grabschrift, die auf dem Stein steht, trifft ihn zuweilen nicht. Wenn es z. B. heißt: »Hier ruht unser unvergeßlicher Vater«, aber nie ist über sein Grab eine liebende Hand gekommen, oder das Wort »Hier ruht« überhaupt, wobei oft gerade das Gegentheil wahr ist, oder hat etwa der reiche Mann »geruht«, als er begraben ward? Nirgends wird mehr gelogen, als auf der Stätte, wo man am wahrsten sein sollte: auf dem Kirchhof. Gelogen mit Blumen, die man im Leben nicht gestreut; mit Thränen, die man dem Andern nicht ausgepreßt, mit Leichenreden, die man dem Lebenden nicht gehalten. So war es aber nicht an jenem Grabstein. Um ihn standen zehn Menschen in herzlicher Trauer; sie selbst waren ein lebendiger Immortellenkranz, der sich auf das Grab niederlegte. Stumm standen sie eine Weile und schauten auf den Stein, der das Beste deckte, was sie im Leben besessen: ihren Vater. Es ist etwas Heiliges um solch Schweigen, wenn es kein Schweigen der Verbitterung ist; etwas Heiliges um diesen langen, thränenfeuchten Blick auf das Grab seiner Habe.

Dann trat der Aelteste aus dem Kreise, im geistlichen Habit seiner Zeit, an den Leichenstein und legte auf ihn, als auf eine Kanzel, seine beiden Arme, faltete die Hände und begann!

»Ihr wißt, theure Geschwister, daß der niedere Grabhügel der höchste Berg der Welt ist, von welchem man die weiteste Aussicht hat. Man sieht von ihm zurück in eine lange Vergangenheit, und hinaus in eine noch längere Zukunft. Rückwärts auf alle Stationen des Lebens mit ihrem Kampf und Mühsal darin; aber von dieser Höhe gesehen, liegen sie klein zu unseren Füßen, die uns so groß gedünkt. Der Sonnenstrahl der Erinnerung trifft sie, und sie ragen hervor aus der Ferne, wie beleuchtete Kirchthürme. Wir schauen vorwärts in die Zukunft, wie in eine vom Nebel umhüllte Alpengegend. Aber zu Zeiten reißt der Nebelschleier für einen Augenblick, und wir sehen die Bergspitzen leuchten im Morgenroth, eine ganze Bergkette steht vor dem entzückten Auge – der Schleier zieht sich wieder zu. Aber wir sind zufrieden, daß wir die Heimath gesehen. » Plus ultra«, »mehr jenseits«, sagen wir mit jenem deutschen Kaiser, in dessen Reiche die Sonne nicht unterging, und der sich zu St. Just dreimal am Tage in sein ihm einzig übrig gebliebenes Territorium niederlegte: in seinen Sarg. Das sage ich Euch, damit Ihr nicht in Trauer versinket am Ort der Thränen, und an der Stätte des Todes mit Gedanken des Lebens stehet. Wir schließen unsern theuern Todten die Augen als letzten Liebesdienst, sie erwidern ihn, indem sie uns die Augen öffnen. Unter diesem grünen Rasen schläft unser treuer Vater, einen treueren gab es nicht. Man wird uns dies Zeugnis nicht übel deuten, möchte jedes Kind es von dem seinigen sagen. Ihr kanntet ihn, den Mann mit der kleinen, geringen Stelle und Stellung, aber mit dem großen, weiten Herzen und hellen Auge, auf den das Wort Hiobs, des geprüften, paßt: »Ich errettete den Armen, der da schrie, und den Waisen, der keinen Helfer hatte. Der Segen des, der verderben sollte, kam über mich, und ich erfreute das Herz der Wittwen. Gerechtigkeit war mein Kleid, das ich anzog, wie einen Rock. Ich war des Blinden Auge, des Lahmen Fuß. Ich war ein Vater der Armen, und wes Sache ich nicht wußte, erforschte ich, ich tröstete, die Leid trugen.« Solches alles habt Ihr an unserm Vater gesehen. Ihr erinnert Euch auch, wie dies liebe Vaterherz uns von seinen Vorfahren erzählt hat, die im Frankenlande lebten, deren Schutzpatron Sanct Sebaldus war, der in Nürnberg im silbernen Schrein schläft, und bei dem die zwölf heiligen Apostel die Todtenwache halten. Daß der Vater aber mit Zunamen Nothanker hieß, hat seinen guten Grund darin, daß unsere Vorfahren am Main ihres Zeichens Schiffer und Fährleute gewesen, die zu jeder Stunde der Nacht, zu jeder Jahreszeit, bei Hochfluth und Eisgang ihres Lebens nicht geschont, noch ihrer Ruhe und Bequemlichkeit geachtet, sondern willig und gern, da Niemand helfen konnte, noch mochte, sich hergaben. Daher man spottweise sie die »Nothanker« nannte. Aber der Welt Spott ist Gnade bei Gott. Das Geschlecht ist zerstreut in alle Winde, aber das Wappen führen sie alle, das der ehrenfeste Rath zu Würzburg den Vorfahren als Lohn gegeben: ein Schiff mit gebrochenem Mast und Segel und zerrissenem Anker, das durch den Nothanker in den Wogen gehalten wird. Das sei zum bleibenden Gedächtniß auf die Geschlechter vererbt, daß sie auch die Tugenden erben, dieweil ein Kind darauf nicht pochen darf, edle Vorfahren zu haben, so es selbst nicht edel ist. Denn, was hilft es, so Einer schief und bucklig ist, und seine Mutter rühmt, daß sie schlank wie eine Tanne gewesen, und ein einfältiger Sohn sich brüstet, daß sein Vater im Rathe gesessen? Dieser Ruhm ist nicht fein. Darum gedenket des letzten Wortes des treuen Vaterherzens, da er zu uns sprach: »Gold und Silber habe ich Euch nicht zurückzulassen, da graben die Diebe danach, noch Kleider und Hausrath, den verzehren Rost und Motten. Aber ein Besseres habe ich für Euch deponirt im himmlischen Schatzhaus: das ist der Segen, den Gott hat auf alle Arbeit und alles Gebet gelegt, das sind die Gaben der Armuth, die ich geben konnte, und mich des kupfernen Scherfleins der Wittwe getrösten, das der Silberblick des himmlischen Münzwardein zu seinem so reichen Kapital gemacht. Darum, und das ist mein letzter Wille und Vermächtniß an Euch: Schonet Eurer selber nicht, um des Andern willen, und gebt gern Zeit und Habe, Rath und Wort, Gang und Bitte für des Nächsten Dienst, und gedenket des Wortes, daß Leben Liebe ist, und daß, wer sein Leben behalten will, solches verlieren wird, und wer es verliert, es gewinnen wird, hier zeitlich und dort ewiglich.«

Damit schloß er die Rede, und die Geschwister, sieben Brüder und drei Schwestern, reichten sich die Hand, und Jeder gelobte, treulich zu halten, was des Vaters letzter Wille war. Auf dem Grabstein aber stand nur: »Hier ruht im Frieden Sebaldus Nothanker. Er war, was er hieß

Der Magister, der die Rede gethan, nahm die unversorgte, jüngste Schwester Ursula und den jüngsten Bruder Erasmus an der Hand und umarmte die Geschwister zum Abschied. Er wollte nach Thüringen ziehn, wo ihm eine Stelle zugesagt war. Dann gingen sie auseinander und zerstreuten sich durch die Welt hin, gaben sich aber das Versprechen, so anders es möglich, alle zehn Jahre sich zu treffen an des Vaters Grab und treulich in der Noth zusammenzuhalten. Das alles war ums Jahr 1687, da allerhand böse Zeit im Lande war.

Wir lassen den Faden der Geschichte der Geschwister einstweilen sinken, das Buch selbst berührt auch kurz den Lebensgang derselben und meldet nur, daß sie in ihrem Alter noch viel treuer zusammengehalten, als in ihrer Jugend. Sie hatten's doch erfahren, daß Blut ein viel dickerer Saft sei, als Wasser, und ein Mensch in seinem Alter wieder an seinen Anfang mit seiner Erinnerung und seiner Liebe kehre, und daß die, die unter einem Herzen gelegen und die Füße unter einen Tisch einst gesteckt, schließlich doch auf einander gewiesen wären. Freilich sei das nicht allenthalben so der Fall, wie hier in der Familie des Sebaldus Nothanker. Denn Viele helfen zehntausendmal lieber wildfremden Leuten, als ihren eigenen, dieweil man davon keinen absonderlichen Ruhm und Ehre hat. Aber der Nothanker besondere Gabe war, stilles Leid in der Familie wortlos zu heilen. Man wußte nicht, woher die Hülfe kam, und drum rieth immer Einer auf den Andern: »Das kann nur Erasmus, das kann nur Juditha, das kann nur Sebaldus sein.« Wir eilen denn zu dem Magister, dem Erstgeborenen, der mit den beiden Geschwistern zur Rechten und Linken über das Fichtelgebirge hinuntersteigt ins Thüringer Land. Einst war er leichten Herzens ausgezogen von der Heimath und aus dem Elternhause, da er als Jüngling gen Leipzig zur Hochschule ging, und mit dem Ränzel auf dem Rücken zu Fuß gewandert.

Seine ganze Baarschaft bestand damals aus ganzen zehn Reichsthalern, wie sie einst in der Reichsmünze auf dem Trifels geschlagen wurden. Die hatte das gute Mutterherz still zusammengespart und ihm in den Rock genäht, jeden apart für sich. Aber was sind nicht zehn Thaler für ein Kapital, wenn sie in der Tasche eines sorgenfreien Gemüthes stecken! Unterwegs war er so ungefähr in die Pfarrhäuser gerathen und hatte im besten Latein die Pfarrherren hin und her angeredet, und selbst die Pfarrfrau, die doch nicht auf hohen Schulen gewesen, verstand dieses Latein aus dem Fundament und setzte dem fahrenden Schüler ein geschmelztes Süpplein vor und was sonst die Jahreszeit brachte. Dafür spaltete der Studiosus dem Pfarrherrn kunstgerecht das Holz, so wie er's vom Vater gelernt, setzte sich auch, wo's Kinder gab im Hause, mitten unter sie hinein und leimte ihr Spielzeug. »Denn Kinder Hand ist bald gefüllt und Kindes Thräne bald gestillt.« Das wußte er von seinen Geschwistern, die er als Aeltester alle hatte mit aufziehen helfen. Wie oft hatte er als Scholar sein lateinisch Regelbuch in der Hand und rührte mit der anderen im Breitopf, oder er wiegte den Säugling und sang sich auf selbstgesetzte Weise die lateinischen Regeln vor. In Leipzig quartirte er sich bei dem Blasbalgtreter und Leichenbitter an St. Thomas mit Namen Theobald ein, denn er gedachte: Wer der heiligen Kirche dienen will, muß unten anfangen und so allmählich zur hohen Klerisei aufsteigen, und wer der kleinen Leute kleinen Dienst nicht achtet, ist auch des großen nicht werth. Daß er so schnell den Blasbalgtreter fand, kam daher, daß er an den alten Theobald einen großen Brief seines Vaters hatte. War doch dessen Sohn, der Theobald, einst als Goldschmied auf seiner Wanderschaft in Nürnberg dem alten Sebaldus auf der Herberge bekannt geworden. Da hatte er ihn des öftern mit nach Hause genommen, und die Mutter hatte des goldhaarigen Bürschleins gepflegt, als wäre es ihr eigenes Kind, denn, dachte sie: wärst auch froh, wenn Dein Sebaldus einst auf der hohen Schule ein Mutterherz fände, das seiner pflegte.

Wir müssen abbrechen, wiewohl gerade die Studentenzeit des Sebaldus zu lesen so manchem flotten Bürschlein heutiger Tage recht anständig wäre. Wie oft saß er droben bei den Blasbälgen und half dem engbrüstigen Männlein die Bälge treten, wenn der Wind in der Orgel und die Luft in seiner Brust ihm ausging, und wie manche Abendstunde setzte er sich selbst an die Orgel und sang den beiden Alten mutterseelenallein mit seiner schönen Stimme in der dunklen Kirche vor! Dann hielt er Armenschule, allwo lauter Barfüßler sich einfanden; so manchem zog er den Dorn aus dem Fuße und legte ein Sälblein drauf, ehe er zu doziren anfing. Denn noch tiefer als Horaz und Virgil saß ihm die Ode seiner Mutter:

Weisheit macht die Köpfe voll,
Und auch je zuweilen toll,
Offnes Aug' und flinke Hand
Geht durch's ganze deutsche Land,
Nur nicht Hand und Fuß gespart,
Das ist St. Sebaldus' Art.

Da begab's sich, daß sein alter Hausvater krank ward und den Dienst nicht mehr vor Leibesschwachheit versehen konnte. Und Sebaldus sprach zu ihm: »Gebt Euren Dreispitz her und Eure Perrücke, Euer seidenes Mäntelein und Eure Krause, und laßt mich zu den Todten gehen statt Eurer und ihnen die letzte Ehre erweisen.« Und das ward sein Glück und Segen. Denn da er in eines reichen Kaufherrn Haus gerufen ward, dem sein Weib gestorben, und er so bescheiden und theilnahmsvoll sprach, als wäre seine eigne liebe Mutter ihm gestorben, – da sagte ihm der reiche Herr: »Ihr seid doch nicht der alte Theobald, woher kommt Euch solch Trostwort?«

Da erzählte er denn von Vater und Mutter und seinen Geschwistern, und dem alten Herrn ging das Herz auf, und er hat ihm geholfen, daß er nicht mehr mußte Leichenbitter sein, und setzte ein Sümmlein aus, davon dem alten Theobald ein Adjunkt angeschafft ward. Und als die Zeit kam, da der Studiosus vor der hochwürdigen Fakultät sollte zum Magister promoviren, übernahm der Kaufherr die Kosten sammt dem Schmaus, und die hochgelahrten Herren hätten schier ob solcher Ehre und ob des guten Essens das Examiniren vergessen.

Ein Zug nur aus seiner Magisterzeit, der ihn bezeichnet. Am alten Spittel war ein anderer Magister angestellt, der besser einen Musketier hätte abgeben können, denn einen Theologen, der sollte die Greise und Greisinnen in ihrer Trübsal trösten. Aber das ward ihm blutsauer, und die Leute wollten auch seinen Trost nicht annehmen und murrten weiter fort, denn er selber hatte kein getröstetes Gemüth. Da traf er einmal einen seiner Pflegebefohlenen, einen siebzigjährigen Mann, der im Walde vor Leipzig ein Bündel Holz heimschleppte, sein Stüblein zu heizen. Da machte er sich zu ihm und gedachte, in freiem Feld hast du ihn besser, als wo die vielen bösen Zungen sind im Spittel, und sprach mit ihm von der Ergebung in Gottes Willen, grad wie's im Buch stand. Aber der Alte wollte nichts hören, sondern seufzte nur unter seinem Bündel und klagte Gott und die Welt an. Von diesem Gange kam er heim und traf gerade den Sebaldus und klagte ihm sein Leid über die Verstocktheit des Alten. Da schaute ihm Sebaldus ins Auge, wie nur er einen so anschauen konnte und sagte: »Gelehrter Herr Magister, mich wundert nicht, daß Eure Rede abgeprallt ist wie der Pfeil am Stein, Ihr habt eins nicht gethan.« – »Was denn?« – »Ihr hättet dem Alten mal das Holzbündel erst abnehmen sollen auf Eure jungen Knochen und sagen: ›Gebt mal her, Alter, mir geschieht's nicht sauer‹; und dann hättet Ihr so sachte anfangen können, von allerlei Trost zu reden. Das wundert mich nimmermehr. Wisset Ihr nicht, daß geschrieben steht: ›Und Abraham pflanzte Bäume und predigte den Namen des Herrn‹? Hätte er im heißen Sonnenbrand gepredigt und nicht im kühlen Schatten, da die Pilger sich lagern konnten, ihm hätte Keiner zugehört.« – »Das schickte sich wohl für Abraham, aber nicht für einen Magister der freien Künste und der heiligen Theologie.« – »Dann hat sich's auch nicht geschickt, daß unser Herr und Meister seinen Jüngern die Füße gewaschen und sie getrocknet hat, und der war doch mehr als Ihr und ich,« erwiderte ruhig Sebaldus.

Aus dem allem sieht man, daß Sebaldus wohl vorbereitet heimkehrte zu seinen Eltern und eben recht kam, als seine liebe Mutter todkrank lag. Da hat er sie getröstet und ist nicht gewichen von ihrem Bette, bis sie sanft heimgegangen. Dann that er ihr selbst die Abdankung in der Kirche und redete herzbrechlich davon, wie man eben nur eine Mutter zu besitzen und nur eine zu verlieren habe, und daß keine Liebe sei wie Mutterliebe, die nimmer fordert, sondern immer opfert, die mit den Kleinen klein, mit den Großen groß ist. Daher auch der große Gott, wenn er seine trostreiche Liebe zu den Menschen will preisen, spreche: »Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.« So trafen wir ihn dann an des Vaters Grab, der bald nach der Mutter heimging, »denn«, sagte der alte Sebaldus, »das Herz ist nun fort aus dem Hause, jetzt geht auch das Haupt bald schlafen. Wenn man so im Alter mit einander grau geworden ist, da ist Eins des Andern Stab, daran sich das Herz hinaufrankt; wenn nun die Rebe verwelkt, was soll der Stab noch im Weinberg?«

In der neuen Pfarre, die Sebaldus wiederum dem alten Kaufherrn zu verdanken hatte, der mit dem hochmögenden Patron geredet und ihm herzlichst den Sebaldus empfohlen, als einen, der nicht die Wolle, sondern die Schafe suche, war alles noch recht öde und leer. Die wenigen Habseligkeiten, der alte Schrank, aus dem Vaterhaus, und das Bett, darin sein Vater gestorben, von dem er sich nicht trennen wollte, und ein paar alte Folianten waren alles in dem Hause. Aber das Mägdlein, die Ursula, half tapfer, und Erasmus wußte auch, wieviel es geschlagen, und so rüsteten die Beiden das Haus zu, derweil Sebaldus durch die Gemeinde ging. Da fand er Arbeit genug, und er hat sein Amt treu verwaltet, und was von seinem seligen Vater galt, das konnte auch von ihm gelten: er war der Blinden Auge und der Lahmen Fuß. Sein Losungswort war:

Trägt Dir die Welt nicht Freuden zu,
Wohl Dir, so kannst doch Du erfreun,
Das Leben eilt, so eil' auch Du,
Um Freudensaaten auszustreun.

Und über seiner Studirstube stand das Wort:

»Noth kennt keinen Feierabend.«

Seinen Erasmus brachte er zur hohen Schule, nachdem er ihn selbst unterrichtet; um Ursula warb ein treuer Mann, der sie bald heimführte. Da erst dachte Sebaldus daran, sein eigen Haus zu gründen. Von seiner Hochzeit und der wundersamen Predigt, die ihm gehalten worden, zu reden, führte zu weit, aber das will ich sagen, sie war gut und wahr, und das ist besser als hoch und schön. Sie gab ihm einen kräftigen Hochzeitstrost und eine Aussteuer auf den Weg, die die Diebe nicht stehlen, und Motten und Rost nicht fressen können. Sein Weib war seines Geistes. Sie war das zehnte Kind unter vierzehn Kindern und brachte ihm nichts mit, als ihre dreizehn lebendigen Geschwister und ein wenig Hausrath, aber einen allzeit fröhlichen Sinn, einen klaren Verstand und ein warmes Herz für alles arme Volk und für die Noth ringsum. Aus diesem Hause ging nun wieder ein reicher Stamm hervor in alle Stände hinein, darunter auch Juristen und Aerzte bis in die heutige Zeit, und die einzige Erbschaft war die des alten Sebaldus: » Lebe nicht dir selbst, wenn du leben willst. Das Herz schlägt früher, als der Verstand denkt, darum lasse dem Aelteren das Vorrecht beim Mitsprechen.«

Unter Anderm wird von einem der Nachfahren was Absonderliches berichtet. Er hat sich als einen ächten Nothanker bewiesen. Derselbe stammte auch aus einem Magisterhause, darinnen mehr Kinder als Geld vorhanden und mehr Vaterunser gebetet, als gesorgt und gegrämt wurde. Als derselbe endlich so weit gekommen, daß er sich zum Magisterexamen in Leipzig melden konnte, zog er seines ältesten Bruders fadenscheiniges Röcklein an sammt den seidenen Strümpfen seines Vaters. Das Einzige, was neu war, das war die schöne Brustkrause, die die Mutter ihm besonders herrlich ausstaffirt. Er zog dann gen Leipzig und, um das theure Nachtquartier zu sparen, legte er sein von vielem Lernen und ob der Angst wegen des gestrengen Examens müdes Haupt in einer Herberge, zwei Stunden vor der Stadt, nieder. In der Morgenfrühe ließ er sich von seinen Wirthsleuten wecken und ein dickes Süpplein kochen, was durchhalten sollte durch das Examen, und dachte dann, sich während des Marsches alle Zahlen der Kirchen- und Ketzerhistorie Gottfried Arnolds einzuprägen. Denn er wollte nicht jenem Magister gleichen, der zu seiner geringen Ehre vor den gelehrten Doctoren gestand: er wisse zwar alle Jahreszahlen gar fein, nur nicht das, was da gerade passirt wäre.

Es war November, der Wind ging kalt über das Lützener Feld, allwo er sich noch den Schwedenstein besah, da kommt er nahe der Stadt an die Pleiße, und wie er am Weidengebüsch wandelt, hört er ein jammervolles Rufen, er biegt die Zweige auseinander und sieht einen Kahn, der auf dem hochgeschwollenen Wasser umgeschlagen, und einen Menschen, der mit den Fluthen ringt und am Versinken ist. Schnell springt er mit sammt dem fadenscheinigen Röcklein und der schönen Halskrause in die schlammigen Wogen und faßt mit nerviger Faust den Ertrinkenden und zieht ihn ans Land. Dann trägt er noch eine Weile den Ermatteten bis zum Zollhause und übergibt ihn den Leuten. Aber da sieht er auch, daß die Uhr derweilen fortgerückt und die Thürme von Leipzig noch fern sind. Da greift er aus mit langen Schritten, aber erst, wie er ans Pirnaer Thor kommt und alle Leute den Mann anschauen, der eher einer gebadeten Maus, denn einem Magister ähnlich sah, fällt's ihm auf die Seele, daß er so nicht vor die Fakultät treten könne.

Schnell geht er zum Kalfactor und bittet, seine Wäsche trocknen zu dürfen. Sie wollte aber nicht so schnell trocken werden, als sie naß geworden war, die Halskrause hing welk und voll Schlamm über die Brust herab, und aus dem fadenscheinigen Röcklein gluckste noch das Wasser heraus. Da schlug die Stunde, und hochgerötheten Antlitzes trat er in den Saal. Die ehrwürdigen Herren nickten sich bedeutsam zu. Sein Wissen war noch weniger geworden denn zuvor, und als das Hebräische kam, da schwindelte es ihm unter den Füßen und ward ihm schwarz vor den Augen. »Herr Magister, Ihr habt heut Euren bösen Tag, wo habt Ihr Euer Wissen gelassen?« Fast hätte Sebaldus gesagt: »Im Wasser der Pleiße« – aber Niemand sollte es wissen. Es ward immer schwüler in der Stube, und als gar einer der Herren an ihm herumzupfte und seine Halskrause visitirte und ihm sagte: »Herr Magister, Ihr riechet nicht nach Gelahrtheit, sondern nach Schlamm,« da ward ihm völlig dunkel. Sie wollten eben Concilium halten, wie über einen Malefikanten, als der Kalfactor dem hochwürdigen Dekan ins Ohr flüsterte: draußen sei ein Mann, der sich nicht abhalten ließe hereinzukommen. »Laßt ihn herein,« und herein trat der Gerettete, der dem Magister um den Hals fiel. »Euch habe ich gesucht in der ganzen Stadt, ich höre, Ihr müßtet Magister heut werden. Mein Gott und Herr! Ihr seid ja ein Magister, wie er Lucas am 10. steht, da Ihr mich aus dem Wasser gezogen.« Da schauten sich die Herren an und schüttelten ob dem wunderbaren Candidaten die Köpfe, der, derweil sie noch sanft schliefen, einen Menschen gerettet. Und Alle erklärten ihn trotz des schlechten Hebräisch für bestanden, nur ein Griesgram ließ sich dergestalt vernehmen: »Wenn Er wieder ein Examen macht, dann lasse Er vorher solche Dummheiten bleiben.« Sebaldus aber war hochvergnügt und eilte zu seinen lieben Eltern, die sich baß wunderten, daß das Röcklein schier die Farbe gelassen und die Halskrause so welk sei, aber gesagt hat er nicht, wie das alles so gekommen.

War das der eine, so wird auch von einem andern Nachfahr des Sebaldus berichtet, der nicht minder ächt war, als sein Vorgänger.

Nachdem er sein Examen bestanden, hatte er erst noch lange keine Pfarre. Denn er fiel in jene Zeit, wo die Candidaten dem hochwürdigen Consistorio ein Büschel ihrer weißen Haare einsandten, zum Zeichen, daß es nun hohe Zeit sei, sie anzustellen. Andere konnten leider mit diesem überzeugenden Beweismittel nicht dienen, denn der Mondschein auf dem Haupte ließ sich nicht einwickeln. So mußte er denn als Hauslehrer zu einer adligen Herrschaft auf ein Gut und dort die ziemlich ungeleckten Bären des Barons auf einen menschlichen Standpunkt bringen. Da hatte er seine liebe Noth, denn die Rangen waren lieber im Stall als beim Julius Cäsar. Sein Trost war das einzige Mägdlein im Hause, ein sinniges, feines Kind, das dem Candidaten besonders zugethan war. War er doch ein Lehrer von Gottes Gnaden, wenn auch sein Wissen nicht an das der Professoren hinreichte, die nicht allemal davon den Namen haben, daß die Kinder etwas bei ihnen profitiren. Sebaldus wußte recht gut, daß Sorge Sorge sei, ob sie ein Kindes- oder ein Mannesherz drückt, und Last Last sei, ob sie auf Kindesschultern oder Mannesrücken ruht. Ist ein Gefäß zum Ueberlaufen voll, so ist es eben voll, ob's nun ein Wasserglas oder ein Heidelberger Faß ist. So ist's um das Wehe eines Kindes; es trägt um kleine Dinge oft einen großen Schmerz. Im Licht der Ewigkeit von oben herunter gesehen, werden einst unsere größten Schmerzen auf Erden doch nur wie Kinderschmerzen uns erscheinen. So dachte Sebaldus auch, und da dem Kind die Mutter gestorben war, so dachte er, Du willst sie trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Das ging nun so Jahre hindurch fort, und aus dem Mägdlein war ein hübsches Jungfräulein geworden. Aber soviel Freier auch kamen und um sie warben, sie wies sie ab, denn so wie Sebaldus war keiner, so liebend, so zart und doch so ein ganzer Mann mit dem seelenvollen Angesicht. Da, als Sebaldus endlich eine Pfarre bekam, vertraute sich das Mägdelein ihrem Vater und sagte, sie wolle keinen Bräutigam als nur den Sebaldus. Der werde aber sich nicht getrauen, um ihre Hand anzuhalten, dieweil er arm sei. – Da brannte der alte Baron auf und sagte so etwas, daß sein Geschlecht geschändet werde durch solche Heirath, und was dergleichen mehr war. Aber das Mägdlein sah ihn so ruhig an, daß der Baron vollends aus der Fassung kam. »Du kannst mir wohl verbieten, lieber Vater, ihn zu heirathen, aber nicht gebieten, einen Andern zu nehmen. Dann bleibe ich eben bei Dir, bis an mein oder Dein sanftseliges Ende.« Sebaldus packte seine Habseligkeiten zusammen, nahm Abschied von dem Baron und dem Töchterlein, ohne irgend auch nur ein Wort zu sagen außer dem Dank. Sein Herz dachte ja nie daran, daß das Edelfräulein an ihm Wohlgefallen haben könnte oder gar ihm die Hand reichen wollte. Sie winkten ihm beide noch lange nach, denn auch dem Baron wurde es immer klarer, welchen Edelstein er an diesem treuen Manne besessen und daß sein Kind nirgends besser gehalten werden könnte, denn bei Sebaldus. Aber die andern Gedanken kamen wieder, was die Sippe wohl dazu denken würde, wenn er sein Kind einem armen Pastor antraute. Die Jungen waren schon längst aus dem Hause, dienten oder studirten und kosteten dem »Alten« ein schweres Geld; auch dessenwegen hätte er gern eine reiche Partie für sein Töchterlein gehabt. Sie aber blieb fest, immer gleich freundlich, aber sie schwand auch sichtlich dahin. Die blühenden Wangen welkten, und die Augen waren trübe vom Weinen. Da sah der Baron doch mit Sorgen drein. Eines Tages bekam Sebaldus einen Brief vom Baron, darin derselbe ihn bat, doch einmal bald zu kommen, dieweil er nöthig mit ihm zu sprechen habe. Und Sebaldus kam auch in seiner Kutsche, die einer Arche Noäh ähnlich sah, etliche Tage darauf angefahren und meldete sich. Das Jungfräulein sah er nicht, sie war über Land geschickt worden. Die Unterredung dauerte lange; aber das Ende war, daß die Beiden, Sebaldus den Baron am Arm führend, den Schloßpark verließen und in den Wald gingen, tief im Gespräch. An einer Lichtung mit freiem, köstlichem Blick hielt der Baron, und setzten sich die zwei auf eine Bank. Der Baron zog die Uhr und schaute und horchte. Da hörte man Hufschlag, und daß ein Wagen, über weiches Moos und Tannenreiser gleitend, sich näherte. Das Edelfräulein hatte allein kutschirt, sie warf die Zügel zurück und sprang dem Vater entgegen, ihn umarmend, während Sebaldus hinter einer großen Buche auf Befehl des Barons postirt war.

»Mein Kind,« sagte der Baron, »ich sehe, wie es Dir am Herzen zehrt, daß Du Dein Herz nicht theilen konntest mit dem, den Du liebst. Willst Du denn brechen mit Deiner Vergangenheit und in die Armuth ziehen, Deinen Namen ablegen und eine Nothankerin werden, ist das noch Deines Herzens Meinung, dann sag' ein laut vernehmlich ›Ja‹, daß es in den Wald schallt.«

Die Tochter schaute ihn freudestrahlend an. »Ist's wirklich wahr, willst Du Deinen Segen geben, wenn Sebaldus auch will?« Der Baron nickte. Da rief das Edelfräulein laut hinein in den Wald: »Ja, liebster Vater, ja!« – Da rauschte es in den Zweigen, und hinter dem Buchenbaum trat Sebaldus hervor und küßte ihr ehrerbietig die Hand. Sie aber küßte ihn auf den Mund und sagte: »So, nun sind wir zusammen ein Paar, und ich will Deine Nothankerin sein.« Dem Sebaldus war wunderbar über alledem zu Muthe, und alles schien ihm ein seliger Traum zu sein. Der alte Baron aber legte ihre Hände in einander und sprach ein kräftig Gebet und Segen über die Beiden hin. Dann reichte er ihnen sein großes Jagdmesser und befahl ihnen, ihre Namen in die große Buche zu schneiden. Das galt dem Baron soviel, als wenn heutzutage einer mit seiner Braut vor den Standesbeamten geht, und sogar noch ein bißchen mehr. Die drei kehrten zurück, der Baron fuhr das junge Paar nach Hause und stellte es den Insassen als vor Gott verbundene Brautleute vor. Da freuten sich alle, denn Sebaldus hatte Jedem unter ihnen irgend eine Liebe gethan, sei's im Wort oder in der That. Freilich lief die Sache unter der Sippschaft, und namentlich bei den Brüdern der Braut, nicht so glatt ab, als sich das so liest. Die wollten gar nichts davon wissen und schwuren hoch und theuer, daß sie nicht zur Hochzeit kommen würden. Nur der Jüngste, der seine Schwester und auch den Sebaldus liebte, weil der ihn in einer langen Krankheit Tag und Nacht gepflegt hatte, davon er noch immer schwach und zart geblieben, schrieb ihnen einen herzlichen Brief. – Die Hochzeit wurde gefeiert, die Brüder bis auf den einen und die Sippe blieben aus, dafür kamen auch drei Nothanker hergereist, um ihre neue, wundersame Schwester zu sehen. Das waren so prächtige Menschen an Leib und Seele, daß der Baron wohl dachte, wenn nur das deine Jungen wären! Das junge Paar ward schlicht, aber reichlich ausgestattet, so wie's in ein Pfarrhaus paßt. Denn es will sich doch nicht schicken, wenn's in einem Pfarrhaus auf dem Lande so aussieht, daß die Gemeindeschäflein, wenn sie zu ihrem Hirten kommen, die Stiefel und Schuhe ausziehen müssen, damit die schönen Teppiche nicht kaput gehen, wie das in einem Pfarrhaus einst Mode war. Schnell hatte sich die junge Frau gefunden in dem kleinen Hause, und Licht und Freude, Sonnenschein und Liebe hineingebracht. Durchs Dorf ging sie wie ein gütig Wesen aus einer andern Welt und brachte den Kranken die Süpplein, den Alten den kräftigen Wein aus ihres Herrn Vaters Keller. Aber das Beste war doch, wenn sie sich hinsetzte und ihren rosigen Mund mit den perlengleichen Zähnen aufthat und die Alten und Kranken tröstete. Das ging so ein und das nächste Jahr, der alte Baron stand auch Gevatter bei ihrem Kindlein sammt dem jüngsten Sohn. Der letztere aber sah schmerzlich drein, denn seine Augen glänzten vom Fieber und seine Wangen waren wie ein Rosenbeet. Da bat er am Abend die beiden Pfarrersleute herzbeweglich: »Liebe Geschwister, mit mir will's nicht mehr gehen, mich friert's draußen in der rauhen Welt, aber bei Euch ist's sonnig und warm. Gebt mir Euer Oberstüblein, von wo man den Blick hat auf den Kirchhof, wo auch unsre liebe Mutter liegt.« Sebaldus reichte ihm die Hand und drückte sie ihm innig, und ohne ein Wort mit einander geredet zu haben, verstanden sich Mann und Weib, den Bruder aufzunehmen. Der alte Baron sah wohl, daß er ihn im Schlosse nicht pflegen könne, und war herzlich froh, daß sein Kind so sanft gebettet sein sollte. Und wie haben sie es ihm so traulich gemacht im Oberstübchen! Da stand jeden Tag ein frischer Strauß auf dem Fenstersims, oder sie trugen ihm das Lotterbettlein in den warmen Sonnenstrahl unter die hohen Malven, die im Garten blühten. Und er schaute so dankbar auf den Bruder Sebaldus, der ihm ein viel besserer Bruder war als seine rechten Brüder, die sich jetzt gar nicht um ihn kümmerten, denn sie hatten das Pfarrhaus noch nicht betreten.

Da kam eines Tages ein Brief des ältesten Bruders der jungen Pfarrfrau an Sebaldus. Zuerst schrieb er viele Worte der Abbitte, daß er so gegen seiner Schwester Hochzeit gescholten; er wäre längst gekommen, dieweil er aber einen Schwur gethan, das Haus nicht zu betreten, so könne er ihn nicht brechen. Aber nun rechne er doch auf seine brüderliche Liebe. Er habe im Spiel eine große Summe verloren, und sei seine Ehre dahin, wenn er sie nicht zahle. Dem Vater könne er nicht unter die Augen treten, der habe ihm schon viel geholfen, aber Sebaldus solle schauen, ob er nicht den Vater bewegen könne, noch einmal zu helfen. Er wolle ihm diesen Liebesdienst zeitlebens nicht vergessen. – Da stand denn Sebaldus und berieth mit seinem treuen Weibe. Sie spannten die Pfarrkutsche an und fuhren zum alten Baron. Den trafen sie matt und krank. Als sie mit ihrer Bitte herausrückten, bedeckte er sein Haupt mit beiden Händen und weinte herzbrechend. Die Tochter umschlang den Vater mit ihren Armen, und Sebaldus nahm ihm sanft die Hände in die seinen. »Es ist vorbei,« sagte der Baron, »ich bin ein geschlagener Mann. Das Gut ist schon überschuldet gewesen, und vorgestern war Termin mit den Gläubigern. Aber das stößt dem Faß den Boden jetzt aus. Will ich den unnützen Jungen retten, dann muß ich Schloß und Hof verkaufen, und Ihr seid auch geschlagen.« – »Denkt nicht an uns, Herr Vater,« sagte Sebaldus, »wir bedürfen's nicht. Aber retten möcht' ich Euch aus den Händen Eurer Dränger. Mein Bruder Medardus zu Danzig ist ein vermögender Mann, der wird Rath wissen. Laßt mich dahin gehen. Es ist zwar weit, aber für einen Nothanker doch nicht aus der Welt.« Und nach etlicher Zeit kam er heim mit der Kunde, daß ein reicher Kaufmann das Schloß und Gut wolle einstweilen übernehmen und auch die Schuld des Sohnes bezahlen. Der Baron sollte aber ruhig auf dem Gute bleiben und könne die Schuld in Jahren abtragen und wieder zu seinem Besitz kommen. Da ward's denn wieder Licht im Hause, und der Baron dankte seinem Schwiegersohn so herzlich und wollte ihm die Hand küssen, was Sebaldus nicht litt.

An einem stürmischen Abend pochte es an der Thür des Pfarrhauses, und herein trat ein hochstämmiger Mann in abgerissener Kleidung und mit verwittertem Gesicht. Er bat um Nachtquartier oder um ein Almosen. Da er vor Kälte und Hunger zitterte, setzte ihn die Pfarrfrau ins Zimmer an das warme Flackerfeuer und redete mit ihm. Ihr war's, als habe sie diese Stimme schon irgendwo gehört, und konnte sich doch nicht besinnen, wo und wann. Noch immer hatte der Fremdling seinen großen Schlapphut tief in die Stirne gedrückt. Nun ward's ihm zu warm, und er legte ihn ab. Da zeigte sich eine große Narbe, die über die Stirn quer herüberlief; der Lichtschein fiel grell darauf. Da ging es wie ein Blitz durch die Seele der Pfarrfrau. »Kurt, Du bist's!« Und sie küßte ihn in den wilden Bart hinein und hielt ihm die Hände entgegen. »Ja, ich bin's,« sagte er mit todtmüder Stimme, – »Euer verlorner Kurt – Euer verlorner Sohn im Evangelium.« An der Narbe, die er einst als Junge durch den Hufschlag eines Pferdes erhalten, hatte sie ihn wieder erkannt. Dieser Sohn war der dunkelste Fleck in der Familie. Reichbegabt und wohlerzogen, kam er auf der Hochschule in schlimme Hände und Händel, entfloh nach Paris und irrte durch die Welt. Seine Spur war seitdem völlig verloren. Vor dem Baron durfte man seinen Namen nicht nennen, wollte man ihn nicht in Leid und Aufregung senken. Nun war er heimgekehrt und hatte den Weg zurückgefunden ins Vaterhaus, aber er traute sich nicht hinein, wohl aber zu Sebaldus, dessen Wohnort er erkundet. Der trat auch bald herein und fiel ihm um den Hals, als wie einem Bruder. Was die Drei am Abend am Kaminfeuer gesprochen, wie die Schwester ihn in neues Gewand gekleidet von Kopf bis zu Fuß und neben den kranken Bruder ins andere Oberstüblein gelegt, das kann sich der Leser selber ausdenken. Aber es war für Sebaldus noch ein herber Ritt hinüber aufs Schloß, den Vater vorzubereiten und dem Sohn den Weg zu bahnen. Dort an jene Buche, wo er sich einst mit seiner geliebten Frau verlobt, hatte er den Sohn hinbestellt, dort sollte er warten. Und er fand den Baron weich gegen seines Kindes Elend und froh, daß er wieder heimkehren wolle, aber sehen wollte er ihn nicht. Denn Sebaldus hatte ihm nur gesagt, daß Kurt geschrieben. Aber allmählich bereitete er ihn des Weiteren vor, und nahm den Weg mit dem Baron durch den Wald zur Buche. Dort stand Sebaldus still und sagte mit herzbeweglicher Stimme: »Herr Vater, hier habt Ihr uns einst zusammengegeben und mir Euer Bestes geschenkt, das Kleinod aus Eurem Hause, Euer Kind. Und ich konnte Euch nichts bieten, denn Liebe und Treue, und habe Gott gebeten, er möge mir, so es noth sein sollte, geben, daß ich Euch solche Liebe vergelte und thue nach dem Wappen unserer Vorfahren. Nun laßt mich bitten für Euer ander Kind, das heimgekehrt ist aus der wilden Fremde und Euch seine Beichte thun will. Wir wollen ihn in unser Haus nehmen, bis er wieder ganz gesundet ist und Eures Alters Trost wird. Reicht mir die Hand und vergebt ihm!« Da konnte der Baron sich nicht länger halten und fiel dem Sebaldus um den Hals und sagte: »Du hast mehr denn Kindespflicht an mir gethan, und Dir kann ich nichts weigern.« Da trat hinter der Buche der Sohn hervor und fiel zu des Vaters Füßen, nicht anders als es Lucä am fünfzehnten steht.

Der kranke Bruder ging bald darauf heim, und sein Sterben ward dem Verlorenen und Wiedergefundenen noch ein besonderer Segen. An seinem Grabe traf auch der Aelteste mit den Andern zusammen, und diesmal kehrte er ein in das Pfarrhaus wie ein Bruder. Die Sonne fing wieder an, über dem Schlosse zu scheinen, denn durch gute Ernten und eine reiche Erbschaft, von seiner Frau Seite her, konnte der Baron sein Gut wieder an sich bringen, und seine beiden Söhne waren seines Alters Trost.

Die Namen in der Buche sind nun längst vergessen und kaum kenntlich mehr, aber unter ihr hat oft der Baron mit seinen Kindern gesessen. Aber die Krone war jedesmal, wenn Sebaldus zu ihnen sich setzte mit seinen Kindern, die sich auf dem Schooße des Barons und dem seiner Kinder wiegten. Als der Baron aus dem Leben schied, galt sein letzter Abschied dem Sebaldus: »Du warst uns, was Du hießest, hab' ewig Dank, mein bester Sohn, Sebaldus Nothanker!«

Das alles stand in jenem Buche und auch als Anhang ein Stück aus dem Tagebuche eines der Nothanker, der in Thüringen in der Nähe von Arnstadt wohnte. Aus ihm will der Verfasser nur Etliches mittheilen, denn aus dem Wenigen kann man schon auf das Andere schließen, und vielleicht macht sich der geneigte Leser noch hier und da ein Sprüchlein selber dazu. Ebenso soll noch ein kleines Stück aus einer Predigt jenes thüringischen Sebaldus mitgetheilt werden. Was ich aber weiter von der Familie erfahren konnte, war nur, daß auch der weibliche Theil, wohinein er auch heirathete, als bestes Gut den Geist und Sinn der Nothanker brachte. So stammen denn von solchen Nothankerischen Frauen in gerader Linie bedeutende Männer ab, wie z. B. in Weimar Johannes Falk, der das erste Rettungshaus baute, und der alte Oberlin im Elsaß, der sich der Kinder annahm, der alte Heim zu Berlin, der bei Nachtzeit und bei jedem Wind und Wetter in die hohen Dachstuben zu seinen Kranken kroch. Er hat auch wie ein ächter Sebaldus Nothanker mütterlicherseits, als er sein sauer erworbenes Vermögen durch einen fremden Bankerott verloren, seiner kurzen Trauer damit Einhalt gethan, daß er zu sich sprach: »Heim, sei kein Esel! Wer hat Dich aus einem armen Pfarrerskind zu einem berühmten Geheimrath und Leibarzt gemacht? Kann Der Dich nicht auch ferner erhalten?« Die meisten Namen aber stehen in den Büchern, die erst in der Ewigkeit aufgethan werden. Für mich aber hat seitdem der Sebaldus Nothanker einen noch viel besseren Klang, denn zuvor, und ich verstehe gleich, wenn es heißt: »Sei mir Sebaldus Nothanker.«

Wohlan denn zum Schluß eine Gedankenlese aus Sebaldus Nothankers Tagebuch.

Je älter man wird, destomehr liebt man die Menschheit und zieht sich von den Menschen zurück. Wie man in der Jugend den bunten Lichtern nachjagt, im Alter die wärmende Sonne sucht.

Täglich nur eine halbe Stunde gesäet für Andere, und Du wandelst im Alter durch ein Aehrenfeld der Liebe, der Freundschaft und der Freude.

Wollte, über diese Erde schreitend,
Jeder auch nur einen Fruchtbaum pflanzen,
Eine Blume, einen Duftstrauch hegen –
Wandelten wir längst im Paradiese,
Blühte um uns Edens Garten wieder.
Soll es reichlich zu Dir fließen,
Reichlich Andre laß genießen.

Die Menschen geben, um die Menschen los zu sein; Gott gibt, um uns an sein Herz zu binden. Seine milde Hand soll uns zu seinem noch viel milderen Herzen führen.

Wenn du gibst, gib Opfer und kein Almosen.

Arm ist nicht der, der nichts hat, sondern der nichts gibt.

Sei mit Deinen Geistesgaben keine feurige Rakete, der man bewundernd nachschaut, und die in Rauch und Nacht sich verliert, sondern ein Leuchtthurm, der dem Irrenden das rettende Ufer zeigt, ein stiller Stern, der dem Schiffer die Bahn weist.

»Ich war ein geringer Thon,« sagte die wohlriechende Erde, »bis Rosen in mich gepflanzt wurden.«

Was Gott auflegt an Last, das legt er auch zu an Kraft und Trost. Arm hat sich schon mancher gespart, aber noch Niemand arm gegeben.

Ein offnes Herz, ein offnes Auge, eine offne Hand, einen offnen Himmel im Leben, einen offnen Himmel im Sterben, mehr braucht man nicht, um glücklich zu sein.

Es gibt Menschen, in deren Gegenwart uns ist, als ob wir ein Bad voll Sonnenschein nähmen; wir athmen eine erfrischende und kräftigende Luft, als ob wir auf einer hohen Alp ständen, unter uns der trübe Nebel, über uns der lichte Himmel. Wär' ich doch solch ein Mensch!

Nun noch ein Stück aus einer Weihnachtspredigt, deren Schluß also lautet:

»Der Himmel hat sich aufgethan über der dunklen Erde, der Chor der Engel singt sein Wiegenlied dem Gottessohn in der Krippe, und einer der Himmelsboten verkündigt den Menschen große Freude. Einen offenen Himmel, Gott zum Vater, seinen Sohn zum Bruder, die Engel zu Freunden haben, wer wollte da nicht zu einer großen Familie sich zusammenschließen, die eine selige Freude vereint? Wie auch die Freude sei, ob die der jubelnden Kinder, die sich nicht lassen können vor Freude, oder die der schweigenden Kinder, denen die Güte der Eltern die Lippen schließt, sei sie nur wahr und tief! Das arme Christkind bereichert die Welt; der keinen Raum findet in der Herberge, bereitet uns die Wohnung, wo wir ewig unser Haupt hinlegen können. Wollen wir, die Reichgewordenen, die Verarmten nicht bereichern? Im Schiffbruch der Menschheit, Sturm und Wogen preisgegeben, hat uns Gott vom Himmel her den Nothanker zugeworfen, wer wollte ihn Anderen nicht zuwerfen? Geliebte, was mein armer Name besagt, wir Alle können es werden. Die Familie der Nothanker wird nicht aussterben, sowenig als die Liebe, von der geschrieben steht: ›Sie höret nimmer auf.‹ So Viele warten auf uns, daß wir ihnen den Anker zuwerfen, seien's Arme oder Betrübte, Verlassene oder einsam sich Fühlende inmitten des großen Menschenstroms, Zweifelnde und Verzweifelnde. In Deinem eignen Hause, im feuchten Keller oder unter dem heißen Dach wohnen sie vielleicht, denen Du ein Nothanker sein könntest, wolltest Du nur Deine Bequemlichkeit opfern und das Herz aus der Brust geben. Fordere nicht von Gott, was Du den Menschen nicht gewähren willst. Fordere keine Gabe, ohne selbst zu geben, keine Vergebung, ohne selbst zu vergeben, fordere nicht Freude und Sonnenschein, ohne sie selbst zu spenden. Willst Du den Anker in Deiner Noth haben, sei Andern selbst ein Anker« – so sprach Sebaldus Nothanker, der Nachfahr, am Weihnachtstage zu seiner Gemeinde. Jeder aber ging hinab in sein Haus und fragte sich, ob er selbst im Leben einem Andern ein Sebaldus Nothanker gewesen.

Du aber, freundlicher Leser, gehörst Du zu dieser Familie?



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