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Im alten Rathause, das trotzig wie eine feste Burg, vom hohen Aarborde niederschaut, saßen die Häupter der Republik zusammen. Der Uneingeweihte konnte freilich nicht wissen, was in diesen streng verschlossenen Räumen vorging, aber das unruhige Treiben vor denselben nach längst eingebrochener Nacht beurkundete hinlänglich, daß auch hier das Leben aus den gewohnten Gleisen gewichen sei. Vor den Treppen gegen die Kreuzgasse stand ein zahlreicher Militärposten unter Gewehr; die Ratsdiener eilten in ihren schwarzroten Amtsmänteln eilfertig zu und ab, bald einen der gnädigen Herren fortbegleitend, bald mit einem andern zurückkehrend, den sie aus entfernt gelegener Wohnung herbeigeholt. Sogar ein Trupp rotröckiger Dragoner hielt auf dem Platze, von dem dieser und jener nach leise empfangenem Befehle davonstob. Mehr als ein Dutzendmal gingen Boten auch nach einem Hause in der Junkerngasse, um dort nach einem Herrn v. Amiel zu fragen; aber jedesmal wurde die Antwort erteilt, daß er noch nicht zurückgekehrt sei und man nicht wisse, wohin er gegangen.
Dieses geräuschvolle Tun zu so ungewohnter Stunde hatte die Nachbarschaft des Rathauses begreiflich bald aufmerksam gemacht, und allmählich drängten sich dichte Haufen zu beiden Seiten desselben. Und wieder flogen bange Gerüchte umher wie eine Schar unheimlich flatternder Totenkäuzlein. Schon einige Male hatte sich ein Mann, in einen weiten Mantel gehüllt, durchgedrängt, um die breite Treppe hinanzusteigen und nach kurzer Zeit wieder herabzukommen. Die Wache ließ ihn, nachdem er das erstemal einige Worte mit ihr gewechselt, ungehindert passieren, so daß sich die Blicke aller Nahestehenden neugierig auf die vermummte Erscheinung richteten. Auch jetzt kam sie wieder die Treppe herabgegangen, wußte sich aber so rasch einen Weg durch die Menge zu bahnen und in die Dunkelheit der aufwärtsgehenden Straße zu verschwinden, daß abermals kein Erkennen möglich war. Nur ein einziger Mann, der sich seit einigen Augenblicken hinter dem Gedränge an einen dunklen Bogenpfeiler postiert hatte, horchte dem Schalle der an ihm vorübergehenden Schritte aufmerksam nach und murmelte dann leise: "Was schleicht der herum? Ich will verderben, wenn es nicht der Junker v. Dießbach ist." Und wie ein unhörbarer Schatten löst, er sich von dem Pfeiler ab, um vorsichtig von Bogen zu Bogen dem Vermummten nachzuschleichen.
Dieser war oberhalb des St. Johannsenkellers von der Straße ebenfalls in die schwarznächtige Laube getaucht, und hastig fragte ihn eine Stimme: "Bringst du noch keinen bestimmten Bescheid, keinen Trost, Albert?"
"Es ist schwer, etwas Genaueres zu erfahren", antwortete der Gefragte leise; "wie mir angedeutet wurde, handelt es sich nicht sowohl um die frühere Anklage gegen Rudolf, als um die schwere Frage, was unter den Umständen ratsamer sei, die Vollziehung des bereits gefällten Urteils oder die Kassation desselben mit förmlicher Frei- und Ehrenerklärung."
"Welch feige Erbärmlichkeit", erwiderte die vor innerer Entrüstung zitternde Frauenstimme; "was kann denn unter allen Umständen ratsamer sein als Gerechtigkeit gegen einen schuldlosen Angeklagten!"
"Nicht so laut, Adelaide, und bedenke, daß nicht jeder mit deinen Augen sieht; dein Vater ist sonst wohl ein gerechter Mann; aber gerade er steht jetzt unter den hartnäckigsten Gegnern einer Freisprechung, wenigstens vor beendigtem Kriege."
Ein lautes Aufatmen, eine schmerzlich unterdrückte Klage, die weder ein Wort findet noch wagt, war die einzige Entgegnung auf diese Einwendung; dann aber sagte das Fräulein nach einer stummen Pause: "Nun will ich zu ihm, Albert, und werde den Weg allein finden, wenn du mich nicht begleiten magst. Du wirst nicht von mir verlangen, daß ich vielleicht das letzte Glück meines Lebens von der Gnade dieser gnädigen Herren und der Gerechtigkeitsliebe dieser Richter, seien sie wer sie wollen, abhängig mache."
Diese Worte waren mit einem solchen Ausdrucke des Schmerzes und zugleich tiefster Bitterkeit gesprochen, daß der Junker keine Gegenvorstellung mehr wagte. Er sagte daher: "Sei nicht unbillig, Adelaide, und hüte dich, Fräulein von Holligen, dein Herzensgeheimnis so vorschnell Leuten anzuvertrauen, die doch mit Rudolf nichts gemein haben als die gemeinsame Farbe ihres Uniformrockes! Ein Besuch um Mitternacht im Marterturme – verstehe mich wohl: was du für dich selbst beschließen darfst, kann und will ich selbst ausführen helfen."
"Dann komm, Albert, ich danke dir für deine Vorsorglichkeit, aber an meinem Entschlusse kann sie nichts mehr ändern."
"Wohl denn!"
Als die beiden auf die Straße hinaustraten, streckte sich hart nebenan ein Kopf hinter einem Laubenpfeiler hervor, um ihnen nachzuschauen, bis sie in der Dunkelheit die Straße aufwärts verschwunden waren. Der Mann trat ebenfalls aus der Laube, blieb aber sogleich wieder stehen, indem er, mit dem Fuße auf den Boden stampfend, bald nach dem lichterschimmernden Rathause abwärts, bald die nachtschwarze Straße aufwärts blickte. "Verdammt, Jakob, daß du das nicht früher gewußt hast! das wär’ ein profitables Geschäftchen gewesen. Die Holligerin verkleidet in den Marterturm – das hochmütige Fräulein und der König – Teufel auch, wer hätte das vermuten können! Brr – wie wird der Herr Marquis ein Gesicht machen. wenn er draußen das Nest leer findet und ich ihm sage, daß das Vögelein unterdessen hier wie eine lichtscheue Fledermaus herumgeflattert ist." Er kehrte plötzlich um und begann rasch die Straße aufwärts zu gehen. "Am besten ist’s doch", sprach er laufend in abgebrochenen Sätzen in sich hinein, "du siehst dich noch ein wenig genauer um – drum hab’ ich auch, ohne recht zu wissen warum, die Filzschuhe anziehen müssen – sapristi, vielleicht könntest du unterwegs für ein hübsches Trinkgeld ohne große Mühe das Goldfischlein immer noch ins Netz des Herrn Marquis jagen. Der Junker – puh!" Er hielt Daumen und Zeigefinger zusammengelegt an den Mund, als ob er eine kleine Feder in die Luft blasen wollte.
Unter solchen Selbstgesprächen lenkte der Mann aus der Metzgergasse durch das kleine Seitengäßchen gegen den Zeitglockenturm zu, mußte aber, hier angelangt, trotz der Eile, die ihn innerlich antrieb, unwillkürlich stehen bleiben. Gerade über dem Turme trat der Mond in eine kleine Wolkenlücke und goß über Giebeldach und Mauern einen so tiefroten Schein herab, als müßte jeden Augenblick eine nur spärlich verhüllte Flammenglut aus dem Innern hervorbrechen. Rings standen die Häuser stumm, in schwarze Schatten verhüllt; aber der alte Turm schien, von dem plötzlichen Lichte aus dem Schlafe gerüttelt, sich noch halbträumend zu regen und seine steinernen Glieder auszurecken. Die Ziffern der alten Uhrtafel blinkten wie anglimmende Feuerstreifen, während der nebenansitzende Uranus sein graues Haupt hin und wieder neigte und mit mahnender Hand das Stundenglas emporhob. Er mußte wohl auch den Hahn, seinen Nachbarn, geweckt haben, der langsam die Flügel erhob, um sie schlaftrunken wieder fallen zu lassen. Jetzt aber hob plötzlich ein geheimnisvolles Schwirren an, der bärtige Zeitgott schwang sein Stundenglas in der dürren Rechten, der Hahn ließ einen hellen Ruf ertönen, und das kleine Seitenglöcklein schlug die letzte Viertelstunde vor Mitternacht mit so bang nachzitterndem Klange, daß selbst über das Herz des Judenbuben ein kalter Schauer strich. "Zum Henker", rief er, durch den unbewachten Torbogen eilend, "das jammert ja wie zur letzten Ölung."
In seiner Hast bemerkte er nicht, daß im Dunkel des Torgewölbes noch jemand außer ihm den bangen Klängen des Glöckleins gelauscht und nun durch seinen Ruf erschreckt wurde. "Mein Gott", flüsterte das Fräulein leise, "wer ist das, Albert?"
"Wenn mich die Stimme nicht getäuscht hat", erwiderte der Junker, der Gestalt nachblickend, die geräuschlos über den mondbeschienenen Platz oberhalb des Torbogens wegglitt, "so ist’s einer, dessen Namen ich zu dieser Stunde nicht aussprechen mag. Warten wir, bis er uns weiter voraus ist."
"Aber da kommt wieder jemand die Straße herauf."
"Es scheint eine Patrouille zu sein; gehen wir gleich hintendrein, so können wir vielleicht unbemerkt am Posten beim Christoffelturme vorbeikommen."
Die taktmäßigen Schritte kamen bald heran, und zwischen hinein ließ sich das Geräusch des in rascher Bewegung an die Hüfte schlagenden Seitengewehres vernehmen; aber als das kleine Pikett aus dem Dunkel der Straße auf den Turmplatz trat, schimmerte den Harrenden das Rot eines Ratsdienermantels entgegen.
"Halt, was ist das, was will der mit dem Militärbegleit?" flüsterte der Junker; "bleib’ ruhig stehen, Adelaide, ich will mich erkundigen."
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er mit scheinbar gleichgültigen Schritten durch den Bogen auf die Lichtung hinaus und ließ dort den Trupp an sich herankommen, indem er den Ratsdiener freundlich beim Namen nannte. Dieser rückte, sobald er den nächtlichen Wanderer erkannt, ehrerbietig an seinem mächtigen Dreispalter und antwortete. "So schnell?" rief der Junker laut, "ist’s möglich?"
"In zehn Minuten höchstens werden wir zurück sein", erwiderte der Ratsdiener.
Der Junker ließ die Mannschaft abziehen und eilte auf seine Begleiterin zu. "Was gibt’s, Albert? rief sie ihm ängstlich entgegen, "was sagt der Mann?"
"Komm, komm", antwortete er geheimnisvoll und eilfertig, "im Marterturme haben wir nichts mehr zu schaffen; glaub’ mir’s und folge mir, du wirst’s nicht bereuen."
Er zog die Überraschte und Halbwiderstrebende wieder die Straße abwärts dem Rathause zu, ohne sich viele Mühe zu geben, ihre Fragen zu beantworten. "Du wirst’s bald sehen, Cousine", war sein ständiger Trost, mit dem er ihre bald klagenden, bald vorwurfsvollen Zweifel zu beschwichtigen suchte, "komm nur schnell!"
Vor dem Rathause war unterdessen ebenfalls ein neues Leben erwacht, und die vorher so ruhige Menge wogte durcheinander wie eine vom plötzlich einfallenden Windstoße aufgeregte Wasserfläche. Die Mauern des alten Baues, die Jahrhunderte lang so manches Geheimnis treulich bewahrt, aus dem Glück oder Unheil über die Lande zwischen dem Léman- und Bodensee sich ergossen, waren nicht mehr stark genug, diese Nacht ihren Dienst zu erfüllen; was hinter ihnen beraten und verhandelt worden, quoll durch Ritzen und Fugen heraus, und das Volk wogte immer mächtiger gegen die Treppen heran. Nur mit äußerster Mühe gelang es dem Junker, sich mit seiner Begleiterin durchzudrängen, und als er die ersten Stufen erstiegen, schoß ihm die Menge nach wie ein angeschwollener Strom. Schildwachen und Ratsdiener gaben ihren vergeblichen Widerstand auf, im Augenblick waren Treppen, Terrasse und der breite Korridor angefüllt und der Junker selbst mit dem Fräulein bis hart an die Flügeltüre des Beratungssaales vorgedrängt.
Im Augenblicke ertönte ein kräftiger Ruf von der Treppe her: "Sie kommen – Platz gemacht!" Unter der Eingangstüre erschien der schwarzrote Mantel des Ratsdieners und hinter ihm – – Adelaidens Augen, die bisher mit so fieberhafter Glut an diesem Eingange gehangen, füllten sich plötzlich mit Tränen. Der Junker spürte das bange Erzittern, mit dem sie sich an seine Schulter lehnte, er legte seinen stützenden Arm fester um den schlanken Leib und träumte sich einen Augenblick in süßem Schauer selbst als den Mann, dem dieses Erbeben galt und der jetzt, von seinen Unteroffizieren umgeben, festen Schrittes seinen Richtern entgegenging. Der Ratsdiener öffnete die Türe, und mit atemlosem Schweigen blickte die Menge in ein großes, dunkel behangenes Gemach, von dessen Decke ein Kronleuchter dämmernde Helle niedergoß.
Gerade der Türe gegenüber saß auf erhöhtem Sitze der Schultheiß, zur Linken und Rechten ein großer Halbkreis von Männern, die verwunderte oder unwillige Blicke auf die Menge herauswarfen. Der Ratsdiener wollte, nachdem sein Geleit eingetreten, pflichteifrig die Flügel der Türe zudrücken, aber schon hatte sich’s auf beiden Seiten der Mauer entlang in so fester Masse vorgeschoben, daß seine Mühe vergeblich blieb und er sich in zweifelnder Verlegenheit nach dem Schultheißen umschaute. Dieser machte mit der Rechten eine kurze abwehrende Bewegung, und der dienstbare Rotmantel trat bescheiden in eine Ecke zurück.
Nach einer erwartungsbangen Pause erhob sich der Schultheiß langsam von seinem Sitze und rief mit feierlicher Stimme:
"Hauptmann König, tretet heran, Euer Urteil zu empfangen!" Der Gerufene trat einen Schritt vor seine Unteroffiziere, neigte mit leichter Beugung das Haupt, um sogleich wieder seinen Richtern gegenüberzustehen. "Im Namen des Geheimen Rates", fuhr der Schultheiß mit tiefer, aber weitschallender Stimme fort, "Eurer gnädigen Herren und Obern, bei denen Ihr des Landesverrates verklagt waret, und im Namen des Spezialgerichtes, das diese Klage zu untersuchen, prüfen und zu erdauern hatte, spreche ich nach abermaliger Prüfung der Anklage Euch, Hauptmann König, von jeder Klage und Schuld los und ledig; in der Meinung, daß Euch der gewaltete Untersuch in keinerlei Weise an ehbesessenen bürgerlichen und militärischen Ehren irgend einen Eintrag tue und daß Ihr für erlittene Schädnis volle Genugtuung erhaltet. Zeugnis dessen soll jeder geben, der meine Worte hört. In weiterer Folge seid Ihr von dieser Stunde an in Dienst berufen zur Verteidigung und Schirmung des geliebten Vaterlandes wie ehedem als Hauptmann der ersten Zwölfpfünderbatterie, die im bevorstehenden Kampfe Euch und sich selbst ehren möge. Daß Gott es walte!"
Vom Korridor her ertönte ein mühsam unterdrückter Schrei, dessen Ton und Ausdruck dem Ohre nicht verraten konnte, ob ihn Freude oder Schmerz ausgepreßt; nicht einmal der Junker war darüber im klaren, dem seine Begleiterin auf teilnehmende Fragen nur mit einem unaufhaltsamen Weinen Antwort gab; die von so mächtigen Aufregungen müde gehetzte Natur ließ sich nicht länger mehr gebieten.
Herr Rudolf hatte sich mit rascher Bewegung nach diesem Ausrufe umgewendet; dann aber sagte er mit gedämpfter Stimme, seine Rechte über die Unteroffiziere ausstreckend: "Und diese da – meine Kameraden?"
"Ihr und Euere Soldaten", sprach der Schultheiß mit einer leisen Neigung seines Hauptes auf diese Fragen gegen die Kanoniere gewendet, "Ihr alle seid, wie Ihr wohl wissen müßt, der Strenge des Gesetzes zu schwerer Strafe verfallen. In Anbetracht aber, daß Euere Absicht besser war, als Euer Tun scheint, soll Euch diesmal Gnade für Recht zuteil werden. Und nun geht und vergesset im Felde nicht, daß Ihr ein Vergehen gut zu machen habt und daß aller Augen auf Euch gerichtet sein werden!"
Der Hauptmann legte mit tiefer Verbeugung die Hand auf die Brust, und hörbar zitterte seine Stimme, als er sagte: "Nicht für mein Urteil dank’ ich Euch – ich war mir keiner Schuld bewußt; aber die Nachsicht, die meinen Freunden zuteil geworden, soll unvergessen bleiben."
Er erhob sich noch einmal, den Kreis seiner Richter zu überschauen; der Schultheiß neigte grüßend das graue Haupt, und mehr als ein strenges Gesicht schien milder auf den Freigesprochenen herüberzublicken. Aber einer saß stumm und finster, ohne die Augen aufzuschlagen. "Arme Adelaide", seufzte Rudolf, sich abwendend; "das ist nicht allein mehr der Richter und Aristokrat, das ist der stolze Vater, der unser Herzensgeheimnis erfahren."
Als der Hauptmann mit seinem Begleite den Korridor durchschritten hatte, brach die bisher lautlose Menge in stürmende Bewegung aus. Sie drängte sich der Terrasse zu, von der vielstimmiger Jubelruf die stillen Straßen weithin mit mächtigem Schalle erfüllte.
Unten an der Treppe streifte mit leisem Gruße ein Mädchen an dem Befreiten vorüber, mit rascher Bewegung seine Hand ergreifend. Als er dieselbe öffnend gegen das Licht hielt, fuhr er froh erschreckend zusammen über den Glanz, der ihm entgegenschimmerte. Es war das Medaillon, dessen italienische Kunst er mehr als einmal mit demütigem Sinne betrachtet, noch ehe sein Auge einen Blick nach dem herrlichen Originale gewagt hatte, aber als er nun mit klopfendem Herzen um sich schaute, war die geheimnisvolle Botin von der wogenden Menge weggeschwemmt.
"Jetzt eile dich", sagte der Junker, wieder in das Dunkel der Straße tretend", daß wir vor deinem Vater das Schloß erreichen!"
Diese Eile wäre so nötig nicht gewesen. Es mochte wohl eine Stunde später sein, als der Herr v. Holligen an der Wache beim Christoffel vorüberritt. Diesmal gönnte er dem Posten kein freundliches "Gute Nacht". Es sah düster und unheimlich aus im Herzen des nächtlichen Reiters, wie es stets bei einem Menschen aussieht, der plötzlich eine Handhabe verloren, an der er die ungewisse Zukunft glaubte festhalten und leiten zu können. Der Oberst hatte vor andern für die drohenden Stürme festes Vertrauen in die Treue und Kraft des Volkes gesetzt, er hatte in diesem Vertrauen nicht nur von sicherer Rettung des Vaterlandes, sondern auch von der Erneuerung des Glanzes verschwundener Heldenzeit geträumt; und jetzt? Die Energie und Anhänglichkeit des Volkes hatte sich heute wohl in überraschender Weise bewährt, aber nicht rettend und erlösend, sondern zerstörend und verheerend. "Der Stettler hat recht", sagte er vor sich hin, "wir haben heute ein schönes Stück jahrhundertealter Bernergeschichte begraben; die Grundsäulen sind gelockert, und der Bau droht zusammenzustürzen."
Aus diesem Sinnen wurde er durch das plötzliche Stutzen des Pferdes geweckt, das, die Ohren spitzend, heftig zu schnauben anfing. "Na, Alter", sagte der Oberst, indem er die Hand erhob, um den Hals des Tieres zu streicheln; aber bevor er die sich sträubende Mähne berührt, knallten vor ihm die Straße aufwärts zwei rasche Schüsse, denen ein lauter Schmerzensruf folgte. "En avant", rief der Reiter, sein Pferd antreibend, während seinem spähenden Blicke unzweifelhaft schien, daß über dem Schneestreifen, der sich am Fuße der Anhöhe hinzog, die ihn noch von seinem Schlosse trennte, schattenhafte Gestalten nach dem Wald hinüberflüchteten. Zur Stelle gekommen, wo sich der Weg von der Straße nach der Mühle abzweigt, hörte er ein dumpfes Röcheln am Boden und, als er rasch abgesprungen, fand er da einen Mann liegen, der nur noch unverständliche Laute von sich zu geben vermochte. Ein breiter Blutstrom war bereits unter dem Mantel hervorgedrungen, die einzelnen Schneeflecken an der Straße rötend. Der Herr v. Holligen lief nach der Mühle, die Leute mit lautem Rufen zur Hilfe herauspochend. Als sie mit Lichtern herbeikamen und er sich über das verblichene Gesicht des Toten hereinbeugte, rief er entsetzt: ,,Barmherziger Himmel – mein Vetter, der Junker v. Dießbach!"