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Zwei Tage später bekamen fünf Mann von der »Alten Liebe« die Nachricht, daß sie versetzt wären, unter ihnen Harm Ott. Er kam auf den großen Kreuzer ›Below‹, der zur Aufklärungsflotte gehörte. Einige der Besatzung waren schon von Bord gegangen, ihrer Bestimmung zu; andere hatten Landurlaub. So standen nur vier der alten an der Reling, als er bei strömendem Regen, den Sack auf dem Rücken, von Bord ging, um auf den Kreuzer überzusiedeln.
Er war noch niemals auf einem großen Kreuzer gewesen, und wunderte sich über die Breite des Decks und die gewaltigen Verhältnisse der Türme und der Brücke. Was war das für eine Treppe vom Deck hinauf zur Brücke! So hoch, wie von der Erde bis zur Höhe des Kirchendachs von Altensiel! Und welch ein großes Gewirr im Innern des Schiffes: von Treppen und Gängen, Kammern und Räumen, Rohrleitungen und Drähten, Maschinen und Menschen! Er sah nach vierzehn Tagen noch Gesichter, die er bisher nicht gesehn hatte, und er brauchte vier Wochen, bis er von selbst und in Gedanken den Weg fand, den er zu machen hatte. Er wurde der mittleren Artillerie zugeteilt, zweite Kasematte an Backbord.
Dort, in der Kasematte, die so groß und so hoch war wie eine mittlere niedere Bauernstube, übten sie täglich an dem Geschütz, das in der Mitte stand und sein graues Rohr durch den Schlitz ins Freie und über die Wellen streckte. Drei Wochen lang war er vierter Mann, dann wurde er dritter. Dort in der Kasematte stellten sie nach dem Exerzieren am Geschütz auch die Back auf und aßen da, vierzehn Mann, am langen Tisch, und abends, nach Pfeifen und Lunten aus, zurrten sie da auch die Hängematten und schliefen da. Er dachte nicht anders, als daß er die große schwere Schlacht, die sie erwarteten, auch in diesem Raum erleben würde. Wenn es geschehen wäre, so wäre er nicht mit dem Leben davon gekommen; denn in diese Kasematte schlug gleich im Anfang der Schlacht, um sechs Uhr, der Volltreffer und tötete alle, die darin waren.
Sie saßen meistens auch in den Feierstunden in diesem Raum. Er war ja freilich niedrig, und die Augen sahen überall Hindernisse, und das Geschütz zerriß ihn fast bis zur Mitte in zwei Teile; aber wenn in diesen Winterabenden die elektrische Birne so von oben herabschien und sie in ihrem blauen Zeug daruntersaßen, die einen bei Kartenspiel, die andern bei Halma, die dritten beim Briefschreiben oder Lesen, andere in gemütlicher Unterhaltung, während hier und da einer an der Wand oder am verhüllten Geschütz lehnte und mit wohlwollenden Augen auf sie herab sah: dann war es doch friedlich und traulich und auch nicht unschön. Oder wenn es zu einem allgemeinen Gespräch kam, natürlich am meisten über den Krieg: vom großen Rückzug der Russen, vom Kampf um Verdun; oder wenn sie auf England zu sprechen kamen: wie sie da unsre guten Volksschulen nicht hätten und ganz im Bann ihrer Zeitungen wären und in vielen Dingen altmodisch, aber ein tüchtiges, tapfres und mächtiges Volk ... oder wenn, nachdem sie sich über den Lauf der Welt müde geredet hatten, von der Nachbarbackschaft der kleine schwarze Schlosser aus Frankfurt am Main, Geschützmann und Kuttergast, und der hübsche große Breslauer, der Signalgast, vom Beruf Isolierer, hereinkamen, und der Schlosser auf seiner Handharmonika – Stahlstimmen und D-Dur – spielte und der Isolierer den Triangel dazu klingeln ließ ... alle die alten Schullieder – am liebsten von allem sangen und hörten sie die ernsten Schullieder – und sie alle leise mit sangen, damit der Triangel zu seinem Recht käme ... und wenn sie die Kasematte verließen und diesen und jenen Kameraden in seiner Back besuchten, oder wenn sie zwanzig, ja oft hundert, ja zweihundert Mann stark im Kantinendeck auf den Tonnen oder Bänken herumsaßen oder standen – der ganze Raum summte von ihrem Geplauder und der Rauch stand in Schwaden über ihnen – oder wenn sie bei hellem Wetter zu zweien oder dreien auf dem Mitteldeck spazierten und, die Augen über die frischwogenden Wellen, vertrauter als unten, von allem sprachen, was das Herz bewegte ... oder wenn sie einmal wieder, was dann und wann geschah, hinausfuhren, über Helgoland hinaus, die Engländer zu treffen, und der Atem der freien See sie umwehte ... oder wenn sie an Land gingen, jeden zweiten Tag, und etwa eine Fußtour machten nach Varel zu oder nach Jeverland hinein, und über Krieg und Frieden, Beruf und Mädchen redeten und danach ein wenig durch die Straßen bummelten und einige frische Mädchen gehn sahn und dann in irgendeinem Kino oder bei einem Glase Bier saßen ... oder wenn sie Sonntags nachmittags aus einem Dorfspaziergang ›so ganz zufällig‹ – es war verboten – ein Dutzend Mädchen beisammen fanden und sie so ein besonders sauberes und freundliches Ding herumschwenkten, bis sie hochaufatmend um eine Pause bat und sagte, so schön hätte sie noch nie getanzt: wahrhaftig, dann konnte man es wohl einige Zeit ertragen, ja, wenn es sein mußte, ein Jahr lang, ja, wenn es denn durchaus sein mußte, auch zwei. Freilich, an die alte, gemütliche Küche im Elternhaus mit der Mutter am Herd und an das helle Zimmer Thomsens, durch das Lisbeth mit flatternden Kleidern gegangen war ... die Treulose! ... durfte Harm Ott nicht denken, und auch nicht an sein schönes buntes Handwerk und den Zimmerplatz, der schräg herauf zur Au lag. Nein, daran durfte er nicht denken. Es war Krieg! Krieg! Und in diesem Krieg, den das unschuldig bedrängte Vaterland führte, hatte er seine Stelle: eben diese: Backbord zweite Kasematte, und seinen Posten. Wie Unterstände einer ungeheuren Batterie, schien es ihm, dehnten sich die zahllosen Gänge, Kammern und Räume bis in die tiefsten Tiefen. Und überall, in jedem Raum, stand und lag, gesammelt und bereit, die Kraft und Klugheit und der Mut des Vaterlandes für den großen schrecklichen Tag. Wie Bergleute saßen sie da und warteten auf den Befehl von oben, um die Arme zu rühren, und die glühende Kraft der Tiefe auf den Feind zu werfen, der das Vaterland nicht leben lassen wollte. Und er war einer dieser Bergleute, und mußte andre Gedanken fahren lassen.
Es dauerte geraume Zeit, bis er sich unter dem Gewimmel zurechtfand. Wochenlang war es ihm ein Gewirr von Menschen, die sich nur durch ihre Haltung, Haarfarbe und ihren Stimmklang unterschieden. Aber im Laufe der Wochen teilte sich das Gewirr etwas; und die Kameraden der Backschaft und zwanzig oder vierzig andre, wie Verkehr, Nähe, Arbeit oder Neigung sie zusammenführte, wurden bekanntere Leute.
Und da fand er denn als erstes, daß diese Gesellschaft eine sehr, sehr andre war, als die von der »Alten Liebe«. Alle Wetter! ... Dies hier waren keine Träumer und Wunderlinge! Nein! Nicht einer war wie die von der »Alten Liebe«! Nein! Auf diesem großen, mächtigen Schiff waren sie alle, alle helle, rasche Köpfe, vom Kapitän an, der quick war wie ein Fähnrich, bis zum jüngsten seiner Fähnriche, von dem alten Stückmeister aus Tönning, der wie ein Bauer aussah und genau wie ein Bauer seine Sache tat, bis zu dem kleinen Heizer, dem Berliner, der der Germaniawerft schon zwei Erfindungen angeboten hatte, die freilich vorläufig abgelehnt waren. Sie waren alle, vom Admiral, der unter der Schanze seine beiden Räume hatte, bis zu dem kleinen Heizer, von dem einige sagten, daß er schief gewachsen wäre, während andre es bestritten, ein wenig Abenteurer. Selbstverständlich! Wie wären sie sonst auf die See geraten?! Es war doch Platz genug auf der großen, baumtragenden Erde! Aber sie hatten die See gewählt, die weite, weg- und stegelose, die grundlose See! Es war ganz selbstverständlich, daß sie wachere, hellere Leute waren als die auf dem Lande! Man kann ja nicht sagen – das Bild paßt ja nicht – daß sie das Gras wachsen hörten; aber es ist sicher, daß sie ihre Maschinen und Geschütze prahlen, ihre Feuer reden, den Wind fauchen und die Seele des Schiffes stöhnen hörten, und daß die Verwundeten in den Stunden der Morgendämmerung des ersten Juni das Schiff im Tode röcheln hörten. Dieser Admiral, der da in den Admiralskammern hauste, der ja wohl halber fünfzig alt war ... wie er den grauen Kopf drehte, wie hell und fröhlich seine Augen blitzten! Diese jungen Männer des Stabes, nicht wie bei den Engländern Gesichter von nur Haut und Knochen ... nein, wohlgerundete, feine, kluge Gesichter voll Blut und Leben! Dieser lange, hellblonde Artillerieoffizier, dem man schon von weitem ansah, daß er ein Friese war, mit nachlässiger Haltung, mit treuherzigen blauen Augen, aber dahinter so kluge Gedanken, wie noch kein Mensch gedacht, soviel verschlossene Seele, daß selbst ein Weib sie nicht begreift! Dieser erste Offizier aus altem Reiter- und Rittergeschlecht und nun ebenso frisch, schlicht und selbstverständlich zwischen Eisen und Stahl! Dieser erste Ingenieur mit den freundlichen, guten Augen, der wohl immer, wenn es sein Amt erlaubte, an die Seinen dachte und an seinem schmalen Stehpult so sicher und ruhig das Herz des Schiffes überwachte! Dieser breitschultrige Pfarrer mit den sprühenden Augen, nichts als Mensch und Menschengüte, der sich am Tag von Skagerak das Eiserne Kreuz erster Klasse holte! Diese Stückmeister an den Kanonen, Herren der Rohre und der Menschen! Diese Obermaaten und Maaten, alle voll Ehrgeiz ... manch einer wollte an Land noch große Dinge tun! Diese jungen Obermatrosen, die von tüchtigen Lebensplänen förmlich starrten; diese Matrosen und Heizer, die liefen und sprangen, Rede standen und sangen, daß das Schiff davon erbebte! Diese Elektriker, Funker und Signalgäste, die mit den Händen hörten und sprachen und mit den Ohren redeten ... oder wie es nun ist ... alle diese Leute, froh und stolz auf ihren Beruf, voll innerer Würde, daß sie diesen schweren Stand hatten: gegen die vornehmste und größte aller irdischen Gewalten und Mächte in ihren Tagen, gegen Englands Flotte, zu stehn, voll innerer Sicherheit, daß sie ebensoviel wert seien als dieser gewaltige Feind, alle eines einzigen guten Willens, alle voll brennender, flammender Erwartung: wie dieser größte und schrecklichste Tag, den ihr Leben haben würde ... und würden sie neunzig Jahre alt ... sich entrollen würde! Nein!: Träumer und Sinnierer ... die hatten auf diesem hellen, großen Schiff, das von Leben und Streben zitterte, das von fünfzehnhundert heißen, wachen, neugierigen deutschen Herzen pochte, keinen Platz! Nein, auf diesem Schiff, in dieser hellen Gesellschaft, konnten Leute wie die auf der »Alten Liebe« nicht existieren! Es war einfach kein Raum für sie, keine Luft für sie, keine Gelegenheit für sie! Und Harm Ott war das recht so. Denn wenn er auch etwas von der Scheuheit und Einsamkeitsneigung des Vaters hatte und sich unter den langsamen, wackren und todesmutigen, lieben Gesellen sehr behaglich und bequem gefühlt hatte: er war doch mehr ein Kind seiner Mutter. Nein ... es war gut, daß er nun wach sein mußte, daß es hieß: Nicht geträumt, nicht eigenwillig, nicht versonnen! Daß es nun hieß: Augen auf und aufgepaßt!
Aber es war wunderlich: als er so vier bis sechs Wochen auf dem Schiff gewesen war, da sah er, daß er sich doch etwas geirrt hatte. Da merkte er mit seiner immer forschenden, hinter den Augen suchenden Seele, daß auch hier, auf der frischen, hellen, mächtigen ›Below‹, Leute von der Art der »Alten Liebe« waren. Einige waren auf dem ganzen Schiff bekannt, da sie aus ihrer Seele keinen Hehl machen konnten und wollten; andre, scheu und bang vor Spott, unsicher im Gemüt, fanden nur in stiller Stunde den Mut und die Kraft, sich einem Verständigen zu offenbaren. Da sie merkten, daß Harm Ott hinter seiner frischen Erscheinung und seinen klugen, männlichen Augen ein verständiges, teilnehmendes Gemüt besaß, erzählten sie ihm, mit forschenden Augen ihn ansehend ... ob da nicht doch ein Spott aufblitzte ... ihre besonderen Ansichten, Sorgen, Freuden und Pläne. Da war einer an Bord, ein Heizer, seines Berufs ein Klempner, der war immer verstimmt und traurig. Er hatte nicht die geringste Freude am Leben, das ihn umgab; und das Kriegsleben war ihm ein Greuel. Ach, es war das alte Lied: eine unendlich große, etwas weichliche Liebe zu Frau und Kindern! Er erzählte einigen Vertrauten, wie er sie kennen gelernt, und die Art jedes Kindes. Wenn es dunkel war, konnte es ihm wohl geschehn, daß sich seine Augen, indem er an sie dachte, mit Tränen füllten. Er war ein hübscher Mensch; und er erzählte gut. Wenn sie an Land mit ihm gingen, auf dem Deich nach Varel zu, stundenlang, war er wie verwandelt. Es war ihm dann wohl, als wenn er seinen geliebten Menschen näher wäre, da er nun doch mit ihnen auf derselben Erde stand. Er kam dann aus sich heraus; seine Seele löste sich und sprach. Sie gingen alle rund um ihn und hingen an seinem Mund, und wenn er geendet hatte, sahen sie einander an, als wären sie sich fremd. Ein anderer, ein kleiner dunkler, unscheinbarer Mensch, von Beruf Klavierbauer, an Bord Elektriker, tat ihnen zuweilen etwas zugute, indem er in einer eigentümlich zierlichen und edlen Weise auf der Flöte eine leise Musik vortrug. Es war aber immer fromme und traurige Musik; und einige schalten ihn deswegen und verlangten etwas Lustiges. Aber er tat ihnen nicht den Willen, indem er sagte: »Lustig seid ihr aus euch selbst genug, da brauche ich nichts hinzuzutun; aber an Ernst – er sagte nicht Frömmigkeit – könntet ihr wohl zunehmen.« Er gehörte, wie es schien, einer Sekte an, hatte aber nicht den Mut, sich offen dazu zu bekennen, wurde aber von seinem Gewissen gezwungen, dieses fromme Spiel, diesen Lippendienst zu tun für die Sache, die ihm heilig war. Und dann war da einer, seines Berufs ein Hausknecht in einem Hotel, ein Mensch von einer gewaltigen, geübten Körperkraft; aber er prahlte nicht damit. Sein Vater war, wie er einmal einem Bekannten erzählt hatte – sie wußten es nun alle; aber keiner redete davon – ein Trinker gewesen; und er hatte eine traurige Jugend gehabt. Er selbst aber war ein nüchterner, zielbewußter Mensch, vorsichtig mit Spiritus und mit Mädchen, arbeitete für drei, stand jedermann bei; und half mehr als einem aus mit seiner Leibeskraft und seinem ruhigen, wortarmen Lebensmut. In der Freizeit saß er über einer Holzschnitzerei, arbeitend und rauchend, ließ aber zuweilen das Messer sinken und saß dann so, ohne zu arbeiten, wohl eine halbe Stunde und darüber, und sann; und man merkte, daß er nichts Trauriges und Bitteres sah, nicht seinen Vater, den Trunkenbold, nicht seine weinende Mutter, nicht seine unglückliche Jugend, sondern schöne, ruhige Bilder. Er sah wohl die Zeit des Friedens und der ruhigen Arbeit, ein eigenes Unternehmen, ein gesundes, sittiges Weib, gute Kinder. Einer klagte seinen vertrauten Freunden, daß er immer mit schmutzigen Gedanken zu kämpfen hätte. Sobald er allein wäre, gerieten seine Gedanken in Schmutz, und ergingen sich darin. Als Harm Ott und ein anderer ihn eines Tags in die Ecke nahmen und ihn drängten, er möchte ihnen doch einmal sagen, was für Bilder er sähe, um ihm zu helfen, wenn es möglich wäre, war es nicht so schlimm, wie sie gefürchtet hatten; und sie trösteten ihn, indem sie ihm sagten, daß er ganz gesund werden würde, wenn er sich nach dem Krieg ein tüchtiges Weib nehme. Viele litten unter der Tatsache des Krieges; sie hatten den Glauben an den Sinn der Welt verloren. Wie schön war ihnen die Welt erschienen, wie aller Farben voll und froh das Leben ... aber nun?! Die Welt war nichts andres als eine Sinnlosigkeit; das Leben nichts andres als Zerstörung und Tod! Gott? Gott ist nicht mehr; oder wenn er ist, ist er ein Engländer, d.h. gierig, friedenvernichtend! Und es half nicht viel, daß man ihnen Mut zuredete, daß man ihnen auf die Schulter klopfte und sagte: »Mut! Mut! es kommen wieder hellere Zeiten!«, oder daß der Pfarrer, der wohl ahnte, wie es bei einigen stand, für das Christentum zeugte. Er sprach mit starken Worten und blitzenden Augen. Er sagte, welch ein Unsinn es sei, zu sagen, daß das Christentum und der Glaube Bankrott gemacht hätten. Christentum und Glaube wären ewige Dinge, mit Gott, mit der ganzen Schöpfung und mit der Schöpfung der Menschenseele gesetzt und gegründet, nicht anders wie das Licht, nicht anders wie die Freude. Christentum ... der Glaube an das Gute ... würde noch da sein und über die Schöpfung strahlen, wenn auch kein Mensch in Menschengestalt mehr auf der Welt wäre. Christentum ... der Glaube an das Gute, Reine und Große ... wäre der tiefste Ton der ganzen Schöpfung, ihr großer Klang, ihr innerstes und mächtigstes Wesen! Viele, ja die meisten, waren ihm dankbar, und hatten Erhöhung, Klärung und Stärkung davon; aber die nun einmal verstörter Seelen waren, blieben es fast alle.
Bedenkliche, ja schlechte Naturen, waren nur zwei auf dem ganzen Schiff. Sie versuchten alle, sie zu guten Menschen zu erziehn ... Sie gaben sich taktvoll und unauffällig alle Mühe, alle miteinander. Aber es half doch nichts: es lag ihnen im Blut, in der Natur. Nicht einmal der Wille zum Guten war da. Der eine, mit scharfem Gesicht und unsteten Augen, war unehrlich beim Kartenspiel. Kalt behandelt, ja zurückgewiesen, kam er, ohne Ehrgefühl, doch wieder. Am Tage der Schlacht versagte er. Als ein Treffer gekommen war – er stand im Gang am Kantinendeck – sprang er zwanzig Meter zur Seite ... sie sagten, weil er ein schlechtes Gewissen hätte und den Tod fürchtete. Er machte sich später, da sein Haß gegen viele Einzelne sich allmählich zum Haß gegen sein ganzes Volk, ja gegen die ganze Menschheit verwandelte, völlig unglücklich. Der andere, aus einem kleinen Dorf Südhannovers, war nachlässig im Dienst, so als wenn er, trotz einigen guten Willens, sich nicht aufraffen könnte, das Befohlene richtig auszuführen, ja, als wenn irgendein Widerspruch in ihm wäre, der ihn zwänge, das Gegenteil zu tun. Und so war es auch mit seinen Worten. Es schien zuweilen, als wenn er nur auswendig das Gute und Ordentliche redete, als wenn plötzlich aus dem Innern, wie durch Spalten hindurch, das Böse hindurchgleiste. Er machte sich in der Schlacht – er war beim Leckkommando, – ganz ordentlich. Mit flackernden Augen hin- und hersehend, schien er zu beobachten, wie die andern sich machten. Aber auf dem schlimmen Nachtmarsch, als sie die Toten zusammentrugen, haben sich die letzten von ihm abgewandt. Es war, als wenn die Erregung des Tages das Gefüge seiner Seele gelockert hatte; und was da durch die Spalten sichtbar wurde, das war schlimm.
Im übrigen aber waren sie alle Deutsche, und im großen und ganzen einander gleich: taktvoll gegeneinander, in allem guten Willens, tapfer und wach; und alle gläubig zu ihrem Vaterland: daß es einen Verteidigungskrieg führte, und zwar einen gerechten; daß es der ganzen Menschheit, die durch Lügen verführt war, tapfer, schön und groß widerstände; daß es wert wäre, unter den ersten Völkern der Erde zu stehn; daß es in diesem Kampf siegen werde und es auch verdient hätte. So waren sie. Und es war eines jeden einzelnen und auch Harm Otts stiller Stolz, daß er sich unter ihnen bewährte.
Ja, Harm Ott bekam sogar eine Auszeichnung! ... Denn als der Divisionsoffizier eines Tages vom Kapitän gefragt worden war, ob er wohl einen ordentlichen, tüchtigen und behenden Mann empfehlen könnte, der als Läufer beim Admiral gebraucht werden könnte, hatte er Harm Ott empfohlen. Der Divisionsoffizier hatte ihn nämlich eines Tages über einem Buch gefunden, das die Geschichte Schleswig-Holsteins behandelte, und hatte ihm gesagt, er müsse sich nicht allzulange dabei aufhalten; denn es käme dabei, wie bei der Geschichte aller Grenzländer, nicht viel heraus; er müsse die Geschichte des ganzen Deutschlands lesen, so wie sich der Mittelpunkt allmählich verschoben hätte: erst Franken, dann Thüringer, dann Sachsen, dann Habsburger, dann Preußen, und nun, erst in diesem Krieg erscheinend, das ganze Deutschland: ein Herz und eine Seele. Und da hatte er gemerkt, daß Harm Ott dies Studium schon mit Ernst betrieben hatte und in der Geschichte des großen deutschen Volkes schon gut Bescheid wußte. Seitdem hatten sie zuweilen, wo sich die Gelegenheit bot, ein Wort miteinander geredet.
Der hatte also Harm Ott empfohlen.
Und so wurde er Läufer beim Admiral und seinem Stab, oder, wie es kurz hieß: Läufer-Stab ... Gefechtsstation: in Lee des Kommandoturms.