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4. Kapitel

Die Beschuldigung

Aber eines Tags erfuhr es unglücklicherweise der Vater. Als Ott nämlich frühmorgens mit einem Gespann Pferde wartend vor der Tür der Schmiede stand, die noch nicht geöffnet war, beobachtete er, wie die Kinder des Schmieds, die schon im Garten zwischen den noch blattlosen und trockenen Beerenbüschen liefen, sich zu einem Spiel aufriefen, indem sie zueinander sagten: »Kommt! ... wir wollen Eggert den Pfeifer spielen?« Ott schrak zusammen und sah hin und sah, wie das eine der Kinder sich hinter einem Busch versteckte und da leise pfiff, und die andern es dann mit Hallo entdeckten und hervorzerrten.

Er kam völlig verstört nach Hause. Was sein Verdacht gewesen war, das schien ihm nun Gewißheit. Wie konnte er noch zweifeln? Volkes Stimme ... Gottes Stimme. Er war verzweifelt in der nun sicheren Erkenntnis, daß sein eigenes Kind ihm und den Seinen dies unsagbare Böse getan, diese offenkundige Schande und diesen Schaden am unschuldigen Kind; und das alles, ohne daß es ihn gereute. Denn er schien keineswegs bedrückt. Er ging seiner Arbeit nach wie gewöhnlich, und pfiff wohl gar leise dazu. Es war der vornehmen Seele des Vaters etwas ganz Ungeheuerliches, etwas Grausiges; es ging seinem scheuen, gütigen Gemüt über die Menschlichkeit hinaus. Heiße, so entsetzlich getäuschte Liebe, heimlich heißer, nun so zerbrochener Stolz wühlte in seiner Seele und gierte nach einem Ausbruch und einer Lösung. Er trug einen Gram im Gesicht, der sein Weib erschütterte und seine Kinder erschreckte. Er sagte aber niemandem, was ihn quälte. Er hoffte noch, seine Not in sich zusammenpressen und niederhalten zu können, so sehr sie auch herausschreien wollte.

Am Mittag aber, als sie alle um den großen runden Tisch saßen – auch Harm, der Zimmermann war, da es Sonntag war, nach seiner Gewohnheit aus der Stadt nach Hause gekommen – und er die Gesichter aller seiner Kinder sah und wie rein und harmlos sie waren, konnte er es nicht länger ertragen, suchte einen Weg für sein schrecklich schweres Unternehmen und griff in seiner seelischen Ungeschicklichkeit falsch, und fing an, die Kinder einzeln nach diesem und jenem zu fragen, fragte erst Harm nach seiner Arbeit auf dem Zimmerplatz und daß er denn ja nun in acht Tagen nach Kiel ginge, um seine Zeit bei der Marine abzudienen, fragte den Reimer, welches Buch er jetzt lese und scherzte sogar, indem er ihn den Professor nannte, und fragte dann Emma, ob sie heute nachmittag Besuch von einer Freundin bekäme, und so alle Kinder der Reihe nach, und sah jedes an und versuchte sogar zu scherzen. Aber seine Augen waren blind und sein Scherz ungeschickt, und es zerriß ihnen das Herz. Zuletzt konnte die Mutter es nicht länger ertragen, daß er Eggert weder anredete noch ansah, und sagte, von großer überkommender Angst getrieben mit wankender Stimme: »Eggert hat heut morgen in aller Frühe das Fohlen schon traben lassen; er sagt, es hat einen guten Gang.«

Da brach es mit schrecklicher Bitterkeit aus dem Vater heraus. »Der?« sagt« er, »mit dem kann ich doch nicht reden?! Mit dem, der unser ganzes Haus in Unehre gebracht hat und seine kleine Schwester auf Lebenszeit krank gemacht bat? Wißt ihr noch nicht, daß er im ganzen Kirchspiel Eggert der Pfeifer heißt?«

Die Mutter war aufgesprungen und schrie in heller Verzweiflung: »Vater, versündige dich nicht ... mein Kind! ... mein Kind! ... Er geht weg von mir!« Die andern schrien alle und hielten die Hände gegen ihn und vor den Bruder, um abzuwehren, was gegen ihn anschlug. Die Kleinen weinten laut auf. Aber der Vater ließ sich nicht beirren: »Ist er nicht immer bei den verdorbenen Ludwigs gewesen? Hat er nicht vor Weihnachten mit den rohen Leuten von der hollandschen Tjalk das ganze Haus durchstöbert? Spielt und pfeift er nicht fein? Ist er nicht widersetzlich, vom Morgen bis Abend, und will vom Hause weg? Da hat er uns etwas vorgepfiffen ... weil er uns verachtete und von uns fort wollte«.

Der Beschuldigte war schon längst an der Tür, die magern Schultern bis an die Ohren hochgezogen. »Ich ... ich?« schrie er rasend –, völlig von Sinnen – er wollte wohl sagen: ›Ich, der ich für euch alle in siebenfachen Tod ginge?‹

Wenn jetzt nur ein einziger Augenblick des Schrecks oder der Qual durch seine Seele gejagt wäre und sich in seinem hageren Gesicht unter seinem rotblonden Haar gezeigt hätte, so wäre es vielleicht noch gut gegangen; aber er war sogleich, im selben Augenblick, da er die Beschuldigung begriff, nichts als lauter Trotz und lauter namenloser, eiskalter Hochmut. Er warf die wilden, kalten Augen auf den Ankläger und sagte mit schrecklichem Hohn nichts weiter als: «Ach ... du!!« ... und sah noch einmal um den Tisch alle an, so als wenn er sagen wollte: ›Da seid ihr alle ... zum letztenmal ...‹ Dann wandte er sich, und ging hinaus.

Während die Mutter bald in verzweifeltem Weinen zusammenbrach, bald den Vater beschwor, dem Knaben nachzugehn, und der Vater, die Hand Emmas streichelnd, die bitterlich weinte, stumm und still vor sich hinstarrte, völlig im Bann seines Glaubens, waren Harm und Reimer dem Bruder, der nach seiner Kammer zustrebte, nachgesprungen. Als er vor seiner Kammertür stand, kehrte er sich um und schrie: »Was kommt ihr mir nach? Geht zu eurem Vater! Ich habe nichts mit euch zu schaffen.«

Harm hielt aber die Tür fest und sagte in seiner Weise, die immer ruhiger wurde, je stürmischer der Augenblick war: »Rede nicht so, Bruder! Es glaubt ja kein einziger von uns, was der Vater sagt. Beruhige dich«!

Aber er warf den Kopf wild herum und schrie: »Kann ich es euch ansehn, ob ihr es glaubt oder nicht? Und wenn ihr es heute nicht glaubt, glaubt ihr es morgen auch nicht? Weg mit euch; ich habe nichts mehr mit euch zu schaffen!« Er knirschte mit den Zähnen und sagte mit rasenden Augen: »Geht zu dem Mann da drinnen, und redet weiter von Eggert dem Pfeifer! Macht, daß ihr wegkommt! Und wenn ich nach fünfzig Jahren einmal wiederkomme ... reich und groß ... so groß wie ein Turm und mit Gold behangen ... und ich sehe euch ... ich grüße euch nicht! Ich kenne euch nicht! Schert euch! Geht zu eurem Vater! Ist es nicht euer Vater ... euer Vater?!«

Harm sagte ruhig: »Aber wir haben doch eine Mutter gemeinsam, Bruder Eggert.«

Aber er hörte nicht. Er hatte ein großes rotbuntes Taschentuch aus der Lade gerissen und auf den Tisch geworfen und war dabei, seine alte Kleidung und etwas Wäsche auf einen Stapel zu werfen. Er sah mit wilder Gebärde auf und sagte: »Eine Mutter? Wo denn? Steht sie hier neben mir? Schnürt sie ihr Bündel, wie ich tu? Sie bleibt, wo sie ist, und ich geh' allein. Ich geh' ganz allein ... ich bin schon jetzt ganz allein. Ich habe weder Vater noch Mutter noch Brüder. Ich? Ich bin viel zu stolz, noch irgendeinen Menschen besitzen zu wollen ... hier in dieser Gegend ... wo ich für möglich halten muß, daß er jetzt oder später an mir zweifelt.«

»Wir zweifeln nicht an dir, Bruder,« sagte Harm ... »wir werden es auch niemals tun!«

Aber er hörte nicht. »Meinen alten Stallanzug nehme ich mit. Der glaubt an mich. Und meine Mundharmonika ... die glaubt auch an mich; und wenn sie es nicht tut, zertrete ich sie. Diese beiden Dinger gehören mir und gehören zu mir. Von allem andern will ich nichts wissen. Nichts ... garnichts! Ich bin viel zu stolz dazu. Viel zu stolz! Ich bin so stolz, so sauber, so hoch wie die Sonne am kalten Wintertag! Ja, so bin ich! So fern bin ich euch.«

»Und bist doch unser Bruder,« sagte Harm wieder.

»Euer Bruder?« schrie er mit funkelnden Augen, »rede keinen Wahnsinn! Ihr ... Ihr steht auf der schönen sauberen Steinbrücke, die zweimal in der Woche gefegt wird, damit ihr reine Füße habt, wenn ihr darüber geht ... ich aber ... mich hat mein Vater von der Steinbrücke herab in die Düngergrube gestoßen! Soll ich mit euch leben und reden bis zum halben Leib im Schmutz? Rede keinen Wahnsinn, Mensch!«

Da drängte sich der kleine Reimer vor, der bisher, die Hände ringend, ein Bild ratlosen Entsetzens, in der Kammertür gestanden hatte. Er warf sich vor dem Bruder auf die Knie und umklammte ihn und bat ihn: »Glaube doch an uns! Glaube wenigstens an Mutter und an uns beide! Wir wissen, daß du es nicht getan hast. Du bist ebenso gut wie wir, ja, du bist besser als wir, denn du bist wahrer als wir. Ich ... ich kann so etwas im Spielen ausdenken, so etwas Böses und Wunderliches ... aber du ... du kannst es nicht mal im Spielen denken. Ich bitte dich ... wenn du auch weggehst jetzt ... glaube ... glaube ... an uns! O, ich bitte dich vom Himmel zur Erde ... glaube an uns! Wie willst du leben, wenn du nicht an uns glaubst!!«

Er sah ihn nicht an, riß sein Bündel an sich und sagte kalt: »Ich kann nicht wissen, wie du morgen denkst. Laß mich los! ... Ich bin fertig!«

Er wandte sich zur Tür und wollte gehen. Da stand die Mutter da an der Tür und hielt sich am Pfosten und sah ihn aus todblassem Gesicht an und sagte: »Es ist recht, daß du jetzt gehst ... bis er sein Unrecht einsieht und es dir schreibt. Es wird nicht lange dauern. Und dann mußt du wiederkommen.«

Er bäumte sich auf: »Der Teufel soll mich holen, wenn ich jemals diese Gegend wiedersehe, und werde ich neunzig Jahr alt!«

Sie stöhnte und sagte: »Wenn du so gehst und nicht wiederkommst ... das ertrage ich nicht.«

»Warum hast du dir einen Mann genommen, der seine Kinder in die Düngergrube stößt?«

Sie fuhr in wildem Zorn auf, während ihre Hand mit einer jähen Bewegung über das Haar fuhr: »Wenn mir die Kleinen nicht an der Schürze hingen, glaubst du, daß ich noch eine Stunde in seinem Hause bliebe? Aber ich bin hier angebunden.« Und sie weinte laut auf.

»Nun also,« sagte er, »so laß mich! So weiß ich, daß ich einmal eine gute rechte Mutter hatte, und du, daß du ein rechtes Kind hattest! Denn ich wäre auch mit dir gegangen, wenn er dir so etwas angetan hätte ... bis ans Ende der Welt!« Und er riß sie an sich und herzte sie und schluchzte wild auf. »So!«, sagte er, »nun mach' Platz! Weg in die Welt!« Und er ging durch die Diele aus dem Hause.

Die beiden Brüder folgten ihm in einiger Entfernung. Harm, der erkannte, daß in dieser Stunde nichts von ihm zu erreichen war, sagte in gewissen Abständen irgendein kurzes Wort, in dem Wunsch, es möchte sich als das letzte, was von seinem Elternhaus in sein Ohr gedrungen war, in einer späteren ruhigeren Zeit und verständigen Jahren in seinem Gemüt erhalten. Der kleine Reimer, in völliger Ratlosigkeit und Verzweiflung, bitterlich schluchzend, lief zuweilen vor und streichelte ihm über den Ärmel. Er hatte alle seine Klugheit und Weisheit und sein sicheres Lehren verloren, auf das er so stolz war; er bat nur immer wieder: «Glaub' uns doch!«

Aber er achtete gar nicht auf sie und hörte sie nicht. Er ging mit raschem, schwerem Atem seinen Weg, die Augen auf den Deich gerichtet, dem er zustrebte. Er baute immer höher an dem Turm seines Stolzes, immer höher ... bis zur Sonne hinauf, die mit blassem Gesicht schräg über ihm am frischen, wolkigen Frühlingshimmel hing. So kamen sie bis zu der Stelle, wo er nach seiner Gewohnheit, so im Stehen, die Stiefel abzog, um barfuß quer über die Felder weiter zu laufen. Als er sich nun in diesem Augenblick bückte, sah und bedachte er erst, daß er seinen Sonntagsanzug trug, den sein Vater erst neulich für ihn bezahlt hatte. Er hätte ihn ja völlig als sein Eigentum ansehen können, mit Arbeit auf dem Hof vom frühen Morgen bis zum Abend redlich erworben, aber er dachte ja an nichts weiter, als wie er seinen Hochmut zeigen und den Vater kränken könnte, und dachte, wie er es anstellen sollte, und knirschte mit den Zähnen und schliff am härtesten Gedanken.

Nun lag da an dieser Stelle am Weg, nicht weit mehr von der Landstraße, ein großer Bauernhof, und der baumreiche alte Garten des Hauses stieß an den Weg. Es wohnte aber auf dem Hof eine Witwe, eine freundliche, schon alte Frau, und ihre Tochter. Diese Tochter, mit Namen Höbke Suhl, war gerade gewachsen, vielleicht ein wenig zu lang, und hatte ein edles gutes und reines Gesicht und hellblondes Haar, das sie schlicht und schön in einem einfachen Knoten trug. Sie war so um vierundzwanzig Jahr alt und war noch ledig. Wenn sie arm gewesen wäre, hätte sie wohl schon einen Mann gehabt, da sie aber Erbin des stattlichen Hofes war, hielten sich manche aus Vornehmheit zurück. Andere fürchteten ihre Klugheit und Gelehrsamkeit; denn es war bekannt, daß sie in der Geschichte der Landschaft und ihrer Geschlechter und Familien sehr bewandert war, und es ging das Gerede, daß sie gern las und nicht immer leichte Bücher. Andere fürchteten ihre Spottsucht. Denn obgleich sie selbst ein ungeschicktes Wesen hatte, so spottete sie doch gern über anderer Leute Wesen und Tun, freilich immer, wie das ja häufig ist, nicht aus lieblosem, sondern im Gegenteil aus einem menschenfreundlichen und gütigen Gemüt. Zuletzt war auch diese ihre scheue Ungeschicklichkeit eine Ursache ihres Ledigseins. Denn wenn es einem Mädchen auch unmöglich ist, sich geradeswegs anzubieten, so weiß eine Geschickte, eine Seelenkundige, ihre Zuneigung wohl anzudeuten, ohne sich im geringsten etwas zu vergeben; die Ungeschickte aber bleibt stumm und hält ihre Gefühle in ihrem Innern verschlossen, ja zeigt vielleicht im rechten, wichtigen Augenblick das verkehrteste Gesicht. Da sie nun also ohne Geschwister und ohne Mann und Kinder war und doch etwas haben mußte, das sie lieben und daran sie ihren Spott anbringen konnte, so hatten ihre Mutter und ihr alter Tagelöhner Peter von Morgen bis zum Abend ihr gutes Teil daran zu leiden. Als dritter aber mußte ihr Eggert dienen, der fast jeden Abend, wenn sie sich nach ihrer Gewohnheit unter den Gartenbäumen erging und, indem sie die Geschichte der Landschaft bedachte, übers weite Land spähte, des Wegs kam und am Weg, auf der anderen Seite des Grabens, vor ihren Augen sein Schuhwerk auszog. Da sie ihn von seiner Kindheit an kannte und überaus gern hatte, so breitete sie ihr ganzes Inneres in Mütterlichkeit, Schellen und Spottlust immer mehr über ihn aus und es gab seit Jahren manch gute Unterhaltung für sie über den Graben hin. Er aber ließ es sich durchaus gefallen; ja, ihm behagte es, wie einem jungen Kater das Kraueln; er war zutraulich und von freilich etwas knurriger Gemütlichkeit. Was sie eigentlich beide im tiefsten Grund aneinander mochten, war, daß sie einer am andern fühlten, daß er ein ganz natürlicher und ganz wahrhafter Mensch wäre und den andern, obgleich er ihn für ein wenig quer hielt, dennoch in diesem seinen Wesen lassen und nicht aus seiner Haut jagen wollte. Aber das war ihnen nicht weiter bewußt.

Diese Höbke Suhl stand da nun auch heute, nach ihrer Gewohnheit in einem weißen Kleid, das ihr schön um den langen, schlanken Leib stand, sah die drei herankommen, sah das seltsame Gebaren, und als sie das bittere Weinen und Bitten Reimers hörte, fragte sie schon von fern: »Was ist los, Harm ... was ist los, Eggert? ... Was willst du, Junge?« und warf ihre graublauen Augen, die ihr schön und klug im Kopf saßen, auf ihren Grabenfreund, der nach seiner Gewohnheit an dieser Stelle seine Stiefel von den Füßen riß.

Er, von seinem Zorn völlig besessen, kümmerte sich nicht um sie, knurrte nur etwas, und zog an seinem Stiefel.

Statt seiner sagte ihr Harm, was geschehen war: daß der Vater ihn beschuldigt, und nun wolle er weg ... wohl nach Hamburg.

»Nach Hamburg?« schrie er, »zu den Botokuden! ... zu den Feuerländern!«

Reimer, der kleine Gelehrte, erschrak. Er dachte: »Welch ein Wirrwarr! Wie unwissend geht er in die Welt!« und weinte laut auf.

Das Mädchen war aufs heftigste bestürzt über das große Unglück, und wußte in ihrer Verwirrung – so wie ein Mensch, wenn sein Haus plötzlich in Flammen steht – nicht, wohin sie greifen und wie sie helfen sollte. Sie sagte voll herzlicher Not, Bedauern und Mitleid: »Ach, Gott ... welch ein Irrtum! Welch ein Irrtum! Hätte ich es doch gehört! Hätte ich doch mit ihm gesprochen (sie meinte den Vater)! Welch ein Irrtum! Ach, Junge ... lieber Junge ... ach! ...« Und plötzlich wußte sie, was sie tun konnte. »Ach Eggert ... höre ... Jung' ... komm zu mir! Ich bitte dich, komm zu mir! Ich freu' mich ja, wenn du bei mir bist! ... komm her und bleib' so lange bei mir, bis alles wieder in Ordnung ist.«

Er riß seine Schuhe und Strümpfe von der Erde auf und schrie: »Bist du verrückt? In die weite Welt will ich! Wenn du was für mich tun willst, so gib dem Mann da ... auf dem Hof da ... dem Ott ... die achtundvierzig Mark, die dieser Anzug kostet! Ich will nichts von ihm geschenkt haben ... von dem Menschen ... dem Schänder. Ich will es dir in einem Jahr wiederschicken, so wahr ein Gott im Himmel ist!«

»Junge,« sagte sie zornig, mit bleichem Gesicht, »du bist ja wirr im Kopf! Um solch einen Quark bemühst du Gott? Ich werde ihm das Geld geben, verlaß dich darauf! Sei vernünftig, Eggert ... Eggert ... hör' noch, bleibe noch ...«

Er sprang, die Schuhe in der Hand, übern Graben. »Das ist nett von dir«, sagte er, »aber ich habe es auch nicht anders von dir gedacht!« und lief übers Feld, das seitlich des Grabens nach dem Deich zu lief.

Sie war von der Begebenheit, die ihr so plötzlich über den weißen Hals lief, völlig verwirrt, fühlte aber, daß es schlimmer Ernst war, daß er auf Nimmerwiederkehren davonginge. Die Not der Seinen und seine eigene brannten ihr im Herzen; sie fühlte auch, wieviel sie selbst an ihm verlor; sie hatte ja außer ihm niemanden, mit dem sie ein wenig ernstlich hantieren und spielen konnte. Wie eine Henne, die ihre Entlein wegschwimmen sieht, trat sie dicht an den Grabenrand und rief, Not und Angst in ihrem weißen Gesicht: »Eggert, Du weißt, wie lieb ich dich hab' ... schreibe mir ... hörst du? wo du auch bist ... du sollst mir schreiben!!«

Er wandte sich auf den Hacken um, sah sie groß an, schien endlich wieder das erste menschliche Gefühl zu haben und rief, wie wenn er sich besänne: »Ja, du ... du glaubst an mich! Du und meine Mutter! Und ich will dir schreiben! ... Ja ... und du gibst es Mutter.« Und damit rannte er davon.

Der kleine Reimer wollte hinter ihm her über den Graben. Aber Harm hielt ihn zurück. »Es hat keinen Zweck,« sagte er. »Er ist jetzt ganz von Verstand. Es ist da nichts zu machen.«

»Ich fürchte auch,« sagte Höbke Suhl. »Er ist jetzt aus Rand und Band. Wir müssen hoffen, daß er allmählich zu Verstand kommt.«

Sie standen alle drei und sahen ihm nach. Harm mit ruhigeren Augen, mit seinen Gedanken und Sorgen mehr zu Hause bei dem Zustand der Eltern als bei dem Bruder; Reimer bitterlich weinend. Höbke Suhl, die hübschen klugen Augen nahe beieinander, schüttelte den Kopf sowohl über ihn und sein Geschick wie über sich selbst; denn sie fühlte deutlich, daß da ein eigen schönes Stück ihres Lebens über die Felder sprang, daß die frühlingsnasse Erde ihm um die Ohren flog, und immer kleiner wurde. Nun erreichte er den Deich und sprang im Lauf schräg hinan, nun stand er einen Augenblick, die Stiefel in der Sand, gegen den Himmel ... Nun war er weg.

Die drei standen atemlos und starrten auf die Stelle. Dann wandte Harm sich um und sagte zu seinem Bruder: »Nun komm ... nun müssen wir zu denen im Hause.«

Höbke Suhl wollte noch etwas trösten und raten. Aber nun, da ihr alter Bekannter fort war, mit dem sie sich in Gedanken und Ton eingelebt, kam wieder ihre alte Unsicherheit über sie. Sie stieß und murmelte ein paar gleichgültige Worte hervor, wurde über diese ihre Ungeschicklichkeit noch verlegener, fühlte, daß sie darüber rot wurde, und wandte sich ab, ihrem Hause zu.

Als die beiden Brüder nach Hause kamen, hatte die Mutter die Kleinen in die Kammer der Magd geschickt; die Großen saßen wie Menschen, die ganz gegen ihre Natur und Gewohnheit ein wüstes Gelage gemacht und nun voller Ekel sind und vergebens versuchen, sich wieder ins Geordnete und Reinliche hineinzufinden, mit verstörten Gesichtern hier und da in den beiden Stuben. Der Vater saß am Fenster und starrte in den öden Garten hinaus; die Mutter hockte auf dem niedrigen kleinen Stuhl am Ofen, der noch von den Großeltern herstammte. Sie war sonst so groß und stattlich und auch schön, und war das auch jetzt noch, aber sie war plötzlich wie eine große schöne wirre Ruine geworden. Emma hatte sich ins Bett gelegt, hatte sich zur Wand gewendet und weinte heftig.

Die beiden Brüder kamen herein und sahen die Ihren in diesem Zustand und traten stumm und trostlos an das Fenster und starrten hinaus. So blieben sie wohl eine Stunde. Dann fing Harm an, quer durch die Stube zu gehen. Er wollte etwas sagen und zum Guten reden, empfand aber immer wieder, wenn er den Mund öffnen wollte, daß es nichts nütze, vor beiden Eltern zugleich zu sprechen, da sie eine entgegengesetzte Stellung zu dem Fall hatten. Er überdachte aber in seiner Weise die ganze Sache langsam und gründlich, und erwog, wie er nachher jedem für sich zu Hilfe springen wollte, der Mutter, indem er ihr gute Hoffnung zuredete, daß der Vater seinen Irrtum erkennen würde und daß Eggert nicht für immer verloren wäre, dem Vater, indem er ihn leise und vorsichtig zu überzeugen suchte, daß er sich geirrt. Er sah wohl ein, daß diese Überzeugung dem Vater sehr langsam beigebracht werden müsse; denn es war sicher, daß er nach seiner Natur schwerer noch als an einem mißratenen Sohn, an dem großen Unrecht leiden würde, das er einem guten und verkannten angetan hätte. Er erkannte, wie schwer alles stand und lag, und war aufs heftigste bedrückt, und sein sonst so froher, frischer Mut war zum erstenmal in seinem Leben aufs ärgste bedrängt; er mußte an sein schönes Handwerk, an das muntere helle Haus seines Onkels und Lehrherrn und an sein blitzendes Fahrrad denken, um sich aufrecht und sauber zu erhalten. Der kleine Reimer hatte sein Gesangbuch geholt, hatte sich auf den Bettrand neben seine Schwester gesetzt, und las unter dem Vorwand, daß er prüfen wolle, ob er sie noch auswendig wisse – in Wirklichkeit fühlte er trotz seiner Jugend, daß diese Stunde für das Gemüt des Vaters eine furchtbare Gefahr wäre und wollte ihm helfen – mit leiser Stimme, doch so, daß sie es in der ganzen Stube hörten, die alten Gesänge. Eine ganze Weile, fast eine ganze Stunde lang, klangen die großen, ernsten, vertrauenden Worte durch die beiden niederen Räume dieses niedersächsischen Hauses, in dem die bitterste Qual wohnte. Dann wurde die Kranke müde und schlief ein, wie sie lag, den schmalen, feinen, im Weinen gebeugten Rücken zur Wand hin. Der Knabe blieb, wie er saß, das Buch noch im Schoß. Allmählich sank ihm der Kopf auf die Brust und er saß so in Sinnen, unbeweglich, die scharfen Augen an der Erde. Sein etwas langes Gesicht war noch länger als sonst, so, als wenn das Leid es gezogen hätte; das dunkelblonde Haar, das im Nacken bis an den Rockkragen hing, stand im Scheitel fast aufrecht, als dehne und sträube es sich von ratloser Verzweiflung im wirren Hin- und Herjagen nach Plänen und Hoffnung.

So verbrachten sie den Tag, bis der Abend kam.

Als es Abend war, gingen sie auseinander in ihre Schlafstuben. Als Reimer vor seine Kammertür kam, die er mit dem Fortgelaufenen geteilt hatte, bat er seinen Bruder, noch einen Augenblick mit hineinzukommen, fing an zu weinen und klagte, daß sie den Bruder so hätten fortgehen lassen; sie hätten noch weiter mit ihm gehen sollen. Er setzte sich auf den Stuhl am Fenster, rang die Hände zwischen den Knien und sagte: »Er wird mit den Ludwigs nach Hamburg gehen; sie haben dort zu tun, das weiß ich. Aber was dann? Er weiß ja keinen Bescheid in der Welt! Er spottete immer über mein Bücherlesen, und wenn ich ihn belehren wollte, sagte er, was ich aus den Büchern herausläse, das stünde für ihn auf der Handfläche; er brauche sie bloß vor sich hinzuhalten, so wüßte er Bescheid.«

Harm suchte ihn zu beruhigen: »Ich glaube, er hat recht, mein Junge. Die meisten Menschen finden von selbst in der Welt zurecht; und so einer ist er. Er wird in irgendein Land gehen und da auf einem Hof Arbeit suchen.«

»Ja ... aber welches Land hat guten Boden, gute Höfe, gute Menschen? Von all dem hat er keine Ahnung! Wenn er nun ... ich weiß nicht wohin reist ... und kommt da um?! ... Und dann –« er schluchzte heftig auf – »dann möchte ich auch das andere mit ihm bereden! Sieh, wenn er so im Zorn bleibt gegen den Vater ... wie schrecklich ist das für ihn! Und wenn er nie wieder zurückkommt, wenn die Eltern ihn nie wieder sehn, wenn er ganz verloren ist, ganz heimatlos ... das ist ja nicht zu ertragen! Das erträgt die Mutter nicht ... Sie würde ja auch dem Vater gram bleiben! Und Vater ... wenn Vater nun zu der Erkenntnis kommt ... und das wird sicher eines Tags geschehen, daß seine schreckliche Beschuldigung ein Irrtum war, und Eggert ist dann weg, verschwunden in der weiten Welt ... das wird grausig für Vater; denn er hat ein empfindliches Gewissen. Aus einem überempfindlichen und überreinen Gewissen hat er Eggert von sich gestoßen; er wollte mit keinem Schelmen unter einem Dach leben, und er stieß ihn weg, obgleich es sein Sohn war. Wie wird sein Gewissen erst leiden, wie wird es sich qualvoll aufbäumen, wenn er erkennen wird, daß er, indem er wahr und klar zu sein glaubte, einen so schrecklichen Irrtum beging und eine solche Not über seinen unschuldigen Sohn und über sein ganzes Haus brachte! Er wird sich selbst nicht mehr ertragen können und wird sich aus der Welt wegschleichen. Er hat dieselbe Natur wie sein Onkel hatte. Du erinnerst dich doch der Geschichte?! Der nahm sich das Leben, weil ein einziger Mensch, der noch dazu einen schlechten Ruf hatte, im Scherz, bloß um ihn zu ärgern, in der Wirtschaft behauptet hatte, er hätte vor zwanzig Jahren seine Scheune angezündet! Sieh ... so steht es ... so schrecklich! Und darum muß etwas geschehen.«

Harm gab dem Bruder in allem recht, was er sagte, wußte aber keinen Rat. »Was sollen wir tun?« sagte er. »Er ist ja von Eis. Er ist ja blind und taub, und sieht und hört auf nichts ... auf niemanden.« Der Knabe sagte: »Auf dich hört er nicht. Auf Pastor Bohlen... wenn wir den bäten, ihm nachzureisen... wird er auch nicht hören. Wir wissen ja auch nicht, ob Pastor Bohlen gerade frei ist... ich meine, innerlich... er hat ja immer seine Not und seine Arbeit... Nein... es kann niemand richtig mit ihm reden, als allein ich. Wenn ich ihm alles ... alles sage... was ich hier... hier... in der Brust habe... dann würde ich es vielleicht treffen, daß er plötzlich von seinem Zorn abließe. Ich... ich habe die Begabung, die keiner hat... ich kann mit einem Menschen durch seine ganze Seele gehn und ihm alles zeigen, was darin ist, und es ihm erklären... denn die Menschen kennen ihre eigne Seele nicht... und kann mit ihm an das Fenster treten... ich meine der Seele... und ihm ganz deutlich der andern Seele zeigen... ihre ganze Art... Vaters Seele... Ja, das kann ich! Ich... ich kann das, was kein Mensch kann!... Und so zerschmeiße ich ihm das ganze Götzenbild, das er dann hat, und mache ihn klug und gut... ja...« Und plötzlich richtete er sich auf und sagte froher und mit hellerer Stimme: »Aber nun geh, es ist schon spät und du mußt morgen sehr früh wieder fort.«

Da ging sein Bruder hinaus, verwundert über seine Worte, so in dem unbewußten, unklaren Gedanken: ›Eggert, in der Fremde, wird es nicht leicht im Leben haben ... aber dieser da in der Kammer ... der wird es noch schwerer haben.‹ Und ging in seine Kammer und legte sich hin.


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