Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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XIX

Die Kanoniere standen schweigend an den Geschützen und horchten dem Schalle des Schusses nach; aber schon hatte sich der letzte Nachhall desselben an den höchsten Wänden des Weißensteins verloren, als ein zweiter Knall talaufwärts das Zeichen fortsetzte, und es verging eine Frist, in der die sämtlichen Stücke der Batterie ihr Feuer wohl zehnmal abgegeben hätten, bevor in der Richtung abwärts gegen Solothurn ein Blitz auffuhr, dem ein langsamer Donner nachrollte. "Wir waren lange die ersten", sagte kopfschüttelnd der Hauptmann, "und ich wünschte, die weiter aufwärts hätten uns diese Ehre vorweggenommen; der Lärm muß ja ganz in ihrer Nähe sein."

"Wenn wir dabei wären", rief der junge Lieutenant, "die dort nehmen uns dafür die Ehre des ersten Sieges weg!"

"Auch dazu würd’ ich mir von Herzen Glück wünschen", erwiderte Herr Rudolf ernst; "aber es scheint mir, das Gefecht ziehe sich rasch von der Höhe des Berges gegen das Dorf Lengnau herab. Die Unserigen müssen dort auf hinterlistige und wortbrüchige Weise überfallen worden sein. Reitet schleunigst nach Rüti hinauf, Junker, und fragt den Obersten von Grafenried um Verhaltungsbefehl – mich dünkt, wir könnten dort notwendig werden. Wer kennt den Weg am genauesten?"

"Ich, Herr Hauptmann", sagte der Belper-Fritz vortretend, "mit Erlaubnis kann ich den Junker am besten begleiten."

"Gut denn", nickte der Hauptmann; "schont die Pferde nicht!"

Als die zwei weggeritten waren, begannen die Glocken in Lengnau anzuschlagen, um in weniger als einer Viertelstunde all ihre Schwestern in den Kirchtürmen und Kapellen längs des Gebirges wach zu rufen und im Vereine das Land weithin mit schreckenvollem Geläute zu erfüllen. Den Glocken antworteten auf den Berghöhen mächtig auflodernde Feuerzeichen, die den Schnee, der noch in ihrer Umgebung lag, mit heller Glut übergossen und den fernsten Talschaften verkündeten, daß die Stunde des Kampfes angebrochen sei. Es war ein schauerlich schönes Bild, das die Nacht, gleichsam wild aus einem bangen Traume auffahrend, darbot, und über manches Herz, das sonst keine Furcht kannte, zog es bei diesem Anblicke bald wie Frosthauch, bald wie ein schwüler Sonnenstrahl. Das Mondlicht erblich neben dem Feuerscheine, der da und dort auf einer neuen Bergspitze emporschlug und Wald und Fels mit gigantischen Gestalten erfüllte, während immer frische Glocken ihren ehernen Ruf erschallen ließen, um das Sturmgeläute das weite Land hinabzutragen.

In der Batterie wurde kein Laut vernommen. Die Kanoniere schauten stumm in die Nacht hinaus, und selbst der Hauptmann war nicht imstande, dem mächtigen Eindrucke des Schauspiels Worte zu leihen; es nahm ihm einen seltsamen Druck von der Seele, als endlich der Wachtmeister aufatmend ausrief: "Bei meiner Seligkeit, so hab’ ich mir’s nie vorgestellt, und ich weiß nicht recht, ob ich jetzt lieber einen Franzosen totschlagen wollte oder selber sterben möchte."

"Du hast recht", sagte der Hauptmann ernst, "es ist eine heilige Sache, wenn ein ganzes Volk im Begriffe steht, für das Land seiner Väter und alles, was es Liebes und Teures umschließt, in den Kampf zu gehen. Drum versprecht mir nun auch feierlich, komme, was da wolle, gegen einen überwundenen oder wehrlosen Feind menschlich zu sein, dagegen Euern angewiesenen Posten ohne Befehl, selbst im drohendsten Angesicht des Todes nie zu verlassen und einer für den andern das eigene Leben, wo es sein muß, ohne Zögern in die Schanze zu schlagen. Versprecht mir das, wie ich es meinerseits Euch feierlich angelobe."

Die Kanoniere erhoben die Hände, und, ohne daß ein Laut gesprochen worden wäre, vernahm die Nacht einen Schwur, so groß und heilig wie irgend ein Gelübde, das unter Gebet und Glockenklang am Altare abgelegt wird.

Unterdessen dauerte der Lärm des Gefechtes fort, ohne wesentlich seine Richtung zu verändern. Es war offenbar, daß von beiden Seiten mit großer Hitze gestritten wurde. Das Knattern des Kleingewehrfeuers ging ununterbrochen wie das Prasseln eines Schloßensturmes, dazwischen der Schall von Salven größerer Massen, während hie und da ein auffahrender Blitz schon zum voraus den nachrollenden Knall eines Feldgeschützes verkündigte; doch fielen diese Schläge nur äußerst sparsam und hörten bald ganz auf.

Es war das ein banges Lauschen bei dem Gedanken, daß jeder dieser ungezählten Schüsse, die in ihrer Raschheit dem Ohre kaum erfaßbar waren, ein Menschenleben brechen könnte, und dieser Gedanke selbst mußte der Seele unwillkürlich die Bilder heraufführen, die das Leben am freundlichsten ausgeschmückt hatte. Es ist eine geheimnisvolle Strafe für die sündhafte Ungerechtigkeit, mit der wir in verzagten Augenblicken die schöne Gotteswelt so oft als ein Jammertal verklagen, daß das Dasein gerade am geöffneten Grabe den vollsten Zauber seiner Lieblichkeit vor dem Blicke entfaltet und den bereits zurückgelegten Weg um so sonniger erscheinen läßt, je dunkler und umnachteter der Pfad sich zeigt, den wir mit dem nächsten Schritte betreten müssen. Wie erst die Fremde das Herz mit der vollen Macht sehnsüchtiger Liebe zur Heimat erfüllt, so weiß auch nur die Todesnähe die verborgenste Glückseligkeit des Lebens aufzuwecken.

Während der Hauptmann über das Geheimnis dieser ewigen Ordnung sann und seine Seele sich in dem reinen Lichte jenes Sternes erging, der so manches Dunkel seines Lebens erhellte, mußte auch der Wachtmeister erfahren, was er noch nie bedacht hatte. Jetzt, da er mit der brennenden Lunte an der Kanone stand und drüben der Tod seine wilde Ernte begonnen hatte, wurde es im Angesicht der lodernden Hochwachten und unter dem Geheule der Sturmglocken still in seinem Herzen, als wär’ er daheim bei der Mutter in der freundlichen Stube und hörte dem Klappern der Räder zu. Aber die Stimme, die liebe Worte sprach, war nicht der Mutter Stimme, und sie selbst schaute lächelnd auf ein blühendes Antlitz, das hinter dem Spinnrade saß, bald ernst, bald schalkhaft mit den blauen Augen von dem Faden aufblickend. Dieses Bild war ihm zwar, seit er droben im Hause des Kirchmeyers von Fraubrunnen im Quartier gelegen, wachend oder im Traume schon oft erschienen und hatte ihn neckend begrüßt oder in Gedanken verloren angeschaut; aber es war immer rasch wieder verschwunden oder hatte sich von ihm abgewendet und mit dem Belper-Fritz allerlei lächerliche Possen getrieben. Jetzt aber saß es unbeweglich daheim, als ob es für immer dahin gehörte, allein mit ihm und der Mutter, die es ebenfalls Mutter nannte, und noch nie hatten sich seine gelben Haare so zierlich gegen die Wangen herabgekräuselt, noch nie waren diese Wangen so frisch und so rosig anzuschauen gewesen, und noch nie hatten die blauen Augen so freundlich dreingeschaut und die roten Lippen so herzgewinnende Worte gesprochen. Der Wachtmeister fuhr mit der Hand über die Augen und blickte nach der brennenden Hochwacht, die wie ein mächtiger Flammenhut die höchste Spitze des Weißensteins bedeckte; aber in dem Feuerscheine wurde das Bild nur lichter und glänzender und winkte ihm, hinaufzukommen zur Berghöhe, um Hand in Hand mit ihm auf das feuerbesäte Land niederzuschauen. Er blickte über den Fluß talaufwärts, wo sich die Schlacht noch immer verborgen durch die Nacht fortwälzte; doch plötzlich saß nun das Bild drüben an der steinernen Stufe der Kapelle, deren Glöcklein bald schwermütig, bald drohend herüberschallte, und erzählte von den wilden Guglern, die vor vielen hundert Jahren sengend und brennend ins Land gekommen, aber bei Fraubrunnen einen blutigen Untergang gefunden hatten. Die Gestalt an der Kapelle erhob sich höher und drohender, ihre weit aufflatternden Haare schienen sich zu entzünden und ihre Kleider in fliegende Flammen auszuschlagen, bis der Wachtmeister mit starren Blicken entsetzt ausrief: "Heiliger Gott, was ist das?"

"Wenn mich Lage und Richtung der Kapelle drüben nicht trügen", antwortete der Hauptmann, "so ist’s der Peterhof bei Grenchen an der Straße von Lengnau her, der in Flammen gerät. Die Unserigen werden bis dort zurückgeschlagen sein, sie waren ohne Artillerie – Gott sei’s geklagt, daß wir hier müßig stehen sollen."

Der Wachtmeister atmete schwer auf, wie einer, den das Tageslicht aus angstvollen Träumen weckt. Wie besorglich auch die Auskunft des Hauptmanns klang – Anna war doch nicht drüben jenseits des Flusses von Gefahren umgeben; sie saß zwar auch nicht bei der Mutter daheim in der Mühle am Holligerbach, aber sie befand sich wohlbeschützt im Vaterhause und dachte nun bei dem Sturmgeläute vielleicht mit heimlichem Bangen an ihn, der ihrer ja auch nicht vergessen konnte.

Drüben im Tale dehnte sich indessen der nebelhafte Schein immer heller und weiter aus, und in wenigen Minuten erhob sich eine Feuersäule, die weit umher die Gegend mit blutrotem Licht erfüllte. In diese schauerliche Helle wälzten sich schwarze Schatten herein, die sich bald in langgestreckte Reihen ausdehnten, bald wieder wie sturmgejagte Wolken zusammenrollten, in grauen Nebelwolken verschwanden oder in kleine Flocken zersplittert nach allen Seiten auseinanderstoben. Und immer mächtiger erhob sich die Flammensäule, um von Minute zu Minute das Schattenspiel greller zu beleuchten. Zuerst traten die schwarzen Umrisse eines Hauses hervor, aus dessen Fenstern ein glühender Widerschein glitzerte; seine Wände und Mauern begannen sich zu röten wie kahle Bergwände im sinkenden Sonnenlichte, und man sah deutlich, wie sich vor dem hellen Hintergrunde eilfertige Gestalten bewegten, bald einzeln, bald in Gruppen vereint, die mit anderen zusammenprallten oder flüchtig in das noch umgrenzende Dunkel verschwanden, aber der rote Schimmer an den Wänden wurde lichter und glänzender, und nach kurzem war es eine frische Glut, die wieder weiter leuchtete und die eben in die Dunkelheit verschwundenen Gestalten und Haufen aufs neue ans Licht brachte. In weniger als einer Viertelstunde schlug die Flamme über der letzten First empor, die sich im Umkreise erkennen ließ.

Aber jetzt schien sich allmählich auch das wilde Gewirre der Schattengestalten zu besserer Ordnung zusammenzufügen, und bald sah man nur noch langgestreckte Reihen über die beleuchtete Fläche heranziehen, und selbst das Knattern der Schüsse hatte so rasch nachgelassen, daß jeder einzelne Knall deutlich gezählt werden konnte. "Was hat das zu bedeuten?" fragte der Wachtmeister leise, ’’was meint Ihr, Herr Hauptmann?"

"Die Unserigen sind, fürcht’ ich, auseinandergesprengt und im Begriffe, jeden Widerstand aufzugeben", antwortete der Gefragte mit gepreßter Stimme. "Die geordneten Scharen, die dort herabziehen, sind Franzosen, und drum hat auch das Sturmgeläute in Lengnau aufgehört. Möge der Abend glücklicher enden, als der Morgen begonnen hat."

"Wenn’s nur einmal Tag ist", sagte der Wachtmeister getrost, "daß man auch sieht’ wen man zwischen die Finger nimmt. Ich glaube, die Franzosen fürchten das, daß sie wie Diebe bei Nacht und Nebel angreifen. Gottlob fängt es schon an zu heitern über den Lohnwald herein."

Der Hauptmann nickte beistimmend. Auch durch die ganze Batterie begann es frischer und lauter zu werden, je höher das Morgenrot über die Wälder hereinschwamm und je tiefer sein Licht in das Tal herniedersank. Und doch waren die Bilder nicht eben tröstlich, die es allmählich entschleierte. Droben im Tale schlugen die Flammen noch immer in einzelnen Wirbeln empor, während sich über der ganzen Stätte ein dickbrauner Rauch auftürmte, der unbeweglich, wie mit Wurzeln in dem Boden festgewachsen, vor dem Luftzuge festzustehen schien. Von dieser Rauchsäule her zogen bis diesseits der Häuser von Grenchen lange weiße Streifen heran, als wären da endlose Leintücher zum Bleichen ausgespannt. Als die Sonne ihre ersten Strahlen niederwarf, fing es über diesen Linien in tausend Lichtern zu glitzern an, und jetzt erst erkannten die Kanoniere, daß es die weißen Beinkleider der fränkischen Infanteriekolonnen waren. Daneben machten sich in Zwischenräumen die roten Büsche der Husaren bemerklich.

Während diese Massen unbelästigt, aber langsam die Straße jenseits des Flusses heranzogen, schienen die bernischen Truppen, die in der Dunkelheit gefochten hatten, vor dem aufziehenden Tage verschwunden zu sein. Nur da und dort ließ sich ein kleiner Trupp erblicken, der, unbekümmert um andere, eilfertig seines Weges dahinzog, wenige nur auf der breiten Heerstraße, über die schon bisweilen ein roter Husarenhaufe heranstob, die meisten schlugen die Pfade ein, die seitwärts gegen die bewaldeten Bergabhänge hinanführten. Droben an diesen Abhängen war ein emsiges Leben zu bemerken. Unablässig strichen über die Wiesen von Gebüsch zu Gebüsch einzelne Gestalten oder größere Haufen umher, die jedoch von keinem gemeinsamen Bande zusammengehalten schienen. Wie die einen aufwärts zogen, kamen die andern herabgelaufen, bis sie sich wieder seitwärts schlugen, um hinter Fels und Gebüsch unsichtbar zu werden. Am auffallendsten aber kam dem Hauptmann die Stille vor, die auf der Straße abwärts gegen Solothurn zu lag; wäre nicht dann und wann ein Reiter dahingejagt, so hätte man denken können, der ganze nächtliche Lärm sei ein leerer Spuk gewesen und, was sich weiter aufwärts zeigte, seien die dem noch verwirrten Auge begegnenden Überreste desselben. Selbst das gegenüberliegende Dorf Selzach, in dem doch die Nacht ein Bataillon gelegen, schien verödet und von Truppen entblößt zu sein; seit mit dem ergangenen Sturmgeläute die Tambouren Generalmarsch geschlagen, ließ sich von dort kein Laut mehr vernehmen.

Über diesen Beobachtungen war es bereits heller Tag geworden, als von oben her rascher Hufschlag ertönte und der Lieutenant mit Belper-Fritz auf schweißtriefenden Rossen angejagt kam. "Aufgeprotzt, Kameraden", rief der Junker schon von weitem mit leuchtendem Gesichte, "heute gibt’s endlich Arbeit, und am ersten Hauptsiege können wir auch noch teilnehmen!"

"Habt Ihr Nachricht?" fragte der Hauptmann erwartungsvoll, "was ist vorgefallen da droben?"

"Gute Nachrichten dazu", erwiderte der Lieutenant, "unsere Leute, die in Lengnau lagen, haben dem Franzmann einen blutigen guten Tag gewünscht, dann aber, scheinbar der Übermacht weichend, sich von der Straße seitwärts ins Gebirg zu dem Landsturm geschlagen. Man will den Feind herankommen lassen, um ihn dann von allen Seiten fassen zu können; drum sollen auch wir weiter abwärts an den Sägemühlen Stellung nehmen. Das wird ein lustiger Tanz werden, Kameraden!"

Der Hauptmann blickte fragend auf das Gesicht des Berichterstatters, dessen Augen so fröhlich leuchteten, als wäre er in der Tat zu einem Maientanze gerüstet; Rudolf gab sich daher den Anschein, als hätte die Botschaft ihn selbst von mancher Besorgnis erlöst, und in weniger als einer Viertelstunde trabte die Batterie in den engen Waldweg, der am Flusse abwärts gegen Solothurn führte. "Er glaubt es", dachte der Hauptmann, neben dem vor Ungeduld rastlos treibenden Jüngling herreitend, "und ich will seine fröhliche Zuversicht nicht durch Fragen wankend machen; im Notfalle werd’ ich ja selbst sehen, was zu tun ist."

Hinter den beiden aber sagte der Belper-Fritz leise zu dem Wachtmeister: "Der Junker hat ganz getreu berichtet, wie es ihm der Oberst aufgetragen, ich hab’ es selbst gehört, doch wurde auch noch anderes gemunkelt."

"Und was denn?"

"Nun, dir kann ich’s wohl sagen, du hast keine Angst, und am Ende ist’s nicht einmal gut, ein schwarzes Tennstor weiß anzustreichen. Die Unserigen sollen in Lengnau blutig geschlagen worden sein, und was nicht tot oder gefangen ist, zerstreut sich in den Bergen herum. Mir hat einer gesagt, man sollte die Oberoffiziere alle von den Pferden schießen, daß sie von Solothurn her keine Hilfe geschickt und denen weiter oben verboten haben, über die Brücke bei Leußlingen zu gehen. Ein paar von den Versprengten, die über die Aare schwimmen konnten, sollen erzählt haben, als die Kanoniere die ersten Schüsse abgefeuert, hätten sie die übrigen Patronen mit Sägemehl gefüllt gefunden."

"Mit Sägemehl, sagst du?"

"Mach’ doch nicht so laut – alle brauchen’s ja nicht zu hören; aber so haben sie erzählt, und die Flüchtigen sollen auch offen über Verräterei schreien."

Der Wachtmeister besann sich einen Augenblick, dann ritt er rasch, ohne dem betroffenen Belper-Fritz eine Antwort zu geben, zum Hauptmann an die Spitze des Zuges, und nachdem er eine kurze Weile leise mit diesem gesprochen, galoppierte er davon.

Als die Batterie nach langwierigem und mühsamen Marsche auf dem engen, holprigen Wege wieder aus dem Walde gegen die Sägemühle herabzog, mußten die Kanoniere unter einem allgemeinen Ausrufe der Überraschung nach dem jenseitigen Ufer schauen, das bisher ihren Blicken entzogen gewesen.

Gerade ihnen gegenüber stand an dem sanften Abhange ein Bataillon, mit der Front talaufwärts, in Linie aufgestellt, dessen Schützenketten bis an den Fluß herabreichten; die Oberoffiziere, die hinter demselben zu Pferd hielten, winkten den Herankommenden Grüße über den Fluß entgegen, und des Hauptmanns rasches Auge hatte deutlich gesehen, daß Herr v. Amiel der erste gewesen, der die Hand zu diesem unerwarteten Willkomm erhoben; aber ebenso deutlich erkannte er, wie derjenige, der neben dem Generaladjutanten hielt, unbeweglich blieb und, nachdem er einen prüfenden Blick nach der Batterie herüber geworfen, das Pferd wendete, um weiter rückwärts zu reiten. Dort stand ein anderes Bataillon in geschlossenen Kolonnen, und mehr aufwärts gegen den Berg hinan hatte eine Batterie Posten gefaßt. In den leeren Zwischenraum ritten eben einige Schwadronen rotröckiger Dragoner herein, während sich zwischen den Bastionen Solothurns hervor Scharen auf Scharen in vollem Marsche heranbewegten.

"Hurra!" rief der Junker v. Dießbach, den von jenseits Grüßenden den Hut entgegenschwingend, "hab’ ich nicht gesagt, wir werden sie bald in der Klemme haben? Und bei meiner Ehre, sie rennen wie blinde Dachse in die Falle; seht, dort ziehen die Weißhosen wahrhaftig schon die Straße herab."

Der Hauptmann ging schweigend zur Seite nach dem erhöhten Flußrande, um, von dort aus die Gegend überschauend, sich seine Aufgabe auf dem ihm angewiesenen Posten klar zu machen. Der scharfe Nachtwind hatte sich gelegt und der klare Morgenhimmel sich mit einem trüben Gewölke überzogen, das an den Abhängen des Jura niederhing. Am Fuße dieser Abhänge und fast bis zu der vom Nebel freigelassenen Höhe hinan zogen dichte Schwärme feindlicher Tirailleure, während sich auf der zwischen Fluß und Gebirge durch die Talsohle gehenden Heerstraße die geschlossenen Infanteriekolonnen, mit Reiterscharen und Artillerie untermischt, heranbewegten. Mochte der Plan der vereinigten Solothurner und Berner Führer nun sein, welcher er wollte, der erste Blick auf die fränkische Übermacht konnte klar machen, daß nichts übrig blieb als nach mutig bestandenem Kampfe der Rückzug hinter die Schanzen von Solothurn. Von dort aus konnten dann mit Erfolg Angriffsstöße auf den zwischen dem Gebirg und der Aare zusammengepreßten Feind versucht werden, wenn sich rasch genug die Mittel finden ließen, diesen auf beiden Flanken zu bedrohen und ernstlich zu beunruhigen.

"Nun gilt es, Kameraden!" rief der Hauptmann, zur Batterie zurückkehrend; "hoffentlich wird keiner vergessen, was der Schultheiß uns in jener Nacht im Rathause versprochen hat: es sind aller Augen auf uns gerichtet. Unverzagt, wir werden uns sehen lassen!"

Die Kanoniere begrüßten diese Erinnerung mit freudigem Zurufe, und in wenigen Augenblicken waren die Geschütze, durch Gebüsch verdeckt, aufgefahren. Noch eine erwartungsvolle Pause und mit einem Male erhoben sich jenseits über den ganzen Plan tausendfach sich kräuselnde Rauchwolken, aus denen krachende Blitze zuckten.

"Aber um Gottes willen, Herr Hauptmann", rief der Lieutenant, "was soll aus uns werden? In dieser Lage können wir keine Kugel absenden, ohne unsere eigenen Leute niederzuschmettern, sobald sie vorwärts rücken."

"Nur Geduld, Junker", erwiderte Herr Rudolf, aufmerksam über den Fluß schauend, "die Reihe wird bald an uns kommen, habt keine Sorge, seht Ihr dort?" Als der Lieutenant mit den Blicken der ausgestreckten Degenklinge seines Hauptmanus folgte, sah er, wie die drüben aufgestellten Kanoniere in schreckenvollem Laufe rückwärts eilten, und nur wenige versuchten, die Stücke mit fortzuschleppen. "Was soll das geben?" rief der Junker zwischen Zorn und Schrecken, "die Bursche können ja kaum ein halbes Dutzend Schüsse abgegeben haben!"

"Was es bedeutet, weiß ich auch nicht", erwiderte der Hauptmann ernst, "aber seht, da fängt auch das Fußvolk an zu weichen, um uns Platz zu machen." Er erhob sich im Bügel, einen Augenblick scharf hinüberspähend nach einem lichter werdenden Rauchwirbel, um dann ein Kommando zu rufen. Und kaum war das Wort von den Lippen, als zwei Doppelblitze auffuhren und ein krachender Donner die Luft erschütterte.

Die Arbeit hatte begonnen und wurde von den Kanonieren rüstig fortgeführt. Nach wenigen Ladungen schon hatten die sausenden Kugeln den Rauch über dem jenseitigen Ufer auf einer breiten Strecke weggefegt, und es ließ sich nun wieder deutlich erkennen, was dort in kurzer Zeit vorgegangen. Die rotröckigen Dragoner, die von ferne so trotzig aussahen, jagten zerstreut wie ein aufgescheuchter Gänsezug gegen Solothurn zurück, das Fußvolk wirbelte in regellosen Schwankungen durcheinander wie ein wogendes Ährenfeld, über dem sich entgegengesetzte Lüfte streiten, und vorwärts auf der Anhöhe standen einige Feldstücke, von Mann und Roß verlassen. Nur zunächst dem Flusse hielt noch eine festzusammengeschlossene Schar dunkler Scharfschützen, neben denen der Herr v. Holligen zu Pferde saß. Aber in drei großen Kolonnen rückten von der andern Seite auch die Franken heran, von denen sich eben eine starke Truppe ablöste, um, im Schnellaufe voraneilend, die verlassenen Feldstücke in Empfang zu nehmen. "Halt, Bursche", rief der Hauptmann, vom Pferde springend und sich hinter die erste Piece stellend, "da soll noch ein Wort gesprochen werden – daß Gott erbarm!" Seine Stimme zitterte vor Zorn, aber mit prüfendem Blicke und sicherer Hand richtete er das Geschütz, als ob er, an der Staffel stehend, einen feinen Pinselstrich zu führen hätte. Die Kanoniere hielten unwillkürlich inne und schauten atemlos auf die Schar, die in wenigen Schritten die Feldstücke erreicht hatte. Da winkte der Hauptmann, der Schuß krachte, und drüben stob der Haufe auseinander wie ein auf herbstlichem Saatfelde weidender Rabenschwarm, in den ein Stein geworfen worden. Ein dunkler Streifen, auf dem sich’s noch einen Augenblick hin und her zu bewegen schien, zeigte den Weg, den die Kugel genommen hatte.

Dem Schusse ließ die Schützenschar jenseits des Ufers ein lautes Freudengeschrei nachfolgen und lief, noch bevor die zweite Kugel im Laufe war, den Obersten v. Holligen an der Spitze, gegen die Feldstücke die Anhöhe hinan. "Schnellfeuer nach links", rief der Hauptmann, indem er seinem Geschütze rasch die bezeichnete Richtung gab, und im Augenblicke war die eine Pause still gewordene Batterie wieder in einen tosenden Feuerherd verwandelt. "Gut gemacht, Hauptmann – Gottesmann", schrie der außer der Batterie haltende Lieutenant in das Getöse hinein, "die Franzosen kriegen Respekt vor Euern Küssen und machen schneller rechtsum, als ich’s in meinem Leben gesehen habe, unsere braven Schützen saßen vor den Feldstücken drüben Posten, und bravo – unser Fußvolk fängt auch wieder an, seinen Weg zu finden – die Aargauer formieren ihr Feuer wieder und scheinen entschlossen ihre Stellung zu nehmen – die Emmentaler bilden eine Sturmkolonne, vielleicht daß sie mit dem Landsturm, der dort seitwärts von der Anhöhe herabstürzt, eine feindliche Kolonne niederzuschlagen beabsichtigen, und dort – parole d’honneur – dort bringt der General v. Büren die flüchtigen Dragoner in eigener Person zurück! "Ach", rief er, den Säbel schwingend, "könnt’ ich jetzt da drüben sein, aber hopp – was ist das? da fängt es, glaub’ ich, an Baumäste zu regnen!"

Diese Bemerkung war durch ein schwirrendes Krachen veranlaßt worden, das über den Lieutenant weg durch eine Tanne gefahren und mehrere ihrer Äste herabgeworfen hatte. Der Hauptmann trat von seinem Geschütze auf den Flußrand und rief fröhlich: "Um so besser, wenn uns die Herren einen neuen Zielpunkt geben, mit dem bisherigen hätten wir beim Vorrücken unserer Leute doch nicht mehr viel anfangen können." Er kam in die Batterie zurück. "Ein übermütig verwegenes Volk", sagte er zum Lieutenant, mit der Hand nach einigen Kanonen deutend, die weiter aufwärts am jenseitigen Ufer ihr Feuer eröffnet hatten; "beim Himmel – nicht einmal Blinden möcht’ ich meine Zwölfpfünder so schutz- und wehrlos preisgeben. Als sich der Hauptmann wieder hinter sein Geschütz gestellt, wurde es von Schuß zu Schuß ruhiger in den Bäumen, und bald stand ihr Gezweig so still’ als wär’ es noch nie von einem Sturme bewegt worden.

Auch in der Batterie wurde es wieder still. Durch ihr wirksames Feuer unfähig gemacht, dem vereinigten Anpralle der Bataillone und des Landsturmes standzuhalten, hatten die feindlichen Reihen in fluchtähnlicher Eile den Rückzug angetreten und waren außer Schußweite gekommen, so daß der Junker bereits anfing, die anbefohlene Aufstellung zu verwünschen, die kein weiteres Vorgehen am Flusse aufwärts erlaubte. Da wies der Hauptmann mit einem Ausrufe des Erstaunens auf das Kampffeld hinüber. Dort hatten die heimatlichen Banner, die eben noch in zuversichtlichem Siegeslauf vorangeweht, plötzlich Halt gemacht, ohne daß von feindlicher Seite ein erneuter Widerstand versucht worden wäre, und die Truppen selbst begannen in flutende Bewegung zu geraten, die sich nur zu bald nach allen Seiten hin in wilde, regellose Flucht ergoß. Die Dragoner stoben wieder die ersten im hellen Galoppe die Straße abwärts, der Landsturm floh wie eine Herde gehetzter Schafe den buschbedeckten Bergabhängen zu und von dem übrigen Fußvolk sah man ganze Scharen Gewehr und Tornister wegwerfen, um ungehinderter davonlaufen zu können. Da und dort stellte sich einzelnen Haufen ein Offizier entgegen, der sie mit blankem Degen zum Standhalten nötigen wollte; aber statt des Gehorsams ward ihm ein wütendes Geheul zur Antwort, und einen Augenblick später war er von dem Strudel mit fortgerissen oder in demselben untergegangen. Selbst die Schützen drüben an der Anhöhe, die bisher von ihrem Posten aus ein wohlgezieltes Feuer unterhalten, fingen an stutzig zu werden, zuerst einzeln, bald in ganzen Trupps nach der Heerstraße herabzurennen, und in wenigen Minuten stand der Herr v. Holligen seelenallein bei den aufs neue preisgegebenen Feldstücken. Einen Augenblick blieb er unschlüssig an sein Pferd gelehnt, dann stieg er langsam in den Sattel, ohne sich von der Stelle zu regen, als wollt’ er den flüchtigen Schwärmen, weithin über das Feld sichtbar, zum Sammelpunkte dienen oder alle Blicke des Feindes auf sich selber ziehen, um sie von der schmachvollen Flucht abzulenken. Sprachlos vor Überraschung hatten die Kanoniere diesen Vorgängen zugeschaut, bis der Junker ausrief: "Ist das alles Wahrheit, was ich da sehe, oder ein höllisches Gaukelspiel? Beim Himmel, es muß das letztere sein!"

"Wenn ein Rätsel das andere lösen könnte", antwortete der Hauptmann, indem er mit seinem Degen nach der Stadt hinwies, "so läge die Erklärung dort auf den Türmen; aber es geht mir wie Euch, Junker; auch mir scheint, was sich dort zeigt, ein verderbliches Trugbild zu sein." Als sich die Blicke hinabwandten, erhob sich ein dumpfes Gemurmel in der Batterie, das bald in laute Ausrufe des Unwillens und der Verwünschung überging. Von dem weit schauenden Turme der St. Urs-Kathedrale flaggte eine weiße Fahne von riesiger Größe in das Land hinaus, und auf allen Bastionen und Mauertürmen wurden Wimpel von gleicher Farbe aufgezogen. Solothurn mußte kapituliert haben.

Die Franzosen, die offenbar von der unerwarteten Wendung der Dinge selbst überrascht, eine Weile Halt gemacht hatten, begannen nun wieder vorzurücken, jedoch keineswegs in der Meinung, die Flüchtigen sich ungestört in die Berge verlaufen oder hinter die Stadt zurückziehen zu lassen. Die rasch heranziehenden Tirailleure feuerten, sobald sie einen Feind in dem Bereich ihrer Büchse glaubten, und die Husaren brachen da und dort mit lautem Geschrei gegen einen langsamer abziehenden Haufen hervor. "Frisch dran, Kameraden", rief der Hauptmann mit zorngerötetem Gesichte, "solange uns noch eine Patrone bleibt und der alte Herr drüben auf der Anhöhe steht, sollen auch uns die Weißen Stadtlappen wenig kümmern." Aber wie sich bei diesen Worten wieder alle Blicke nach dem Herr v. Holligen richteten, bäumte sich dessen Pferd plötzlich empor und stürzte mit dem kraftlos herabsinkenden Reiter zur Erde nieder. "Nun gilt es, deinen Vater zu retten, Adelaide", murmelte Herr Rudolf, an sein Geschütz springend, und im Augenblick verschlang ein donnernder Knall den Beileidsruf, der sich beim Sturze des Obersten erhoben hatte. Die Kugel fuhr durch eine auf der Straße hersprengende Husarenschwadron, die vor dem vernichtenden Geschosse wie eine Hand voll ausgestreuter Körner auseinander stob. Auch die übrigen Geschütze fanden ihr richtiges Ziel, und der Anmarsch der Feinde war plötzlich wieder aufgestaut; aber diesmal kannten diese den Gegner, mit dem sie es zu tun hatten, und in kurzer Zeit wimmelte das jenseitige Ufer von einem Jägerschwarm, der aus der Erde hervorzukriechen und nach abgegebenem Feuer wieder in dieselbe zu versinken schien. Jetzt krachten die Gebüsche nicht und warfen keine Äste auf die Kanoniere herab, neben dem Tosen der Batterie wurde dem Ohre nicht einmal vernehmlich, welch heimliches Zischen durch die Zweige ging, aber bald hörte dieser und jener seinen Kameraden einen leisen Schrei ausstoßen und sah, wie er totenbleich sich zurücklehnte oder lautlos zu Boden sank. "Ist denn keiner von Euch da drüben?" schrie der Hauptmann, "wagt es von Tausenden keiner, den alten verwundeten Mann dort aus der Hand der Feinde zu retten? Gottes Wunder, so wär’ es auch kein Unrecht, Euch die ganze Verfolgermeute ungehindert auf den Nacken kommen zu lassen." Er mußte sein Geschütz von neuem richten, wobei ihm schon kein anderes Mittel mehr übrig blieb, als die Kugel den Abhang der Anhöhe, auf welcher der Oberst lag, streifen zu lassen, um die herandringenden Tirailleure durch die aufgewühlte Erde abzuschrecken; da rief der Lieutenant: "Es kommt einer – ach, daß ich ihm helfen könnte – der Himmel sei mit dem Braven!" Und wirklich brach drüben aus den wirren Knäueln der Flüchtigen ein Reiter hervor, der in rasendem Galoppe die Anhöhe hinanjagte. Die feindlichen Jäger, die von den Kugeln des Hauptmanns abgehalten wurden, von der andern Seite näher heranzudringen, schickten anfänglich dem Kühnen ein lebhaftes Feuer entgegen, und ein kleiner Trupp rannte weiter aufwärts gegen den Berg, um auf einem Umwege das Ziel zu erreichen, aber der Reiter hatte unbeirrt von den Kugeln, die ihn umschwirren mußten, die Anhöhe erreicht, und als die Feinde sahen, wie er droben vom Sattel gesprungen, den Verwundeten auf das Pferd hob und sich dann selbst nachschwang, da kam auch über ihre Herzen die Achtung, die Tapfere dem Tapferen zollen, und unter lautem Geschrei und Hüteschwingen gaben sie zu erkennen, daß derjenige, der den Tod in ihrem Angesichte verachtet, vor ihnen sicher sein sollte. Als der Hauptmann dies bemerkte, stellte er sein Feuer ebenfalls ein, und nun trat einer jener erhebenden Momente ein, mit denen sieh der edlere Menschensinn mitten im Schlachtgewühle ehrt, da der Reiter unter dem schweigenden Zuschauen beider Gegner sorgsam mit seiner Last die Anhöhe herabzureiten sich anschickte. Kaum aber hatte er sieh gewendet, brach durch die ganze Batterie ein erschütternder Freudenruf. Der Brave, der dort den Verwundeten im Arme trug, war keiner der kriegsgewohnten ritterlichen Freunde des Schloßherrn v. Holligen, der sieh für ihn in den Tod gewagt, es war nur sein bescheidener Lehensmann, der Sohn der Müllerswitwe am Schloßbache.


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