Jakob Frey
Die Waise von Holligen
Jakob Frey

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Der Wachtmeister und seine Gefährten hatten, vor Überraschung stumm, kaum einen Augenblick an dem Eingange gestanden, als vom Tore her ein Kanonier mit der Meldung kam, der Herr v. Holligen und der Oberst Stettler seien drunten und verlangten eingelassen zu werden. "Ihr weist jeden ab, bis wir wieder zurück sind", rief der Wachtmeister ohne Besinnen, "selbst wenn’s der Schultheiß wäre! Und du, Meister Kratzer, rasch eine Laterne her und uns in dem Loche da vorangeleuchtet!"

"Ich habe keine", antwortete der Turmwärter, unruhig dem Soldaten nachschielend, der mit dem erhaltenen Befehle zurückeilte; "ich kann Euch nicht vorzünden."

"Was, keine Laterne?" fragte der Wachtmeister zornig indem er sein Gewehr in die Höhe hob; "hast schon vergessen, was ich dir vorhin gesagt habe?"

"Bei meiner Seele Seligkeit, ich habe keine", erwiderte Meister Kratzer ängstlich; "der Judenbube hat die meinige mitgenommen, glaubt es mir; aber sie wird ihm nichts nützen, da er nicht mehr Zeit hatte, sie anzuzünden."

"Nun denn – sonst vorwärts und den Weg gezeigt!" rief Belper-Fritz, welcher dem auflodernden Zorne seines Kameraden nicht viel Gutes zutraute und den Turmwärter mit einem kräftigen Rucke die schmalen Stufen hinabschob; "einen so großen Halunken, wie der Judenbub einer ist, werden wir auch im Dunkeln finden können."

"Sechs Mann gehen mit", befahl der Wachtmeister, hinter den beiden Vorangehenden nachsteigend; "die übrigen bleiben da und bewachen den Eingang!"

Nach wenigen Schritten befand sich die vorgehende Mannschaft von tiefer Dunkelheit umgeben, die dem noch nicht daran gewöhnten Auge so undurchdringlich erschien, daß es nicht einmal die hart ans Gesicht gelegte Hand zu unterscheiden vermochte; dagegen war der Gang hoch genug, um selbst dem großgewachsenen Wachtmeister eine völlig aufrechte Stellung zu gewähren, und so breit, daß zwei Mann nebeneinander gehen konnten. Ursprünglich war er wohl zu kriegerischem Zwecke angelegt worden und hatte wahrscheinlich als gedeckter Verbindungsweg zwischen den festen Türmen der Stadtmauer entlang gedient; aber nachdem die Anlage ihre militärische Bedeutung verloren, wurde auch wenig mehr für ihre Unterhaltung getan. Geröll und herabgestürzte Steine bedeckten überall den naßglitschigen Boden, wodurch das Vordringen äußerst mühsam und in der schwarzen Finsternis selbst gefährlich wurde; dazu kam noch eine kalte, feuchte Moderluft, die den Atem zu versetzen drohte und sich auf die vor innerer Aufregung und äußerer Anstrengung erhitzten Glieder der Kanoniere wie eisiges Bleigewicht legte. Selbst der Wachtmeister mußte sich einen Augenblick an die Seitenwand lehnen, um all seine Kräfte zu dem neuen Unternehmen zu Hilfe zu rufen. "Frisch ausgehalten, Kameraden!" sagte er tief aufatmend, "nun bleibt nicht anderes mehr übrig, wir müssen ans Ziel."

"Was war das?" rief einer der Gefährten hinter ihm aus der Finsternis, "ist nicht droben ein Schuß gefallen?"

"Ich weiß nicht, was es war", erwiderte der Wachtmeister, dem Schalle nachhorchend, der dumpf und träg durch die schwere Luft hinzog, "vielleicht, daß auch nur an eine Türe gepoltert wurde." Aber im Augenblicke kam ein zweiter Knall, dessen Ursache bei seinem kurzen, scharfen Laute nun nicht mehr verkannt werden konnte. "Bei Gott, ich glaube, die über uns sind aneinander geraten", sagte der Belper-Fritz; "aber drum nur vorwärts! Unsere Burschen werden droben ihre Sache schon machen, dafür hab’ ich kein Bang."

Wäre die Finsternis nicht so undurchdringlich gewesen, so würden die Kameraden des Belper-Fritz bemerkt haben, daß seine ermutigenden Worte mit dem unruhigen Ausdrucke seines Gesichtes nicht ganz im Einklange standen; aber gleichwohl begann er nun rüstig auf eine äußerst praktische Weise den Führer zu machen, indem er den Meister Kratzer mit beiden Händen von hinten am Rockkragen und Hosenbund packte und vor sich herschob. Stolperte sein Werkzeug, das sich zu keinem weiteren Widerstreben mehr berufen fühlte, über einen im Wege liegenden Stein oder trat es in eine mit Wasser gefüllte Senkung, so avisierte er seine allmählich zuversichtlicher nachtappenden Genossen mit einem "aufgepaßt", und dergestalt rückte die ganze Mannschaft viel rascher vorwärts, als es vielleicht selbst mit einem Lichte möglich geworden wäre. Dabei gereichte es ihr einigermaßen zum Troste, daß sich von oben her keine weiteren Schüsse mehr vernehmen ließen; doch wußten sie freilich nicht, ob sogar ein lauter Kampflärm überhaupt noch zu ihnen zu dringen vermöchte, denn gar bald waren sie, wie von Finsternis, auch von einer tiefen Grabesstille umgeben, und nur ein fernes dumpfes Rauschen gab Kunde, daß das Leben über ihnen seinen Gang fortgehe.

"Laßt mich... laßt mich ein wenig ausschnaufen", gluckste Meister Kratzer, dem der Griff des Belper-Fritz etwas gar zu fest an der Kehle saß, "ich kann nicht mehr... ich ersticke."

"Wär’ uns im Augenblick durchaus nicht recht", erwiderte stehen bleibend sein Führer, dem die anfänglich fröstelnden Glieder sich unter der Anstrengung bereits wieder mit Schweiß zu bedecken begannen; "aber sag’, wo sind wir denn jetzt? Geht’s noch weit bis zu der heimlichen Richte?"

"Ah, puh", machte aufatmend der Turmwächter, "weit über den Dittlingerturm hinaus, so ungefähr in der Gegend vom Aarbergertor sind wir."

"Und der Judenbub kann keinen anderen Weg nehmen, er muß zur Richte hinunter?" fragte der Wachtmeister.

"Nein... ah.... nein, einen anderen gibt’s nicht", antwortete Meister Kratzer fast weinerlich; "von dort geht’s dann wieder aufwärts... nach dem Rathause; aber... oh... der Gang muß jetzt bei dem Wetter ganz mit Wasser angefüllt und nicht passierbar sein."

"Vorwärts!" befahl der Wachtmeister.

Belper-Fritz faßte seine Griffe, die er während der kurzen Pause etwas lockerer gehalten, wieder fester; aber im Augenblicke wendete er sich rückwärts und flüsterte: "Still, still... habt Ihr nichts gehört?"

Mit angehaltenem Atem und klopfender Brust wurde hingehorcht, und richtig, in nicht allzu weiter Entfernung vor ihnen ließ sich ein Geräusch vernehmen, das von schlurfenden, tappenden Schritten herzurühren schien. "Halt, was ist das?" fragte der Wachtmeister mit vor Unruhe zitternder Stimme, indem er seine Blicke in die rabenschwarze Finsternis bohrte; "könnt Ihr nichts unterscheiden, Meister Kratzer?"

"Es ist zu finster", antwortete dieser, "aber außer uns und den beiden anderen kann schwerlich jemand in dem Gange sein.

Während dieser leisen Frage und Antwort hatte sich das Geräusch rasch gelegt und war nun ganz verstummt; man schien auf der anderen Seite ebenfalls zu horchen, was da kommen solle, und sich nun stille zu verhalten, um nicht entdeckt zu werden. "Sie sind es", flüsterte der Wachtmeister nach einer lautlosen Pause, in der das Ohr nichts gehört als das Pochen des Herzens, "am besten ist’s, wir machen uns dem Hauptmanne kenntlich." Und ohne langes Besinnen rief er mit lauter Stimme: "Seid Ihr es, Herr Hauptmann? Wir sind da, Eure Soldaten und Kameraden, um Euch zu befreien... gebt uns Antwort!"

"Antwort" – schallte es zurück und tönte in kurzen Sprüngen weit hinter dem Rufer "Antwort, Antwort" nach wie eine höhnische Verspottung. Aber im Augenblicke ließ sich auch das Geräusch wieder stärker hören, und bald schien es, als ob es sich mit fliegender Eile heranbewegte. Der Wachtmeister hub unwillkürlich das Gewehr in die Höhe. Meister Kratzer stieß einen verzweifelten Schrei aus, und neben und zwischen den Füßen der verblüfften Kanoniere zog ein schnurrender, pfeifender und piepsender Rattenzug vorbei, als wären selbst die Steine lebendig geworden.

Mehr geärgert über die Enttäuschung und den Zeitverlust als erschreckt, faßte der Belper-Fritz seine Griffe von neuem. Und nun ging es rasch und rücksichtslos vorwärts.

Trotz der trefflichen Führerarbeit des Belper-Fritz trug die Dunkelheit den Kanonieren eine schöne Zahl ausgiebiger Püffe ein, und mancher halb unterdrückte Fluch verriet, wie schwer nur ein halsbrechendes Stolpern überwunden worden war. Meister Kratzer hörte alle diese Laute mit großer Befriedigung, und oft konnte er sich nicht enthalten, dieselben mit einem teilnehmenden Glucksen zu begleiten; waren doch ihm selbst ja die gefährlicheren Stellen, die noch zu passieren waren, erinnerlich und er somit trotz seiner unbequemen Lage wenigstens vor einer ernstlichen Gefährdung sicher. Plötzlich aber blieb er stehen, um sich mit Leibeskräften gegen den vorwärtsschiebenden Druck seines Lenkers anzustemmen, und dieser selbst mußte mit einer Hand loslassen, um sie über die Augen zu legen, in denen er einen unangenehmen, fast schmerzlichen Druck empfand. Vor ihm zuckte es durch die pechschwarze Nacht wie dunkelbraune Kugeln, die gegen ihn heranfuhren, blitzschnell sich lichter färbten und nun wie glühende Stäbe gegen seine Augen heranschossen. "Was gibt’s da?" rief der Wachtmeister, "sind wir schon am Ausgange?... Warum antwortest du nicht, Schurke?" fuhr er zornig auf Meister Kratzer los, der lautlos vor sich hinstarrte, "sind wir an der heimlichen Richte?"

"Oh... puh", machte der Turmwärter, sich gegen die Hand, die seinen Kragen aufs neue packte, schüttelnd; "uh... nein, wir sind erst am Wurstembergerturm... an der Schleuse... wo’s hinabgeht... wo..."

Aber die Kanoniere hörten schon nicht mehr auf die Explikationen, die nun plötzlich wieder mit großer Zungengeläufigkeit gegeben werden wollten. Aus den durcheinanderzuckenden Blitzen vor ihnen bildete sich augenblicklich eine stehende Lichtmasse, als wäre ein Stück tagesheller Oberfläche zu ihnen herabgesunken, und mitten in diesem Lichtstrome stand eine dunkle Gestalt, zu der sich wie von oben her bald noch eine zweite heranbewegte. Die Entfernung bis dahin schien kaum fünfzig Schritte zu betragen. "Das sind sie... bei meiner Seligkeit", schrie der Belper-Fritz, nachdem er den ersten beißenden Schmerz aus den Augen gerieben, "vorwärts, Kameraden!" Mit einem Ruck schob er den Meister Kratzer beiseite und fing an, auf eigene Rechnung und aus Leibeskräften vorzurennen. Das Kollern und Stolpern hinter ihm bewies, daß die Kameraden ebenso eilfertig nachkamen. Die immer mehr herandringende Helle hätte nun schon erlaubt, die größeren auf dem Boden liegenden Steine und Schutthäufchen zu bemerken, um ihnen ausweichen zu können; aber Belper-Fritz und der Wachtmeister hefteten ihre Blicke mit brennender Gier nur auf die Gestalten vor ihnen, von denen die eine der andern sich nun ganz genähert und sie mit Gewalt fortbringen zu wollen schien. "Hauptmann, Herr Hauptmann!" rief der Wachtmeister mit erschütternder Stimme, "wehret Euch... Eure Freunde sind da."

Auch jetzt kam auf den Ruf keine Antwort aus menschlichem Munde zurück; aber wie tröstend und aufmunternd hallte diesmal das Echo nach: "Freunde da." Und sicher war es, daß der Ruf verstanden und zu den rechten Ohren gedrungen war; denn die beiden Gestalten waren alsbald in einem stummen, verzweifelten Ringen aneinander geraten. Die eine hatte die andere mit den Armen umklammert und suchte sie auf die Schulter zu heben; aber diese schnellte sich mit so kräftiger Behendigkeit los, daß, beide zusammen niederstürzten und sich nun in verworrenem Knäuel übereinander wälzten. Die Entfernung der Kanoniere von dem Kampfplatze war viel beträchtlicher, als es ihnen von ihrer dunklen Lage aus das hereinbrechende Licht hatte erscheinen lassen, und bei aller Rücksichtslosigkeit gegen Kopf und Füße konnten sie doch nicht in Sprüngen vorwärts kommen. "Ha, Judenbub, verfluchter Hund", keuchte der Belper-Fritz, "du sollst bald ausgepfiffen haben;" noch war er mehrere Klafter entfernt, als sich eine der beiden Gestalten aufrang und mit einer einzigen Wendung dem Blicke entschwunden war. Auch die andere suchte sich zu erheben, sichtlich langsam und mit Anstrengung, und kaum stand sie aufrecht auf den Füßen, als mit dem jubelnden Ausrufe: "Hauptmann, Herr Hauptmann!" der Wachtmeister und Belper-Fritz nebeneinander heranstürzten.

Aber von Wut und Mitleid ergriffen, wichen beide wieder einen Augenblick zurück, als sich ihnen zwei kreuzweis übereinander geschlossene Hände entgegenstreckten und aus einer schwarzen Umhüllung hervor, die den Kopf bis auf die Schultern herab umschloß, nur leise und halb unverständliche Worte erklangen.

"Das haben sie Euch getan!" rief der Wachtmeister mit schmerzlich bewegter Stimme und plötzlich feuchten Augen, während der Belper-Fritz schrie: "Schlag’ du die Handschelle los... ich muß den roten Teufel haben!" und bei diesem Rufe mit grimmigem Sprunge gegen eine kleine Mauertüre lief. Aber von innen wurden knarrende Riegel vorgeschoben, und von schwerem Eisenbeschläge übersponnen, lag das Türchen zwischen seinen Steinpfosten unangreifbar festgenietet; das grimmigste Rütteln war vergeblich, und der Belper-Fritz knirschte: "Er ist entronnen!"

Unterdessen hatte der Wachtmeister mit zitternder Hast die Schraube der Handschelle losgedreht. Der Gefangene hielt ihm mit warmem Drucke die Rechte dar, während er die Linke an das Hinterhaupt führte, um mit einem Klappendrucke die Maske zu öffnen. Sie fiel klirrend zu Boden, und der Wachtmeister schaute in das verehrte und geliebte Antlitz seines Hauptmannes, das schön war wie immer, nur bleicher und milder als sonst, und dessen Augen sich jetzt mit großen Tränen füllten.

Erschüttert standen die Kanoniere in dem engen Kreise herum, und stumm reichte ihnen der Hauptmann einem nach dem anderen beide Hände entgegen. Noch hatte keiner einen Laut zu sprechen vermocht, als ein kurzes Knarren über sie wegrauschte und plötzlich alle wieder in undurchdringliche Finsternis versenkt waren.


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