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Mit der Ermordung des Generals war der letzte Hoffnungsschimmer auf Fortsetzung des Kampfes in blutige Nacht versunken, und es blieb dem Hauptmann nichts mehr übrig, als seine Getreuen zu entlassen, damit jeder wenigstens das eigene Haus vor der Unbill des fremden Kriegsvolkes schützen möge. Aber ein schwerer Abschied war es, als die Kameraden, einer nach dem andern, herankamen, dem Hauptmann die Hand zu reichen, und keiner sich viele Mühe gab, die Tränen zu verbergen, die in den Augen blinken wollten!
Bald war von der ganzen Schar nur noch der Hauptmann mit dem Wachtmeister und dem Belper-Fritz zurückgeblieben, denen nach kurzer Frist zahlreiche Flüchtlinge von der Stadt her Berichte brachten über Gewalttaten und Mißhandlungen, die von herumstreifenden Franzosen an einzelnen Soldaten und Offizieren begangen würden. Es war ein Trost für sie, daß der Heimweg all ihre Kameraden nach den obern Gegenden führte, die noch von keinem Feinde gefährdet waren, aber für den Hauptmann und den Wachtmeister wäre es unter diesen Umständen nutzlose Verwegenheit gewesen, auf der unsichern Heerstraße nach der Stadt oder nach Holligen zurückkehren zu wollen, und sie beschlossen daher, zuerst den Belper-Fritz über die Aare heim zu begleiten, um dann am Abend auf der andern Seite des Flusses nach Hause zu gelangen.
Der Hauptmann hatte nun noch über den gefangenen Franzosen zu verfügen, der bei der Ankunft in einem besondern Gemache des Wirtshauses eingeschlossen worden war. Ihn länger der Freiheit zu berauben, konnte von keinem Nutzen sein, aber grausam wäre es gewesen, ihn auf die von kampferhitzten Soldaten und flüchtenden Landsturmhaufen angefüllte Straße zu stellen, zumal der Fremde keines deutschen Wortes mächtig schien. Herr Rudolf gab ihm daher den schön gearbeiteten Degen mit dem Rate zurück, seiner eigenen Sicherheit wegen in dem Gemache abzuwarten, bis seine Landsleute anlangen und ihn von jeder gefährlichen Begegnung erlösen würden.
Der Gefangene, ein stattlicher Mann, mit großen, schwarzglänzenden Augen, die seinem Gesichte einen kühnen und zugleich klugen Ausdruck verliehen, dankte in herzlichen Worten für die erwiesene Vorsorglichkeit und begleitete diesen Dank mit dem Wunsche, daß dem Hauptmann ein fröhliches Wiedersehen all seiner Lieben beschieden sein möge. Er sprach diese Worte mit einem so eigentümlichen Anklange der Stimme, daß Herr Rudolf ihm unwillkürlich und betroffen ins Gesicht schauen mußte, es war ihm, als hätte er den Ton dieser Stimme schon einmal gehört, als wäre ihm dieselbe schon einmal mit bedenklichen Worten so nahe getreten; aber nein, er hatte diese Züge noch nie gesehen, und die traumhafte Erinnerung verlor sich in ein verworrenes Sinnen über das seltsame Abenteuer, das ihm die vergangene Nacht im Walde hinter Urtenen begegnet war. Er befahl dem Wirte, für die Sicherheit des Gefangenen Sorge zu tragen, und machte sich dann mit seinen Kameraden auf den Weg, durch den Wald der Aare zu.
Der milde Märznachmittag neigte sich bereits gegen Abend, als die drei das einsame Moos durchschritten, über das ein Fußweg von der Aare nach Belp, der Heimat Fritzens, hinanführte. Die Gegend lag still und freundlich, in die ins Tal fallenden Schatten gehüllt, als wären diese Wälder und Felsen nicht erst vor wenigen Stunden noch von dem Echo des Schlachtgetöses erfüllt gewesen; aber für den Krieg bildet ein Strom, über den der Nachen in den Tagen des Friedens mit so behaglichem Schaukeln trägt, rasch eine scharfe Grenzscheide, und so hatte auch der Fährmann erzählt, daß sich auf dieser Seite des Flusses noch kein Franzose gezeigt habe. Das war eine gute Botschaft, die wohl hoffen ließ, daß der Hauptmann und der Wachtmeister unter dem Schutze der Nacht ungefährdet nach Hause gelangen könnten. Gleichwohl blieb der erstere düster und schweigsam und schien mit dem näher kommenden Abend von einer immer steigenden Unruhe vorwärts getrieben zu werden. Im elterlichen Hause des Belper-Fritz vermochte ihn kein Zureden und Bitten länger zu halten, als bis die erste Dämmerung niedersank, wie ungerne er auch die Freude der guten Mutter störte, die nun betrübt an den brodelnden Töpfen stand, welche sie, glücklich über die Heimkehr des Sohnes und zu Ehren seiner Gäste, ans Feuer gestellt hatte. Mit dem Versprechen, sich sogleich nach seiner Ankunft in der Stadt um das Befinden des Junker Lieutenants zu erkundigen und dem wackern Gefährten darüber Nachricht zu geben, schritt er mit dem Wachtmeister in die dunkelnde Nacht hinaus.
Es war ein stiller, einsamer Weg, den die beiden zu gehen hatten. Zur Linken der im Abendwinde wachwerdende Wald mit seinem geheimnisvollen Rauschen, zur Rechten in der Tiefe das weite, öde Moos mit dem Flusse, über dem sich leichte Nebel auf- und niederbewegten. Von der Höhe des jenseitigen Ufers erklang aus weiter Ferne ein halbverlorener Trommelschlag wie eine müde Erinnerung an den in Nacht versinkenden Kampftag; sonst war es still weitum, und bald schritten auch die beiden Wanderer schweigend nebeneinander her, in tiefes Sinnen verloren. Den Wachtmeister führten seine Erinnerungen hinüber nach Fraubrunnen an dem einsamen Hause des Kirchmeyers vorbei auf das Feld hinaus, wo drei Leichen starr und bewegungslos sich umschlungen hielten, während die Gedanken des Hauptmanns mit wachsender Bangigkeit am Schloßturm schweiften, der aus den Wiesengründen von Holligen emporsteigt.
Manchmal blieb er einen Augenblick stehen, um den kalten Schweiß von der Stirne zu trocknen, ohne zu bemerken, daß sich mit demselben auch das Blut seiner Wunde vermischte, deren Verband von der starken Bewegung lose geworden war. Er ging dann einige Schritte langsamer und suchte, seine Gedanken sammelnd, die dumpfe Angst der Seele zur Ruhe zu bringen; aber unwillkürlich begannen die Füße allmählich rascher auszuschreiten, und in wenigen Minuten eilte er wieder so schnell dahin, daß der Wachtmeister nur mühsam mit ihm Schritt zu halten vermochte. So langten sie in ununterbrochenem Laufe zur Stelle, wo am Fuße des Gurtenberges die Straße nach der Stadt sich rechtsab in die Tiefe senkt, während ein Fahrweg der Höhe entlang in mancherlei Krümmungen zwischen zerstreut liegenden Häusern und hohen Hecken nach Holligen hinüberführt.
Vom Münster klang eben die neunte Stunde herab, und die Stadt schimmerte noch mit tausend Lichtern über das Rauschen des Flusses in die Nacht herüber, alles lag so still und friedsam, als wäre der Kampf des Tages nur ein bereits vergessenes Schreckbild gewesen. Auch dem Fahrwege entlang herrschte tiefe Stille, und als sie endlich die Höhe von Holligen erreichten, standen Schloß und Mühle vor ihnen, wie vom ruhevollen Feierabend umfangen. Aus dem Fenster Adelaidens brach ein Lichtschimmer zwischen den Zweigen der Bäume hervor, um die Giebel des Turmes spielte bleicher Sternenschein, und aus der Tiefe seitwärts murmelten die Wasser des Mühlebaches ihre nächtlichen Zwiegespräche – sonst kein Geräusch, kein Laut, so weit das Ohr zu reichen vermochte.
Sie setzten sich, von dem raschen Laufe erhitzt, auf einen großen Feldstein, um auszuruhen.
"Es ist seltsam" – sagte der Hauptmann nach langem Schweigen, "und du mußt mir verzeihen, daß ich dich zu solcher Eile angetrieben habe – sie wäre wohl nicht nötig gewesen. Die Franzosen haben, wie es scheint, noch nicht gewagt, in diesen zerstreuten Häusern außerhalb der Stadt Nachtquartier zu nehmen, mich wundert’s nur, ob sie im Laufe des Nachmittags nicht hier schon Besuche abgestattet haben. Aber gleichviel, ich glaube, die Angst hätte mich wahnsinnig gemacht, wenn ich diese Nacht nicht hätte hierherkommen können."
"Ich weiß selbst nicht", erwiderte der Wachtmeister, "es wird mir nun erst jetzt sonderbar zu Mute; ich möchte statt dieser Stille fast lieber lauten Lärm vernehmen."
"Du hast recht", sagte der Hauptmann nachdenklich, "es ist etwas Unheimliches, Schwüles in dieser Ruhe, aber wie waren doch die Burschen gekleidet, die du bei dem Marquis am Grauholz gesehen hast?"
"Genau könnt’ ich’s nicht einmal sagen", antwortete der Wachtmeister nach einigem Besinnen, "die ganze Geschichte ging mir zu schnell vorüber. Ich meine, sie trugen Röcke von verschiedener Farbe, alt und unsauber; aber alle hatten runde schwarze Hüte mit einem schwarzen Busche darauf."
"Dann paßten sie zu seiner Gesellschaft", sagte Herr Rudolf bitter, "es waren Leute von der Légion noire, von der Schreckenslegion – ein zusammengelaufenes Diebs- und Raubgesindel, das die französische Armee zu ihrer Schande mitziehen läßt. Aber komm, wir wollen zu deiner braven Mutter hinüber, sie wird wohl auch in großer Sorge um dich sein."
Sie erhoben sich, um langsam an der Hofmauer des Schlosses hinabzugehen, über welche eine Flucht jungen Nadelholzes sein Gezweige deckte und das Licht im Schlosse wie mit einem schwarzen Schleier einhüllte. "Mir ist’s bange, wie es dem gnädigen Herrn gehen mag", flüsterte der Wachtmeister. "Meine Mutter hat gesagt, als ich ihn nach Hause brachte, der alte Ulrich habe die Waise sich kündigen hören, und das bedeutet immer ein schweres Unglück im Herrenhause."
"Die Waise?" fragte der Hauptmann, "hast du sie denn auch schon gehört?"
Der Wachtmeister blieb stehen, als dürfte die Antwort nicht laut gesagt werden, die er geben wollte; aber im nämlichen Augenblicke fuhr er mit einem Ausrufe des Entsetzens zurück, mit starren Blicken und weit ausgestreckter Hand nach dem Schloßturme deutend. Von dort herab erklang ein so schreckhaft banges, gellendes Läuten, daß ringsum die Lüfte zu erzittern schienen und die kahlen Bäume wie von einem plötzlichen Windstoße geschüttelt aufrauschten, während ein Schwarm aufgescheuchter Mauerfalken und Turmeulen mit ängstlichem Gekreische über die Hofmauer ins Freie schwirrten. Den Hauptmann selbst faßte ein kaltes Grauen bei diesen wilden und zugleich klagenden Klängen, und wie sein Begleiter schaute er bestürzt nach dem Turme hinüber; aber mit einem Male schrie er laut auf:
"Hörst du, das war ein Hilferuf – mir nach, Kamerad!" und in fliegender Eile stürzte er der Mauer entlang dem Hoftor entgegen.
Von dem Schrecken verwirrt, der auch die Seele des Mutigen in der Nähe des Unerklärlichen, Geisterhaften ergreift, taumelte der Wachtmeister ihm nach, ohne zu wissen, was geschehen solle, bis er drinnen auf dem Hofe Waffengeklirr vernahm und, mit raschem Sprunge an das Tor gelangt, den Hauptmann bereits mit zwei Gesellen im Handgemenge erblickte. Jetzt atmete er wieder leichter auf, da er einen Feind von Fleisch und Blut vor sich stehen sah, und im Augenblicke stürzte auch einer der Schwarzhüte von seiner Faust getroffen auf das Pflaster nieder. Der Hauptmann hatte den anderen ebenfalls bemeistert und begann ihm eilfertig die Hände mit der Säbelkoppel auf dem Rücken festzuschnüren. "Mach es wie ich", rief er dem Wachtmeister zu, "schleppe die Spitzbuben dort in den Winkel und bewache sie, bis ich wieder zurückkomme, sieh, da liegen die Gewehre – ich muß den Meister suchen."
Mit diesen Worten sprang Herr Rudolf in den Hausflur, die dunkle Treppe hinan, über die ihm lautes Hilfsgeschrei entgegenschallte. Es drang aus dem Gemache des Obersten, der mit herzzerreißendem Jammer nach seinem Kinde rief; vor der halb geöffneten Türe lag der alte Ulrich hingestreckt, die Augen geschlossen und mit lallender Zunge einige unverständliche Worte murmelnd. Der Hauptmann flog an ihm vorbei nach der zweiten Treppe, die zu Adelaidens Gemache hinführte, aber als er atemlos in dasselbe hineinstürzte, wankte er mit einem leisen Aufschrei des Schmerzes augenblicklich wieder gegen die Türe zurück. Ein Dolchstoß war durch seinen linken Oberarm gegangen, und vor ihm stand mit wild verzerrtem Gesichte sein Todfeind, der Verräter Amiel.
Wut und Verzweiflung überwanden Schmerz und Schwäche, und nun begann einer jener ergrimmten, stummen Kämpfe, die der Mensch dem wilden Tiere abgelernt hat und bei denen der Siegespreis nicht in der Rettung des eigenen Lebens, sondern nur in der Vernichtung des Gegners gesucht wird. Die beiden Feinde umschlangen sich Brust an Brust, die flammenden Blicke einander in die Augen bohrend und jeder mit krampfhafter Gewalt die letzte Faser anspannend, um den anderen niederzuwerfen und ihm erbarmungslos den Fuß auf den Nacken zu setzen. Aber der Franzose wußte die Vorteile zu nützen, die ihm die gelähmte Linke seines Gegners darbot, und schon fühlte Herr Rudolf seine Kräfte ermatten, als er, in dem tödlichen Wirbel sich drehend, eine Frauengestalt erblickte, die mit schwarzverhülltem Gesichte halb sitzend, halb liegend in einem Winkel der Türe lehnte.
"Verfluchtes Ungeheuer", schrie er bei diesem Anblicke, "du hast sie ermordet!" und mit der ganzen Wucht des Schmerzes und der Verzweiflung den Gegner von neuem packend, drängte er denselben mit plötzlichem Stoße dem Fenster zu. Die Scheiben fielen klirrend zu Boden, und der Marquis stürzte rücklings über das niedrige Gesimse in die Nacht hinaus. Noch ein kurzer Aufschrei, dem ein dumpfer Fall nachfolgte – dann ward es stille, und als der Hauptmann aufatmend sich über die Brüstung beugte, sah er in dem niedersinkenden Lichtscheine nur einen dunklen, zusammengerollten Schatten, der regungslos am Fuße des Turmes lag. Von kaltem Grauen angeweht, wendete er sich ab und wankte mit schwindelnden Sinnen auf Adelaide zu, die noch immer ohne ein Lebenszeichnen zusammengeknickt hinter der Türe lehnte; aber als er näher kam, sah er erst, daß die schwarze Hülle vor ihrem Antlitze eine festschließende Maske war, wie er sie einst selbst getragen, während ihr die Hände, kreuzweis übereinandergelegt, mit einem zerrissenen Schleier zusammengebunden waren. Von Angst und Hoffnung bestürmt, löste er mit zitternder Hand die Maske und sank, als die langen geschlossenen Wimpern dem Lichte leise entgegenzuckten, mit dem Ausrufe "sie lebt!" an Adelaidens Seite nieder.
Nachdem das Fräulein das Bewußtsein wieder erlangt hatte, hielt der Hauptmann mit Christian vor dem Schlosse Wache, bis die Nacht vorüber war, und begab sich dann unverweilt in das französische Generalquartier, um selbst von dem nächtlichen Vorfalle Anzeige zu machen. Der Tod des Marquis konnte schwere Folgen für ihn haben, da ein französisches Kriegsgericht voraussichtlich wenig Neigung zeigen mochte, in solchen Fällen zugunsten eines Einheimischen mildernde Umstände geltend zu machen und dadurch möglicherweise die Sicherheit der eigenen Truppen weiterer Gefährde auszusetzen. Herr Rudolf war daher angenehm überrascht, als er in demjenigen, dem er zur Abnahme seiner Angaben zugeführt wurde, seinen gestrigen Gefangenen erkannte. Der Franzose hörte nach artiger Begrüßung die Erzählung schweigend an und sagte dann: "Das ist eine fatale Geschichte, die Ihr Euch erspart haben würdet, Herr Kapitän, wenn Ihr meinen Rat befolgt hättet; ich konnte mir denken, daß so etwas kommen würde. Da hab’ ich mir gestern Eure Meinung besser zu Nutze gemacht, sonst würde ich heute schwerlich hier sitzen. Aber gleichviel – ich bin Euch zu Dank verpflichtet und will sehen, wie ich diese Verpflichtung lösen kann."
Er hatte diese Worte deutsch gesprochen, und Herr Rudolf erkannte nun im Augenblicke, daß er den Geheimnisvollen vom Urtener Walde vor sich habe. Diese Entdeckung rief ein eigentümliches Gefühl von Mißbehagen und Mißtrauen bei ihm hervor, und er antwortete daher kalt: "Es freut mich, wenn mein Rat Euch zum Vorteile gereicht hat, aber schwerlich würdet Ihr ihn befolgt haben, wenn ich Euch denselben in so sonderbarer Weise erteilt hätte, wie Ihr es mir getan. Immerhin scheint Ihr zu meiner Verwunderung von meinen Verhältnissen ebensogut unterrichtet zu sein als von denjenigen des toten Marquis von Amiel." "Nicht ganz so gut", erwiderte der Franzose, indem ein leichtes, spöttisches Lächeln über seine Züge flog, "doch vielleicht besser, als Ihr denkt, und das werdet Ihr schwerlich zu beklagen haben. Sicher könnt Ihr darauf zählen, daß ich Euch in drei Wochen, die Ihr als Opfer der Aristokratie im Marterturme verbracht habt, bei dieser Gelegenheit in Rechnung bringen will. Ich entlass’ Euch, Herr Kapitän, unter der Bedingung, bis auf weiteres die Stadt nicht zu verlassen. Solltet Ihr meiner irgendwie bedürfen, so fragt nach dem Bürger Olivier – ich werde vorderhand stets im Hauptquartier zu treffen sein."
Herr Rudolf hatte glücklicherweise keine Veranlassung, von diesem Anerbieten Gebrauch zu machen, da sich um den Tod des Marquis keine Seele weiter zu kümmern schien. Der Elende hatte seine Dienste getan, und man war vielleicht froh, ihn nun los zu sein.
Länger als dessen Landsleute war Herr Rudolf selbst genötigt, täglich die Erinnerung an den Toten aufzufrischen, da der Dolchstich, den er von ihm empfangen, wenn auch nicht gefährliche, doch langwierige Folgen nach sich zog. Der Frühling war längst ins Land gezogen, als der Verwundete zum ersten Male wieder das Krankengemach verlassen durfte; aber nicht nur Wald und Wiese traten seinem Auge in neuem Glanze entgegen, auch noch manches andere war neu geworden, seit er das letzte Mal durch die Straßen gewandelt. Auf öffentlichen Plätzen und vor den Toren der Stadt, wo sonst das Standbild des Bären seine trotzige Tatze erhoben, ragten jetzt mächtige Freiheitsbäume, und als der Genesende auf seinem langsamen Gange von der Holliger Mühle nach dem Schlosse hinüberging, blinkte ihm vom Portale, auf dem ehemals das behelmte Familienwappen des Obersten in Stein ausgehauen geprangt, eine große grüne Tafel entgegen, auf der mit goldener Schrift die Worte: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" zu lesen waren. "Der gnädige Herr hätt’ es trotz aller Drohungen der Regierung nicht getan", sagte der Wachtmeister, "es mußte ein eigens abgeschickter Kommissär kommen, um das schöne Brett da unter großem Zulaufe annageln zu lassen."
Im Schlosse selbst war es still, und Fenster und Türen lagen in festen Angeln zugeschlossen. Schon vor mehreren Wochen war der Oberst mit seinem kleinen Haushalte an den Genfersee gezogen, um dort in der stillen Zurückgezogenheit eines Landaufenthaltes und unter dem Einfluß milderer Lüfte seine erschütterte Gesundheit zu pflegen. Der Hauptmann setzte sieh auf eine kleine Ruhebank, die Adelaidens Fenster gegenüber vor einem Springbrunnen stand, und versank, von säuselndem Lindenduft und plätscherndem Wellenspiel umweht, in die Erinnerung an vergangene Tage, bis das Geräusch herannahender Schritte ihn aus seinen Träumen weckte. Es war die Müllerin, die ihm ein zierlich gefaltetes Blatt überreichte. "Wie sich’s schickt, Herr Hauptmann, daß Ihr gerade hier außen seid", sagte sie lächelnd, "ich hätt’ sonst noch heut abend in die Stadt schicken müssen. Der Sepp, der der gnädigen Herrschaft Hausrat ins Welschland nachführen mußte, ist eben heimgekommen und hat dieses Brieflein mitgebracht." Herr Rudolf drückte die Lippen auf die feinen Schriftzüge und las dann, im Schatten der Gebüsche auf und nieder wandelnd:
"Du erinnerst Dich jenes Abends (er sollte der erste einer langen Trauerreihe werden!), an dem der Doktor die Entstehungsgeschichte unseres Schlosses und die Sage von der Waise erzählte, deren Schloß ihm und uns allen unbekannt geblieben, bis Du ihn dahin ergänztest, daß das geisterhafte Läuten nicht zur Ruhe kommen könne, bis es in den Ohren des Schloßherrn ebenso gellend erklungen, wie es sonst in denjenigen der Dienstleute geschehen. Ich sehe meinen armen Vater noch immer vor mir, wie er die Sage, an der Du mit so warmem Ernste hingest, lachend als Ammenmärchen erklärte, aber ich sehe auch noch seinen zornigen Blick, als Du derselben rückhaltlos eine Deutung liehst, die Deinen Feinden willkommenen Stoff zu neuer Anklage gegen Dich in die Hände geben mußte. Albert ist nun tot und wird in einem höhern Lichte erkennen, was uns nur zu ahnen vergönnt ist, Deine Feinde haben ihre Schuld gebüßt, und meinem Vater sind in der Nacht, da das Schreckensgeläute in seinen Ohren erklang, die Schuppen des Irrtums und Wahnes von den Augen gesunken, der sich wie ein böses Verhängnis zwischen ihn und unser Glück gestellt. Und ich, warum sollt’ ich ungläubig zweifeln, daß eine unsichtbare Hand die Glocken geläutet, die Dich zu meiner Rettung vor Schande und Tod herbeigerufen? Drum komm, mein Geliebter, und eile, damit das Verhängnis erfüllt werde und die armen Seelen, die unter dem Fluche lieblosen Übermutes im Schlosse umgehen, durch den Bund unsere Liebe erlöst, zur Ruhe gelangen."
"Amen", rief Herr Rudolf, das Blatt zusammenfaltend. "Liebe löst jedes Lebensrätsel, und Treue vermag den schwersten Zauberbann zu brechen. Möge unser Glück dem ganzen Volke zum fröhlichen Vorzeichen werden!"
Die Linden am Schlosse standen noch in voller Blätterzier und warfen ihre Schatten auf eine Schar kräftiger Männer, die fröhlich und wohlgemut an langen Tischen saßen. Es waren die Kanoniere der Kompagnie König, welche der Herr v. Holligen bei seiner Rückkehr aus dem Welschlande zur Begrüßung ihres Hauptmanns und zur Nachfeier der Vermählung seiner Tochter versammelt hatte. Der alte Herr saß zwischen dem Wachtmeister und dem Belper-Fritz, die ihm von ihrem Sturm auf den Marterturm erzählten und dabei mit wehmütiger Dankbarkeit des greisen Schultheißen gedachten, während die Müllerin in ruhiger Würde neben Adelaide thronte, deren Schönheit der Glanz seligen Glückes umfloß. "Nun glaub’ ich selbst, wird die Waise erlöst zum Lichte eingehen", sagte Herr Rudolf lächelnd zu ihr, indem er auf den Obersten deutete, dessen Glas fröhlich mit denjenigen seiner Nachbarn zusammenklang; "denn sieh, dort sinkt die letzte Schranke, die bisher wackere Menschen, mit dem nämlichen Gottesadel, wenn auch unter verschiedenen Wappen, ausgestattet, als zweierlei Geschöpfe voneinander geschieden hat."