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27. Kapitel

Lisbeth

Es war von diesem regenschweren Sommer und Herbst ein sehr trüber Tag.

Der Vater holte ihn mit dem alten Schwarzen und der alten Gig vom Bahnhof ab, sah ihn in seiner scheuen, stillen Weise nur kurz an, sagte sein: »Na, da bist du ja!« und ließ ihn neben sich Platz nehmen und das Pferd antraben. Von Eggert sagte er kein Wort. Den Toten erwähnte er nur einmal, gewissermaßen im Vorübergehn, so wie man im Vorübergehn einen stillen Blick nach einem Kirchhof tut. Er fragte: »Wird unser Grab da bei euch rein gehalten?« Was soll man über einen geliebten Toten viel reden! Man gedenkt seiner, indem man in Erinnerungen an ihn versinkt, in der Erinnerung an ihn noch einmal mit ihm lebt, und die ganze Würze seines Lebens noch einmal wieder schmeckt. Von den andern erzählte der Vater, daß sie gesund wären. Als Harm nach Emma fragte, erfuhr er, daß sie während des ganzen Sommers und nun auch in der Pflugzeit auf dem Hof von Bruder Klaus war, dessen Frau im Kindbett erkrankt und mit Weh und Ach nur einige häusliche Arbeit machen konnte. »Sie ist der Bauer,« sagte der Vater, »pflügt und eggt, und melkt und kocht, alles zusammen; und Mutter meint, daß sie körperlich völlig wieder gesund ist. Und auch ihre Seele, meint sie, ist nun wieder ganz ruhig. Sie geht immer noch zu den Versammlungen bei Schuster Ehlers und wird wohl eine von diesen sogenannten ›Stillen‹ bleiben, weißt du, eine von den Frommen, die am Kirchgang nicht genug haben. Das liegt ja freilich nicht in unsrer Art und Familie; kein Ott war so, soweit ich denken kann. Aber sollen wir darüber klagen?! Nein! Das muß ein jeder mit sich selbst abmachen. Findet sie Friede in diesem Glauben, so wollen wir sie darin lassen ... Übrigens ist dein Bruder Klaus seit zehn Tagen auf Urlaub zu Hause.«

»Wie geht es ihm?« fragte sein Bruder, »und was erzählt er?«

»Du kennst ihn ja,« sagte Vater Ott. »Wenn man ihn so reden hört, ist er immer obenauf.« Und nachdenklich setzte er hinzu: »Das hat er von Kind an so an sich gehabt. Es kommt wohl davon, daß er sich gegen seine Mutter wehren mußte, die ihm immer etwas am Zeuge flickte und immer mit ihm herumstieß, weil er ihr nicht stur genug, war ... und so verstellte er sich denn, als wäre er ein solcher. Wie es in Wirklichkeit in seinem Innern aussieht, weiß ich nicht. Er wird doch wohl oft genug im Eulenloch sitzen ... da draußen.« Dann fing der Vater an, mit der Peitsche nach den einzelnen Höfen zu zeigen, wo dieser und jener der Nachbarn und Bekannten wäre, ob noch hinter dem Pflug, oder in der Etappe, oder an der Front, und ob er noch lebte und gesund wäre. Alles, was er sagte, und wie er es sagte, kam noch schwerer und mühsamer heraus als früher, und er saß gebeugt da und sah mit seinen stillen, schwersinnenden Augen über das weite, ebene, regenfeuchte und sonnenlose Land. Die ganze Mühseligkeit des Landes in diesen schweren Jahren lag in seiner Haltung, in seiner Sprache, in dem, was er sagte und wie er es aussprach.

Als sie auf den Hof kamen, kam ein großer stattlicher Mann in dunkler Jacke mit breiten roten Streifen an den Hosen aus der Stalltür. »Das ist unser Russe,« sagte der Vater, »er heißt Symeon und ist ein guter, freundlicher Mensch, wie fast alle Russen. Die Franzosen mögen wir nicht so gern. Manche von ihnen sind wohl auch freundliche Menschen; aber viele sind unfreundlich und widersetzlich. Sie sind uns auch fremder. Aber die Russen sind im großen und ganzen wie wir selbst und gut gelitten.«

Als er vom Wagen sprang und aufsah, kam die Mutter aus der Tür, Kinder, wie immer, um sich. Sie gab ihm die Hand und sah ihn an; und er sah in dem Blick, daß sie ihm und der ganzen deutschen Flotte einen harten Vorwurf daraus machte, daß er ihren Reimer nicht mitbrachte. Sie sagte aber kein Wort von ihm.

In der Stube, von allen umringt, gab er noch einmal jedem einzelnen der Kleinen die Hand und fragte sie dies und das, während die Mutter hin- und herging und das Essen rüstete. Vom Toten wurde kein Wort gesprochen. Auch von Eggert keins. Aber jeder erzählte ihm, daß sie auf dem Hof von Bruder Klaus gewesen und Bruder Klaus und Emma gesehn hätten und daß Emma nun wieder ganz kräftig wäre und auch munterer, wenn auch immer sehr still und ernst, und was Bruder Klaus für große Dinge von der Front erzählte. Das waren die beiden Lichtblicke des Hauses, und die sollte der Bruder, der aus Not und Tod kam, der seinen lieben Bruder hatte fallen und sterben sehn, sofort zu schmecken bekommen. Dann aßen sie und versuchten dabei, einander zu necken, und taten, als wenn sie nicht merkten, daß der Vater mit abwesenden Augen da saß und daß die Hand der Mutter dann und wann über das Gesicht fuhr, die Tränen abzuwischen.

Als aber dann der Vater gegangen war, um den Stoppel zu pflügen, und die Kinder wieder fortgegangen waren, um auf dem Felde Ähren zu sammeln, und er mit Mutter allein in der Küche am Aufwasch war, saß er auf der Wasserbank und redete mit ihr über alles, und sie fragte ihn mit zagender, wankender Stimme nach diesem und jenem.

»Es schien mir erst gar nicht möglich,« sagte sie, »daß er tot sein könnte. Er stand ja, sozusagen, den Drücker in der Hand, erst vor der Tür, die ins Leben führt.«

»Ja, Mutter, was soll ich dazu sagen?!«

»Hast du ihn tot gesehn?«

»Ja, Mutter, ich habe ihn auf dem Arm getragen, als er todwund war, und dann ist er vor meinen Augen gestorben ... Wir hatten auf unserm Schiff über neunzig Tote, Mutter, alle jung ...!«

»Sag' mir,« sagte sie weinend mit unsicherer Stimme, »was meinst du ... wo ist er jetzt?«

»Oh, Mutter,« sagte er, »daran zweifle doch nicht! Was Gott so wunderbar und feurig brennen ließ, das wird er nicht auslöschen.«

»Wo denn?« sagte sie.

»Oh, Mutter! ... Da frage doch nicht! Wie viele Sterne stehn am weiten Himmel! Wieviel Licht und Wunder ist in der ungeheueren Schöpfung!«

Sie weinte und wischte sich mit dem Rücken der nassen Hand die Tränen weg. »Ich habe es eigentlich erst geglaubt, als die Glocken für ihn gingen.«

Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er leise: »Wo wart ihr da ... wo war Vater?«

Sie schluckte an ihren Tränen, dann sagte sie: »Wir haben alle auf einem Haufen gesessen, um den großen Stuhl am Fenster, auf dem Vater ein wenig ausruht, wenn er vom Felde kommt. Er saß da, und da kamen wir alle zu ihm.«

Sie weinte heftiger und arbeitete weiter. Dann fragte sie nach dem Raum, in dem er gestorben wäre, und nach dem Grab, und hörte zu, wie er von dem Begräbnis erzählte.

Ja, gewiß, das Grab, das wollte sie einmal sehn. »Ja ... da will ich einmal davor stehn, Harm, ganz allein ... oder höchstens mit Vater ... aber am liebsten ganz allein!« Sie weinte heftiger. »Das habe ich armes Weib doch voraus vor so und so viel andern, daß ich an seinem Grabe stehn kann. Was die Frauen durchmachen in diesen Jahren, Harm, das geht über alles Sagen und Erzählen. Und dabei ist es ja einerlei, ob es deutsche oder russische oder französische Frauen sind; sie sind darin alle gleich. Sie meinen, wir sind nicht dabei; und sie sehn nicht, daß sie über uns wegrasen und über uns hintreten.«

Sie schwieg eine Weile; dann fing sie von Eggert an, und fragte genau nach allem; und sah ihn dann und wann mit scharfem Blick an, ob er auch genau die Wahrheit sagte.

Aber er unterschlug ihr nichts. Als er von dem wilden, schwarzen Mädchen sprach, mit dem er so häufig getanzt hatte, nahm sie es, zu seiner Verwunderung, nicht so schwer, sondern sagte: »Das haben meine Brüder auch so gemacht, als sie in seinem Alter, so um zwanzig, waren. Nachher haben sie doch alle ganz ordentliche Mädchen geheiratet. Ja, gerade besonders ruhige und stille; der eine sogar eine Witwe in gesetzten Jahren. Sie hatten wohl das Gefühl, daß sie für ihre Unruh eine Ruhige, Stille brauchten. Du sollst sehn, er wird es auch so machen.« Es war ihr viel wichtiger zu hören, was für männlichen Umgang er hätte; und sie war beruhigt, als er berichtete, daß er, so oft er ausginge, mit ihm, dem Bruder, zusammen wäre, und als er ihr die anderen schilderte, die dann mit dabei waren: den Zimmermann, den Italiener und die andern.

»Und was denkst du,« sagte sie, »wann kommt er? Wann werde ich ihn wiedersehn?«

»Wenn du ihn gern sehn willst, Mutter, so wäre es wohl möglich. Ihr müßtet einander etwa in Hamburg treffen. Hierher kommt er nie wieder.«

»Nie wieder?« sagte sie mit großen Augen. »Nie wieder in diese Gegend?«

Er hob die Schultern. »Ich glaube nicht, Mutter. Und ich kann es auch verstehn. Sieh, er wird in jedem Gesicht herumfragen: ›Glaubt der, daß du der Pfeifer bist, oder glaubt er es nicht?‹ und wird, wo er geht und steht, den Ruf: ›Sieh da, der Pfeifer!‹ hinter sich herhören.«

Sie setzte sich auf den Herd und sagte mit gebeugtem Kopf: »Ich hatte gedacht,« sagte sie, »wenn der Krieg aus wäre, sollte er bei Höbke Suhl auf dem Hof sein; sie hat es ihm ja angeboten.« Sie warf einen raschen, unsichern Blick auf ihren Sohn, weil sie einen heimlichen Gedanken dabei hatte. Sie hatte sich früher nie solche Gedanken gemacht. Seit Eggert und Höbke Suhl sich aber schrieben und die junge Nachbarin auch sonst so herzlichen Anteil an den Otts nahm, war ihr der verwegene Gedanke gekommen, daß da eine Heimstätte für Eggert wäre, ja, wenn das Glück es wollte, für sein ganzes Leben. Sie kannte ja ihre Leute, ihre Brüder, die in der Jugend so wild und wunderlich getan und nachher ... und Höbke Suhl?! ... Nun, was wollte sie denn? ... Sicher wollte sie lieber heiraten, als nicht heiraten, und war er nicht ein schmucker, ernster Mensch? Freilich, wenn er überhaupt nicht wieder in die Heimat zurückkommen wollte und konnte, dann war dieser ganze schöne Plan dahin.

Aber ihr kluger Sohn Harm war völlig ahnungslos. »Ich kann mir nicht denken,« sagte er, »daß er jemals wieder hierher zurückkommt. Es müßte schon ganz etwas Besondres geschehn, sonst läßt er sich hier nicht wieder sehn.«

Er wollte noch mehr darüber sagen; aber er sah seine Mutter, in tiefe Gedanken versunken, die Zange in der Hand, ins Feuer starren. Sie war mit all ihren Sinnen bei ihrem fernen, zornigen Sohn: was da wohl zu machen wäre, daß er auf einen guten Weg käme; und wie sein ferneres Leben Wohl sein würde.

Als er sah, daß die Mutter so weiter wortlos träumte, stand er auf und ging hinaus vor die Küchentür und ging ums Haus, und stand lange unter dem Vorbau vor der großen Tür, wohin der Regen nicht traf, und sah übers Feld, und wollte sich freuen, daß er nun endlich einmal in der Heimat wäre, und wunderte sich im stillen, daß es ihm nicht recht gelingen wollte.

Am andern Tage nach dem Mittagessen sagte die Mutter zu ihm, als er wieder bei ihr in der Küche war und still und wortlos herumstand: »Du mußt ja zu den Thomsens gehn! Du solltest dich heute dahin aufmachen und von da gleich zu Klaus fahren! Es wäre ja möglich, daß er früher wieder zu seinem Regiment zurückberufen würde. Du wirst ihn doch sehn wollen.«

»Ja,« sagte er, »ich muß ja zu Thomsens gehn.«

»Ja,« sagte sie, »das mußt du! Und ich weiß auch, warum es dir nicht leicht wird. Und was ich etwa nicht wußte, hat ihre Mutter mir erzählt. Viel wissen wir ja beide nicht; nur was wir uns so zusammendenten, und daß du ihr böse bist.«

»Ach, Mutter!« sagte er.

»Ach, Junge!« sagte sie in ihrer alten Hitzigkeit. »Glaube doch nicht, daß ich für dich oder für sie werben will! Macht, was ihr wollt!«

»Nun eben!« sagte er stolz und würdig. »Ich will nichts mit ihr zu tun haben.«

»So ... so!« ... sagte sie. »Ich möchte dir nur eins sagen: soviel ich weiß ... einig wart ihr euch noch nicht! Und du warst nicht da! Na ... und da kam einer, der ihr gefiel und der um sie warb; und da nahm sie ihn. Und nun ist er tot ... gefallen, wie so viele ... wie dein Bruder und wie ihr Bruder ... Es kommt auf eins an, Harm: ob du das Gefühl hast, daß sie dich damals wirtlich gern hatte. Es ist eine Sache des Gefühls ... des Blutes, Kind.«

»Ob sie mich mag oder nicht, das ist nun ganz gleichgültig,« sagte er kalt. »Es kommt darauf an, ob ich sie mag. Und das ist nicht der Fall.«

»Weil du sehr böse auf sie bist, Harm! Und das, mein Junge, ist ein Zeichen, daß du sie immer noch lieb hast! Und das ist auch ganz selbstverständlich. Sie ist ja immer noch Lisbeth Thomsen, dieselbe, die du vor zwei Jahren liebtest. Ich bitte dich, Harm, denk nicht zu hart über sie! Glaube nicht, daß es irgendein Mädchen gibt, das nur einen einzigen lieben und heiraten könnte! Denke überhaupt nicht zu hart über Menschen! Denk an deinen Bruder Eggert, was dem geschah!«

»Sie wußte aber, daß ich sie lieb hatte,« sagte er zornig und böse.

»So ... sie wußte es doch! ... Ja, Harm ... aber vielleicht war sie damals noch nicht alt und reif genug; sie war noch zu spielig, oder vielleicht hast du es ihr nicht deutlich genug gezeigt. Du warst noch zu jung dazu. Der andre war sechs Jahre älter. Aber nun bist du fünfundzwanzig, nun bist du anders, bist mehr. Und auch sie ist anders. Ein Mädchen von achtzehn und eins von zweiundzwanzig: ich sage dir, Harm, das ist ein Unterschied! Dazu bedenke, was sie inzwischen durchgemacht hat, daß sie ihren Verlobten und einen Bruder verloren hat. Nun ....du mußt das alles selbst wissen! Aber ich denke, du kannst dir gefallen lassen, daß ich mit dir darüber rede! Gehe ich mit dem einen nach Rendsburg und muß zu dem andern an sein Grab, so kann ich wohl auch mit dir ein wenig auf die Freite gehn.«

Er sah sie lächelnd an und sagte: »Da habe ich auch nichts dagegen, Mutter! Ganz und gar nicht! Aber da ist nun einmal nichts zu machen! Lisbeth Thomsen sehe ich mit keinem Blick wieder an; das ist vorbei! Ich will dir nämlich was sagen, Mutter: sie hatte mich sehr lieb! Das weiß ich; das kann ich dir sagen! And darum eben war es so schlimm von ihr!«

Sie sah jäh auf und fuhr mit der Hand durch ihr Haar: »So?!« sagte sie, »sie hatte dich sehr ... sehr lieb ... na dann ...!« sie wollte sagen: >Dann wird sie es auch fertig bringen, dich wieder zu gewinnen ... so weit kenne ich Lisbeth Thomsen!< ... und es stand ihr plötzlich der schelmische, spöttische Zug im Gesicht, den ihre Kinder so gut an ihr kannten. »Dann geh nur!« sagte sie, und sie zeigte mit der Feuerzange nach der Tür.

»Ich will heute nicht hingehn,« sagte er; »heute will ich zu Klaus.«

Er ging nach der großen Diele und spannte den Schwarzen an und fuhr davon, um seinen Bruder Klaus zu sehn.

Als er aber auf den hohen Weg kam, da, wo das Dorf dünner wird, und nur hier und da an der Straßund in den Feldern die Höfe liegen – es war auch heute wieder trübes, regnerisches Wetter – kam ihm der Thomsensche Wagen entgegen. Er kannte das Gespann schon in weiter Ferne. Frau Thomsen, die sonst nie selbst fuhr, führte die Leine; Lisbeth saß neben ihr.

Er preßte zornig die Lippen zusammen und seine Augen wurden tief; da war der Wagen schon heran. »Nun, Tante,« sagte er, »seit wann kannst du fahren?«

»Ach, Harm,« sagte sie und hielt; »ich freue mich so sehr, daß ich dich mal wiedersehe! Willst du zu uns oder zu Klaus? Wie geht es dir? Was hast du alles erlebt!! Ach! Ach! Wo ist mein Otto, Harm, und wo ist euer Reimer! Was für eine Zeit, Harm! Ob ich fahren kann?! Mein Junge, was kann ich alles! Wir haben nur noch zwei Lehrlinge auf dem Platz, und dazu den einen Gesellen, den Alten! Das ist alles! Und dabei sollen wir zwei Schuppen für die Regierung bauen!«

Lisbeth neben ihr hatte ihm auch zugenickt, sehr rasch und scheu; und sah nun übers Feld und warf zuweilen einen Blick nach ihm hin, sehr ruhig, aber sehr neugierig. Er sah ... und fühlte es noch mehr ... daß sie wie eine junge, ernste Frau geworden war. Auch ihr Gesicht hatte sich verändert. Es war, als wenn es etwas größer und dadurch klarer geworden wäre.

Die Mutter, die wohl helfen wollte, daß sie alle drei über diese erste Begegnung leichter hinwegkämen, zeigte mit der Peitsche nach den einzelnen Höfen: »Und so ist es überall, Harm. Ich sage dir! Siehst du da ... da, links von Hansens Hof, den Düngerwagen? Da sitzt die junge Frau Tormählen drauf. Ein Russe lädt auf, und sie fährt den Dünger aufs Feld und reißt ihn vom Wagen. Sie hat auf der Schule mal Englisch und Französisch gelernt und was sonst noch alles! ... Und siehst du da den hohen Kohlwagen? ... da sitzt ein Zwölfjähriger drauf. Sein Vater fährt irgendwo in Galizien einen Wagen mit Brot oder Granaten. Und hier, siehst du, das ist die achtjährige, kleine Tochter von Jahn, die fährt mit dem belgischen Gefangenen zur Stadt. Sie macht Besorgungen und er hilft ihr. Ihr Vater ist vor Verdun, ihr Bruder in Mazedonien. Und siehst du da das Klausensche Haus mit den merkwürdig hellen Farben in den Fenstern? Da ist der Mann seit zwei Jahren in Sibirien gefangen und indessen ist hier in seinem Hause seine Frau gestorben. Sein Land ist verpachtet, seine Kinder sind zu Verwandten getan, die Fenster seines Hauses vernagelt. Und siehst du da am grauen Weg das Haus von Sämann? Da treten sie jedesmal vor die Tür, wenn ein Wagen oder ein Mensch den einsamen Weg heraufkommt, und hoffen auf Nachricht von ihrem einzigen Sohn, der in Frankreich vermißt ist. Es ist keine Hoffnung mehr, daß er noch lebt; es ist schon zwei Jahre her; aber ich glaube, Harm: sie werden noch nach zwanzig Jahren so vor die Tür treten und hoffen ... und hoffen. Du fährst heute zu deinem Bruder? Nun, aber morgen oder übermorgen kommst du zu uns! Dein Onkel wird sich freuen, Harm, und wir andern auch,« und sie nickte ihm zu und fuhr weiter. Ihre Tochter warf wieder einen langen, ernsten Blick auf ihn, nickte auch; und weg waren sie. Sie hatte die Lippen nicht auseinandergenommen und ihre Augen waren wach, aber still gewesen.

Er fuhr weiter. Schrecklich ... wie schön sie war! ... Und wie ernst nun! Ja, nun war sie so, wie er sie damals begehrte ... verständig und feurig ...! Daß ein Mensch sich grade in ein einziges Weib vergaffen muß! Und daß er so viele schöne Erinnerungen an sie hatte von seiner Kindheit an! Einmal ... das stand ihm plötzlich vor Augen ... als sie so zwölf Jahre alt gewesen und er fünfzehn, hatte er altklug gesagt: »Ich glaube, dein Vater gibt dich mir nicht, weil ihr mehr Geld habt als wir.« Aber da hatte sie ernst und bestimmt gesagt: »Wenn ich dich dann noch lieb habe, will ich schon dafür sorgen, daß ich dich bekomme, da sei man nicht bange!« Sie hatte, wenn sie so etwas sagte, so ruhige, feste Augen und einen so wunderlich sichern Zug im Gesicht; sie ruhte dann in ihrer starken, lebensvollen Natur, und da heraus sprach sie so. Ja, sie war ein Mensch voll starkem, vollem Leben, damals schon. Mit denselben Augen wie damals hatte sie eben da neben ihm in ihrem Wagen gesessen. Ach, sie war nicht mehr die, der er böse war! Sie war nicht mehr die Lachende, die Unernste, die Wankelmütige! Sie war nun ein neues Rätsel: noch verwirrender, noch ehrverlangender, noch begehrenswerter! Ach, der Schein um ihre liebe Gestalt war noch schöner geworden!

So waren seine Gedanken eine ganze Zeitlang bei ihr, während er weiterfuhr. Aber dann sah er auf einem Felde zwei Russen hinter Pfluggespannen gehn. Da kamen seine Gedanken wieder auf den Krieg. Und da überfiel ihn sogleich wieder die Bedrücktheit, die Unruh, die er schon gestern empfunden, als er unter dem Scheunendach stand. Er dachte: »Was soll ich hier? Was tu ich hier? Wie kann ich hier in dem schönen, friedlichen Lande umherfahren? Und nun gar über ein Mädchen mir Gedanken machen?« Und er sah im Geist, in der Ferne, Schützengräben sich durch die Landschaft ziehn, und sah viele, viele einzelne Gestalten zerstreut übers Feld laufen, und sah im Geist fremde Städte und lange Wagenzüge, und sah die Flotte an Helgoland vorüber nach Norden fahren, wie damals am letzten Maitag. Er sah es ganz deutlich, und es rief ihn. Nein, der ganze Urlaub schmeckte ihm nicht. Und plötzlich dachte er: ›Ich will heute nicht zu Bruder Klaus fahren. Denn wenn ich da bin, soll ich dem erzählen, was ich erlebt habe; und auch er wird mir seine Erlebnisse erzählen. Ich will heute nichts davon hören; ich habe schon Not genug davon. Ich will ein wenig allein bleiben und auf die Heide fahren.‹

Er blieb also auf dem großen, breiten Weg und fuhr durch die breite Sandschlucht den ziemlich steilen Weg nach der Geest hinauf, und kam oben auf die Heide, und fuhr im Schritt den sandigen Weg entlang, und erging sich eine Zeitlang in stillen, freundlichen Gedanken: wie er hier als Junge an Sonntagnachmittagen sich herumgetrieben und später, ein Fünfzehnjähriger, einem alten Arbeiterpaar ein Fuder Heide, das sie hier gemäht, aufgeladen und nach Hause gefahren hatte, und wie er wohl auch später noch, so in Frühjahr- und Herbsttagen, diesen Weg gemacht, um durch die Geestdörfer zu fahren. Als seine Augen dann aber in der Ferne die Hünengräber trafen, gerieten seine Gedanken wie von selbst wieder in den Krieg. Er sah im Geist die vielen Gräber an den Fronten, und dachte auch an die Toten vom Skagerrak, die an der jütischen und schwedischen Küste begraben lagen, Und wieder befiel ihn, wie ein gewappneter Mann, der Gedanke: ›Was sollst du hier? Was tust du hier? Kehr' wieder um! Hier ist Friede ... du aber gehörst in den Krieg!‹

Er wandte das Pferd und fuhr wieder nach der Schlucht zu, und war mit all seinen Gedanken bei seinen vielen Bekannten in Wilhelmshaven und bei seinen Leuten auf dem Schiff. Und alles, was er um sich sah, die ganze Heimat und das Elternhaus, war ihm nicht vorhanden, war ihm gleichgültig, ja, war ihm verleidet und schmecke ihm bitter. Ganz in der Ferne, in weiter Ferne, in einem unwirklichen Glanz und Schimmer, in schönem Dunst und Nebel, ja, da standen Heimat und Elternhaus im sonnigen, wonnigen Frieden. Ja, da ... ganz ferne! Ja, wenn einst Frieden wäre! Ja ... dann! Dann wollte er sich über dies alles freuen! Ach, wie sehr! Ach, unsagbar! Aber jetzt war Krieg! und all seine Gedanken, und alle Not und alle Freude, wehmütige, schmerzliche Freude, waren draußen an den Fronten und auf den Wogen der Nordsee.

Als er noch so sann, war er wieder bis zur Schlucht gekommen und sah den Weg hinunter. Und da sah er, keine hundert Meter vor sich, wieder den Thomsenschen Wagen die Schlucht heraufkommen; nur Lisbeth saß darauf.

›Herr Gott, noch einmal wieder!‹

Sie brachten ihr Gespann beide übereifrig aus der Spur. In der nächsten Minute fuhren sie beide aneinander vorüber. Er sah sie an und grüßte ernst und schlicht, und fuhr weiter, so in dem zornigen und verwirrten Gedanken: ›So ... das ist überstanden.‹ Als er aber noch nicht hundert Schritte gefahren war, hörte er hinter sich einen rechten Weiberschrei und gleich darauf ihre ängstliche, befehlende Stimme: »Harm, komm her! Hilf mir!«

Er hielt das Pferd an und sah sich um. Da war sie mit der ganzen einen Seite ihres Wagens in den einige Fuß tiefen Graben geraten, der neben dem Wege herlief. Der Wagen hing ziemlich schief, und die zurückhoppenden Pferde waren dabei, das Unglück noch schlimmer zu machen. Sie selbst war abgesprungen und stand ratlos daneben.

Er stieg vom Wagen und ging die kleine Strecke Wegs hinauf, faßte die Pferde und brachte die Räder mit einiger Mühe aus dem Graben und wieder auf den Weg. Um etwas zu sagen, sagte er: »Wie kam denn das?«

Sie war schon rot und sagte: »Es kam so ...«

›So! ...‹ dachte er kühl und stolz: ›Du sahst dich nach mir um! Ja, das muß man nicht tun.‹ »Nun, steig nur wieder auf,« sagte er, »es ist alles in Ordnung.«

Sie war sehr rot, da ihr das Mißgeschick in der Tat geschehn war, als sie sich nach ihm umgesehn hatte, in der Erwartung und Hoffnung, auch er sollte sich umsehn. Und nun, da es nun so anders gekommen war, wollte er ohne ein einziges freundliches Wort wieder weggehn? Es sprangen ihr plötzlich die Tränen in die Augen.

Er sah sie an und empfand, daß sie nun das Weib war, der Kamerad und Gleichgenosse, doch der, vor dem man sich keine Blöße geben darf, nicht einen Augenblick. Er sagte ruhig und kühl: »Nun weinst du!«

»Ja,« sagte sie, »nun weine ich« und biß sich auf die Lippen und sah ihn an.

Er konnte wegen dieser Augen nicht fortkommen; er sagte zornig: »Wie kam es, daß du es so machtest?«

Sie hob leise die schönen Schultern und sah ihn ruhig, wie wartend an.

»Wie kam es?« sagte er noch einmal.

Sie sah ihn noch immer so an mit den schönen, wartenden Augen, grade in seine Augen hinein. Sie schämte sich nicht ... sie bekannte sich still und trotzig zu dem, was geschehen war, und wartete auf irgend etwas.

Da riß er sie in Zorn und Liebe an sich und herzte und küßte sie.

Und dann ließ er sie los und sagte: »Nun geh! ... Es ist jetzt nicht Zeit für solche Dinge.« Und er gab ihr die Hand und drückte sie fest und half ihr in den Wagen.

Sie sagte kein Wort; sie sah ihn nur noch einmal ernst und still an, und fuhr davon.

Er selbst stand da noch einige Zeit, schweratmend, unsagbar glücklich.

»Sie ist mein! Mein! Ich habe sie! Ach, wie schön ist das!«

Aber gleich, plötzlich, schlug der Gedanke an den Krieg dazwischen. Er hob mit einem bittern Gefühl die Schultern: ›Krieg! Krieg!‹ Und stieg in den Wagen und fuhr die Schlucht hinab und nach Hause.

 


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