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Als Harm Ott da noch stand, kam der Oberleutnant, sein früherer Divisionsoffizier, an ihm vorüber und sagte: »Es kommt eben ein Torpedoboot längsseit. Wenn Sie wollen, können Sie mitfahren, daß Sie wieder zu Ihrem Stabe kommen.«
Da stand er auf und besann sich einen Augenblick, warf einen langen Blick auf die Flaggen und ging hinunter, und suchte seinen Bruder, und fand ihn, und sagte ihm, daß er von Bord ginge, meldete sich ab und kletterte ins Boot hinunter, das in der heftigen Dünung sprang und schlingerte. Das Boot war schon vom Schiff ab, da riefen ihm noch zwei Offiziere Namen und Wohnung zu, und er solle rasch vorspringen und sagen, daß sie gesund wären.
Als sie nach dreistündiger Fahrt – es mochte so um neun Uhr morgens sein – am Pier anlegten, war es da überall schwarz von Menschen, die auf die See hinausspähten, und zeigten und fragten, und riefen und riefen. Vom Gros waren schon einige vor der Schleuse, und viele Torpedoboote hatten schon am Kai festgemacht. Bürger, Werftarbeiter, Knaben, Frauen kamen mit erregten Gesichtern auf die Matrosen zu: »Ihr habt gesiegt!? Gesiegt habt ihr? Gesiegt?! – Wieviel haben wir verloren? Was sagt ihr ... die Pommern? ... Was seid ihr für fixe Kerle! ... Nein ... wer das für möglich gehalten! ... Ihr habt gesiegt? ... Ihr kleinen Kerle über die großen, dicken Engländer?! Nein doch! Nein, was seid ihr für Kerle!« Die Matrosen, bleich, mager, mit einem stillen Glanz in den übernächtigen Augen, zählten die feindlichen Schiffe auf, von denen sie wußten, daß sie verloren waren ... »Ja ... das Schiff ... und das ... und das... Mehr wissen wir nicht ... Wißt ihr mehr?«
Viele junge Frauen standen da mit großen angstvollen Augen und fragten die, die ans Land kamen, nach diesem und jenem Schiff, und gingen zum nächsten, wenn sie keine Antwort bekamen. Neben dem Schuppen, ein wenigs abseits, standen zwei Maaten eines Kreuzers, ihre Frauen drängten sich an sie; eine dritte stand ein wenig zur Seite, die Hände vor den weinenden Augen. Ein Strom von Bürgern, Matrosen, Frauen und Kindern kam aus den Straßen der Stadt; bis mitten auf dem Damm standen die Menschen; zwischen ihnen durch zogen von den immer ankommenden Schiffen Matrosen in einzelnen Trupps, Ordonnanzen, Offiziere, die irgendwelchen Auftrag hatten, alle erregt in Haltung und Mienen, alle mit überwachten Gesichtern, manche ordentlich gekleidet, aber viele durchnäßt, zerrissen, einige angebrannt, einige verbunden und blutend. Ein großer Trupp Heizer, in Hemd und Hosen, zerrissen, die Schweißtücher noch um den Hals, über und über voll schwarzen Kohlenstaubes, zwei Verwundete in ihrer Mitte, zogen über die Werft, mit lautem Gesang: »Deutschland, Deutschland über alles ...!« So wälzte es sich über die Brücken in die Stadt, aus der immerfort in ungeheuerem Zug, eilend, laufend, fragend, die Bevölkerung strömte. Harm Ott hatte an einigen Stelle Mühe weiterzukommen.
An einem der ersten Häuser löste sich ein Torpedobootsoffizier, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, der hundert Schritt vor ihm gegangen war, vom Zug und trat in einen Hausgarten. Er rief seiner jungen Frau, die auf dem Ballon erschien, von weitem zu: »Wie geht es dem Kleinen?«
Seine Frau rief: »Seit vorgestern nachmittag geht es ihm gut! Ich bin nicht von seinem Bett gegangen; es wird besser mit ihm. Was bedeutet das Laufen auf der Straße?«
»Frau,« sagte er, »wir haben gestern die größte Seeschlacht geschlagen, die jemals in der Geschichte gewesen ist! Und wir haben gesiegt!! Und ich bin mit dabeigewesen.«
Die Frau hob die Hände an die Schläfen.
Vorüber!
Zwei Torpedobootsoffiziere gingen eine Weile neben ihm und er hörte, wie der eine sagte: »Ich war mit meinem Boot völlig abgekommen ... ich wußte von nichts ... ich suchte ... suchte ... ich fand nichts von unsern Schiffen. Aus den Funksprüchen konnten wir nicht klug werden; es war ein tolles Gewirr von Engländern, die uns offenbar umgaben. So ging es die halbe Nacht ... da, so gegen Morgen ... so um drei Uhr ... bekamen wir deutlichen deutschen Funkspruch: ›Wir sollten uns zu dem Gros sammeln.‹ ... Du ... da ... ich hatte nicht mehr geglaubt, daß es noch ein deutsches Gros gäbe! ... da ... ist es mir schwer geworden, meinen Leuten das zu sagen ... ohne Tränen! ... Es gab noch ein deutsches Gros ... und wir sollten uns zu ihm sammeln!« ... Die blanken Tränen standen ihnen in den Augen.
Ein Junge kam herangelaufen, die Hände voll von Extrablättern ... die Menschen rissen sie ihm aus der Hand: »England ... vier große Kreuzer! Wir ... die Pommern ... die Wiesbaden ... die ...« Ein älterer Handwerker sagte: »Die Pommern ist kein neues und kein großes Schiff.«
Die zitternde Stimme eines ganz jungen Dienstmädchens sagte: »Auf der ›Pommern‹ habe ich einen Bruder.« Der Knabe rannte an ihr vorüber. Sie fing laut an zu weinen. Flaggen rauschten schon über ihr. Rund um sie, aus allen Straßen, rief es: »Sieg! ... Sieg! ...«
Alle Straßen, ganz Wilhelmshaven war unterwegs, stand an den Piers, auf den Brücken, füllte die Straßen, zitterte vor Erregung, Trauer, Freude, Stolz, Bangen und Not. Vor den Postämtern stauten sich dichte Haufen. Tausende von Telegrammen flogen aus: Staatsdepeschen, Flottentelegramme, Schiffstelegramme, Werfttelegramme; Depeschen an Eltern, an Frauen, an Kinder und Bräute. Die Admirale kamen von Bord. Die vorher niemand gekannt, die nun mit einemmal jeder Knabe in Deutschland kannte! Der mit dem offnen, schlichten, trotzigen Gesicht, das ist Scheer; der hat das Ganze geleitet! Der da ... mit den flinken Augen und raschen Bewegungen ... das ist Hipper; der führte die Aufklärungsflotte, die Panzerkreuzer, die vorangingen! ... Die Telegraphen jagten es ins weite Land hinaus! Welch eine Nachricht! Die ganze Küste bebte vor Erregung. Welch ein Lärm und eine Freude in den Straßen Hamburgs und Bremens! Welch ein Gerede in den tausend kleinen, braunen Wirtsstuben am Strand entlang! Welch ein Aufatmen und hohe, ernste Freude durch das ganze deutsche Volk! Kein Mädchen in Deutschland, das nicht ein blaues Mützenband über den Wellen flattern sah! Kein Ergrauter, der es nicht auf den Wellen treiben sah!
And dann zog durch Wilhelmshaven der lange, lange Zug der Toten ... alles junges, bestes Blut ... Tausende Kameraden standen im Sonntagzeug um die offnen Gräber, im Geist zehntausende Väter, Mütter, Frauen, Bräute und kleine Kinder; dahinter, still, stolz und weinend, das ganze deutsche Volk. Auf der flachen Anhöhe bei Müstringen entstand über Nacht ein weites, weites Gräberfeld, Grab an Grab, mit Holztafel und Namen. Die Zeitungen brachten immer genauere Kunde ... Der Kaiser kam und begrüßte in seiner frischen Weise die Tapfern, die Treuen, ... auch die Toten.
Ja, es war ein Sieg gewesen ... ein Sieg über die größte Gewalt auf der ganzen Erde!
Als die Brüder Ott nach dem Schuppen gegangen waren, um noch einmal an dem schmalen Sarg ihres Bruders zu stehn, hatte Harm vorher den Brief an seinen Vater zur Post gebracht, der den Tod meldete. Als er von der Beerdigung zurückkam, schrieb er, ruhiger geworden, einen zweiten Brief, einen langen, langen Brief. Er erzählte den Eltern von den vielen schönen Stunden, die er mit dem gefallenen Bruder zugebracht, und wie der Tote immer, zu jeder Stunde, da er mit Eggert zusammengewesen, um den Bruder geworben hätte, und erzählte ihnen ausführlich die letzte Zusammenkunft, da er mit seiner stammenden Liebe erst den Zimmermann und dann den Eggert bestürmt, und den ersten niedergeworfen, den zweiten erschüttert hatte. Und dann tröstete er sie: »Ich glaube, liebe Eltern, und Ihr glaubt es auch, daß er für eine große und reine Sache sein Leben gelassen hat, nämlich, daß unser Volk sein altes Erbe, und sein Recht und seine Ehre behält«, und schloß mit demselben Gedanken, mit dem die ernstesten, frömmsten und größten der Menschheit sich und andere getröstet: »Und ich kann nicht glauben, liebe Eltern, und Ihr glaubt es auch nicht, daß soviel edles und heißes Leben und Feuer für diese Zeit und die Ewigkeit kann verlorengegangen sein!«
Als er den Brief fertig hatte, zögerte er einen Augenblick, dann schob er ihn seinem Bruder Eggert hinüber, der mit blassem, stillem Gesicht ihm gegenüber saß, und bat ihn: »Lies ihn, Eggert!«
Der zögerte erst und wollte nicht hinlangen; dann aber dachte er wohl an den toten Bruder und nahm ihn auf und las ihn.
Als er ihn hinlegte, sagte sein Bruder: »Schreibe deinen Namen mit darunter, Eggert!«
Aber der andere schüttelte den rotflammenden Kopf, sah den Brief an und sagte dumpf: »Ich kann nicht an ihn schreiben.«
Harm fuhr auf und hatte ein hartes Wort auf der Zunge. Aber er hielt es zurück, da er die starre Not im Gesicht seines Bruders sah. Er schob ihm einen Bogen hin und sagte: »So schreibe hier auf diesen Bogen einen Gruß an deine Mutter.«
Das tat er mit großen Buchstaben:
»Liebe Mutter, es grüßt Dich Dein Sohn Eggert.«
Als er die Feder hinlegte, wischte er sich mit dem Rücken der sommersprossigen Hand über die Augen, stand auf und ging hinaus.
Am vierten Tag nach diesem zweiten Brief kam die Antwort von der Mutter:
»Liebe Kinder!
Als Dein erster Brief kam, lieber Harm, wollte ich es nicht glauben; denn er war ja noch so jung und auch so gesund, und war noch fast ein Kind. Ich dachte: Wie kann er schon in der Schlacht fallen? Vater war auf dem Stück am Schafweg, wo Rüben hineinsollen, beim Eggen. Ich und Emma dachten erst, er erführe es früh genug, und wollten warten, bis er nach Hause käme. Und so standen wir beiden armen Weiber lange Zeit am Fenster neben der Küchentür und paßten auf, wern er am Ende angekommen war, ob er wohl noch eine Wende machte oder nicht. Aber er eggte immer weiter, Wende nach Wende; und wir saßen da und weinten. Zuletzt sagte Emma: ›Ich kann es nicht mehr aushalten, Mutter. Mir klopft das Herz zu sehr, wenn er am Ende ist, ob er nun umwendet oder nach Hause kommt.‹ Da sagte ich: ›Ja, dann will ich hingehn und es ihm sagen.‹ Aber da sagte das Mädchen: ›Nein, Mutter, ich will hingehn!‹ ... Ich wunderte mich und sagte: ›Warum du denn? ... Du bist sonst so'n Bangbüx.‹ Da sagte sie, genau wie ihr toter Bruder gesagt hätte: ›Mutter, ich glaube, das kann ich besser als du; du bist zu rasch für Vater. Ich will es ihm ganz langsam sagen, und ich will es ihm richtig sagen.‹ Und da ging sie hin, und ich sah, wie sie neben ihm am Graben saß. Und nachher kamen sie Hand in Hand an, und es sah aus, als wenn sie vom Abendmahl kämen. Lieber Harm, wir danken Dir auch für Deinen schönen Brief ... Ja, das wissen wir alle, daß er um eine reine Sache gefallen ist; und das wollen wir alle glauben, solange wir leben, daß sein ewig Teil nicht verloren ist. Lieber Harm, was ist der Mensch in solcher Not, wenn er keinen Glauben hat! Pastor Bohlen kam gleich an, wie er es erfahren hatte. Mein lieber Harm, kannst Du nicht Urlaub nehmen, damit ich mich an Dir ein wenig trösten kann? O, und sag', kommt Eggert dann mit Dir? Ach, wie würde ich mich freuen, wenn meine Augen ihn wiedersähen!«
Harm gab den Brief an Eggert und sagte: »Ich kann jetzt nicht Urlaub nehmen. Selbst wenn ich darum bäte, es nützte mir nichts; ich kann nicht weg. Fahr' du doch hin! ... Tu doch der Mutter jetzt die Liebe und fahr hin!«
Aber Eggert sah seinen Bruder mit Augen an, in denen stand: ›Wie ist es möglich, daß du mich so gar nicht verstehst!‹ und schüttelte den Kopf wie vor etwas Sinnlosem, unbegreiflichem.
Da fuhr sein Bruder wieder auf, und zornig und stur wie sein Wappen, das steile Fähnlein, sagte er: »Ich begreife es nicht, Eggert ... und wenn ich neunzig Jahre alt werde! ... Wie ein Sohn seiner guten Mutter, die in solch schwerem Leid sitzt, eine solche Bitte abschlagen kann!«
Eggert blieb kalt und ruhig im Gesicht; aber seine Stimme bebte vor wilder Aufregung, »Und ich meinerseits,« sagte er, »kann dich nicht versteh«! Wenn ich da ankäme ... im Dorf ... im Haus ... so würde mich dieser ansehn und jener, und der Dritte auch ... nicht wahr? Da ich da bin, werden sie mich doch ansehn! Gut! ... wenn du das zugibst, so kann ich es nicht ändern, daß ich in jedem Gesicht die Worte sehn werde: ›war er der Pfeifer? Hat er seine kleine Schwester unglücklich gemacht und sein Elternhaus zum Spott des Kirchspiels und der Landschaft? War er es, oder war es ein andrer?‹ Und wenn ich diese Gedanken in einem Gesicht sehe, so schlage ich entweder hinein, oder ich dreh' mich um und geh' wieder davon. Also, wie soll ich dahin gehn? Sage alles, was du willst! Sage, daß der Teufel Gott totgeschlagen hätte und mit seinem weißen, goldenen Kleid sich den ... aber sage nicht, daß ich in die Heimat reisen soll! Ich bin rein ... von oben bis unten ... und die Welt ist weit ... wie soll ich ein Narr sein und genau an den einzig einen Ort gehn in der weiten Welt, wo man mich für einen Schurken hält?! Hast du Verstand oder nicht?!«
Da hatte Harm ja schweigen müssen.
Aber es war auch wirklich keine Zeit, um Urlaub zu nehmen. Nein, es war keine Zeit! Wie hart und hitzig mußte in den nächsten Monaten gearbeitet werden! Was war das für ein Arbeiten, Kommen und Gehn, Telephonieren, Funken und Schreiben beim Stabe! Was war das für eine wache, scharfe Tätigkeit auf den Schiffen, die heil geblieben! Die Schiffe, die heil geblieben waren, mußten in diesem Sommer um so härtern Vorpostendienst tun; und Eggert Ott war auf ein andres Schiff gekommen. Und überhaupt, wer hätte Urlaub nehmen mögen in diesen Monaten, in denen so gewaltig geschafft wurde! Nein ... wie wurde in München und Stuttgart, in Jena und Essen, in Berlin und Elberfeld, ach, in allen größern Städten, in allen Schmieden des ganzen weiten Deutschlands, in den kleinen und großen, gearbeitet! An den tausenden kleinen Instrumenten, die zerbrochen und zersplittert waren, an den sieben Meter langen Kanonen, die verletzt waren, an Millionen Nieten, die aufgegangen, an den tausend Platten, die verbogen waren, an tausenden Geschossen, die verschossen waren, an tausend Rohren und Leitungen, Kesseln und Kästen, Ventilen und Sicherungen, die beschädigt waren! Was sausten die langen Züge mit dem, was fertiggestellt war, Tag und Nacht durch die Gebirge Mitteldeutschlands in die Ebene hinab, den großen Werften zu, nach Hamburg und Bremen und Stettin, nach Kiel und Danzig, Wilhelmshaven und Emden! Und wie arbeiteten dort die Hunderttausende von Männern und Frauen, schwangen die Hämmer, bliesen die Bälge, lenkten die Schlitten, schlugen die Nieten, löteten die Kanten, montierten die Stücke, prüften die Maschinen, die kleinen und großen, putzten und polierten; und ruhten nach deutscher Weise nicht eher, als bis sie blitzten wie Spiegel! Sie hatten schon immer gern und mit Eifer gearbeitet während des ganzen Krieges; denn sie fühlten ja alle, es handelte sich darum, daß England und die andern das deutsche Vollkarm und knechtisch machen, und es anspucken wollten hundert Jahre und sagen: »Das war Deutschland, früher voller Hoffnung und Ehre, jetzt weniger als eins der schwarzen Völker, die England untertan!« Nein, so sollte es nicht werden! Nein, ganz anders sollte es werden! Umgekehrt sollte es kommen! Wahrhaftig: Jetzt sollte gesiegt, jetzt sollte Raum geschafft werden! Ja, sie hatten schon während des ganzen Krieges, von dem ersten Tag an, eifrig und feurig gearbeitet: für die Brüder, die an allen Landesfronten so unsagbar todesmutig und feurig kämpften, und auch für die Flotte. Ach ja, für die treue, tapfre Flotte! Von der sie eines Morgens, wenn sie in die Fabrik gingen, hören würden: sie ist nicht mehr! Die ungeheure, schreckliche, klotzige englische Flotte hat sie zerdrückt! ... da liegt sie ... im Grund der Nordsee; und die grünen Wogen gehn über sie hin! ...« Aber nun?! Sie hatte widerstanden? Sie war wieder nach Hause gekommen?! Ja, sie hatte gesiegt?! Sie war besser, tüchtiger, energischer, frischer als die englische?! Rasch, Seppl! ... Flink, Anton! ... Faat an, Hein! ... Rasch, rasch!
Nein ... Harm Ott konnte keinen Urlaub nehmen! Obgleich seines Vaters stilles Gesicht und seiner Mutter weinende Augen ihn oft am Tage riefen: er konnte nicht. Und Eggert Konnte es auch nicht. Nein, auch er mußte vom Morgen bis zum Abend auf dem Posten sein. Es gab sonst in diesem Sommer viel Urlaub; aber auf seinem Posten war viel Arbeit. Und überdies! Er mußte ja doch seinen Hochmut pflegen, seinen Überstolz!? Mußte ihn streicheln und striegeln und gegen die Brust drücken!?
Es war ja doch sein Liebstes! Es war ja seine Kraft, sein Prunk, sein großer, stattlich schöner Stolz! Manchem Menschen ist das, was seine Schande oder sein Unglück, oder sein Fehler oder seine Schwäche ist, sein großer Stolz! Manchem ist eben dasselbe zu gleicher Zeit beides: sein Stolz und seine Qual.
Da Eggert nach einigen Tagen einen Brief, den seine Schwester ihm geschrieben, uneröffnet an Harm gegeben, und gesagt hatte, er würde es so mit allen Briefen machen, die ankämen – denn er hätte niemand auf der Welt, der ihm mit Recht schreiben könnte – kam eines Tags ein Brief bei Harm an, den Höbke Suhl schickte, damit er ihn an Eggert weitergäbe. Harm las den Brief, und brachte ihn zur nächsten Zusammenkunft mit, zog ihn heraus, bevor Kameraden hinzukamen, und schob ihn seinem Bruder zu, und sagte scheinbar gleichgültig: »Hier ist ein Brief von Höbke Suhl für dich ... den kannst du dich wohl überwinden zu lesen.«
Vor Eggert Otts Augen stand sofort der große Garten mit den alten, hohen Obstbäumen im Abendschein, und darin, vor den Bäumen, nicht weit vom Graben ... ja, wie dachte er ... das Mädchen? ... Nein, sie war ihm zu fern und zu hoch dazu ... die junge Mutter? ... Ja, fast seine junge Mutter ... ja, das war es wohl! ... im sommerlichen, weißen Kleid, die sagte: »Gut'n Tag, Eggert Ott! Bist du schon wieder ausgerückt, du Schleef? Und wieder barfuß? Willst du wieder zu den Ludwigs?« ... Und der alte Peter, ihr Taglöhner, nahm die Pfeife ein wenig aus dem Mund und sagte mit seinem klugen, spöttischen Lächeln: »Hast die Arbeit hinter dir, Eggert ... und nun kommt die Abendmusik?« Und dann stand er ein wenig, die Schuhe schon in der Hand, und sie sprachen gemütlich miteinander über alles, was da zu sehn und zu hören war ... sie ruhig, verständig, ein klein wenig neckend und angreifend, er altklug, todernst; und der alte Peter stand hinter ihr und sog an seiner Pfeife. Und einmal hatte er gehört, wie sie zu Peter gesagt hatte: »Ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich so gern mit dem Jungen spreche; er hat so was durchaus Wahres, was sonst keiner hat. Er würde sich für die Wahrheit verbrennen lassen wie der alte Huß in Konstanz. Ja, das ist wahr, Peter! Du ... du bist ja auch ein wahrhaftiger, alter Mann, aber doch nicht so wie er. Du hast der Stute gestern zu viel Hafer gegeben und lügst mich jetzt mit deinen Augen an« ... Ja, das sah er im Geist, da er ihren Namen hörte. Es stieg ihm ein wenig warm und froh ins Herz hinauf. Ja, da war eine Stelle in der Heimat, an die er mit ruhigem Herzen denken konnte! Sicher, die hatte nie an ihm gezweifelt, nicht einen Augenblick! Die hatte sofort, wie sie jenes Gerede gehört hatte, gesagt: »Verrückt!« ... Und er nahm den Brief lässig vom Tisch und las ihn. Sie schrieb:
Lieber Eggert Ott!
Wir haben ja hier denn erfahren, daß Reimer gefallen ist, und es hat uns allen bitter leid getan. Alle Nachbarn, nein, das ganze Dorf trauert um ihn; denn sie hatten alle das Gefühl, daß er ein guter, feiner Junge wäre, und daß wohl noch was Besonderes ... Gott weiß was ... aus ihm geworden wäre. Und nun ist Sonntag ... und ich komme aus der Kirche, wo Pastor Bohlen ihm vorm Altar die Ehrenrede gehalten hat, und eben, da ich schreibe, läuten die großen Glocken für ihn; und die kleine, von der er die Inschrift las, die keiner raten konnte, bimmelt dazwischen. Du weißt, wie es mit Pastor Bohlen ist: wenn der Text, über den er spricht, nicht ganz wetterfest ist, mit Balken, Bohlen und Haken, dann verliert er ihn aus den Augen und geht ins Weite und Breite, und redet von Dingen, die nicht sind und leider auch nicht sein können, und oftmals besser auch nicht sind und sein sollen; denn er ist ja wohl ein guter, aber kein praktischer Mensch. Also die Kirche war fast voll, und rund um Deine Leute, die die ganze letzte Bank an der rechten Seite füllten, saß es dicht von Verwandten und Nachbarn, förmlich zusammengeklustert, und auch sonst waren viele Leute da; und als Hans Nothdurf den Kranz durch den großen Steig trug und vor dem Altar auf die oberste Stufe legte, Eggert, gleich links von Pastor Bohlen, da ging ein Weinen durch die Kirche. Es hängen nun aber auch schon über dreißig Kränze da, alle gleich, im Kreis um die ganzen Wände; man kann nicht hinsehn, ohne zu weinen. Dann kam Pastor Bohlen ... es ist merkwürdig, man muß immer seinen Namen nennen und schreiben, wenn man von ihm spricht oder schreibt; kein Mensch im Kirchspiel sagt: der Pastor, oder: der Herr Pastor, sie sagen alle Pastor Bohlen, sogar die Kinder ... offenbar weil er so'n merkwürdiger Mensch ist und so einzig ... aber es gibt von der Sorte doch manchen, nur sind sie sozusagen nicht so deutlich wie er. Pastor Bohlen blieb diesmal ganz genau bei der Sache ... ich meine, er konnte natürlich von seinen Nachttieren nicht lassen, obgleich die Sonne hell in die Fenster und schräg über ihn fiel, so daß man jedes seiner grauen Haare zählen konnte ... wir mußten doch mit ihm in die Nacht hinaus. Aber wie er sie mit Deinem Bruder Reimer zusammenbrachte, das war sehr schön. Er sagte, er hätte im vorigen Sommer mal eine Nacht lang an einem großen Teich gesessen, am Wald in der Heide, und hätte das Nachtleben beobachtet. Als nun die Nacht dagewesen wäre, wären Falter gekommen über Falter ... viele Hunderte ... aus dem Walde ... von allen Seiten ... und hätten sich auf den Teich herabgelassen, und wären darüber hingeglitten, hin und her, unermüdlich. Er hätte natürlich gewußt, sagte er dann weiter, daß sie da über dem Teich im Fliegen Nahrung und Erfrischung gesucht und gespielt hätten ... aber es wäre doch auch gewiß, daß sie, während sie so über dem leise funkelnden Wasser dahinflogen, mit ihren großen und wunderbar flimmernden bunten Augen auf das dunkle, spiegelnde Wasser gesehen, und seine Heimlichkeit, seine Tiefe, seine Rätsel gefühlt und gespürt, und in Träumen seltsam tiefe Gefühle und Gedanken gehabt hätten: ... so ... in derselben Weise zögen und flögen stille, tiefe, sehnsüchtige Menschenseelen aus dem Dunkel und Dickicht des täglichen Lebens und Treibens heraus, und senkten sich herab, und flögen über den Tiefen der göttlichen Natur, und sähen im Fliegen tief hinab in ihre rätselvolle, bunte Tiefe, und grübelten über ihn in andachtsvollen, stummen, ehrfürchtigen Rätseln am Weltall und der Schöpfung. Er wolle nicht sagen, daß Reimer Ott ein einziger gewesen wäre, obwohl er ein seltener gewesen ... nein ... es wären, besonders unter den jungen Freiwilligen, viele Tausende gewesen, die grübelnd, staunend, ehrfürchtig, heiliger Sehnsucht voll, in Gottes Wunderwelt geschaut ... ja, man könne wohl behaupten, daß alle deutschen Seelen dies Ehrfürchtige, Demütige, Grübelnde an sich trügen ... Nein, er wolle nicht sagen, daß in Reimer Ott ein einziger gefallen, aber er sei doch einer von den Zehntausenden, um die das deutsche Volk trauern müsse, solange es noch lebe ... neben den kraftvollen, schönen, starken, zukunftsfrohen diese, die feinen, zarten, schimmernden Blüten, nun von seinem Baum gerauscht, Zehntausende, unwiederbringlich verloren. So sagte er. Dann schloß er, wie er seine Rede immer schließt: »Aber wohlauf, wohlauf! Es hilft uns nichts ... Wir wissen, was wir an unserm Glauben haben, und daß wir ohne ihn nicht leben können ... Wir wollen glauben, daß es Gottes Wille ist, keines andern, daß das deutsche Volk diesen Weg gehn muß, auf dem so viele seiner Kinder fallen und liegen ... ihm selbst und der ganzen Menschheit zum zeitlichen und ewigen Heil.« So sprach er. Du weißt, wenn es ihm glückt, seine Gedanken bei der Stange zu halten, kann er wunderbar reden; und ich glaube, daß mein alter Peter recht hat, der mich nachher fragte, was mir schiene, ob Pastor Bohlen nicht der Klügste im ganzen Land wäre.
Als wir aus der Kirche kamen, ging ich mit Deinen Leuten nach Eurem Haus; wir sprachen aber kein Wort miteinander; wir waren alle nicht in uns. Nur zuletzt, als ich allen die Hand gegeben und weitergehn wollte nach unserm Hof, kam Deine Mutter mir nach und sagte: »Du, Höbke, könntest du nicht mal an Eggert schreiben, daß er auf Urlaub kommt? Sieh doch zu! Denn du,« sagte sie, »stehst ihm näher als wir alle miteinander; und ich glaube, du kennst ihn auch besser!«
Und also schreibe ich an Dich ... sowohl von mir aus, wie im Namen Deiner Mutter. Lieber Eggert, Dein Stolz ist krank und dürftig. Wäre er ganz gesund, so würdest Du ruhig auf Urlaub hierherkommen, würdest bei mir auf meinem Hof wohnen als mein Gast, würdest mit mir über die Felder und nach der Kirche gehn, und würdest sagen: »Was geht mich der Ottsche Hof an, und so und so viele Menschen? ... ich wohne hier auf dem Suhlschen Hof, und gehe mit Höbke Suhl über die Feldmark, sehe in die Luft, sehe ins Gesangbuch, sehe nach den Häusern ... Was schieren mich die Menschen?« Also komm und sei mein Gast ...
Bruder Eggert legte den Brief auf den Tisch und sagte: »Sie ist ebenso unverständig wie du. Sie begreift ebensowenig wie du, daß ich verschiedene Gesichter, die ich sehn würde, in Fetzen schlagen würde und deswegen ins Loch müßte. Also! ... Außerdem schreibt sie, wie wenn sie meine Großmutter ist ...«
»Wie kannst du nur so etwas sagen!« sagte Harm empört, »so'n schönes, junges Mädchen!«
»Mädchen?« sagte Eggert und sah seinen Bruder an.
»Mädchen?! Ja, was denn sonst?« sagte Harm.
»Ja,« sagte Eggert Ott unwillig, und besann sich und wunderte sich. »Ein Mädchen ist sie ja am Ende,« sagte er mürrisch; »aber nicht wie andre!«
»Ach,« sagte Harm unwillig, »das scheint dir nur so, weil sie immer so wunderlich verständig mit dir schnakte, als du noch ein Knabe warst! Sie ist ein Mädchen wie alle andern, und hübsch dazu.«
»Warum heiratet sie denn nicht?« sagte er zornig. »Wie alt ist sie? Sie muß ja gegen dreißig sein.«
»Das will ich dir sagen,« sagte sein Bruder mit Würde. »Erstens hat sie den schönen Hof und ist alleinige Erbin; das macht denn beide Teile empfindlich und unsicher. Und zweitens ist sie von Natur etwas ungewandt; es wird ihr schwer, ihre Natur zu zeigen. Sie zeigte sie bisher, glaube ich, nur gegen drei Menschen: gegen ihre Mutter, gegen den alten Peter und gegen dich. Übrigens: einmal habe ich sie doch auch übermütig und offenherzig gefunden. Ich war einmal zufällig zu ihr hinübergegangen, um eine Bestellung zu machen. Da hatte ihre Mutter gerade Geburtstag, und da kam sie auf den Gedanken und holte eine Flasche Johannisbeerwein aus dem Keller. Sie keltert nämlich selbst eine besonders schöne Art von Johannisbeerwein; er schmeckt wirklich ganz merkwürdig fein und vornehm. Wir saßen auf der Bank beim Soot, weißt du: ihre Mutter und sie und ich, und nachher kam noch der alte Peter dazu. Sie ließ die Flasche erst im Eimer tief in den Soot hinab, damit sie kühlte. Ich sehe sie noch, wie sie da mit ihrer schmucken, schlanken Figur stand und den Eimer hinabdrehte ... es war da unter den Bäumen schon dämmerig und sie trug ihr weißes Kleid ... Genug! Da trank auch sie davon ... und da, beim zweiten Glas, da kam es. Ich sage dir: sie war gemütlich, redselig, übermütig, köstlich! Und so, habe ich gehört, haben auch einige andre sie gesehn, so an besondern Tagen; besonders einige Mädchen, die sie besuchten. Aber es sind wenige, die sie so sahn und die also wissen, daß sie ganz wie die andern ist, daß es bei ihr nur im Soot, in den tiefsten Tiefen, liegt. Genug, das ist das zweite: daß man sie nicht kennt und nicht weiß, wie jung sie ist. Und das dritte ist, daß sie für die meisten jungen Leute zu klug ist. Sie hat zu viel gelernt und lernt auch wohl noch ... so in Kunst und solchen Sachen ... Das ist es.«
Bruder Eggert saß eine Zeitlang still, verwundert und in Sinnen. Er war ja inzwischen ein erfahrener Mann geworden und wußte, was es mit dem Weibe ist. Er hatte aber mit diesen seinen neuen Augen noch nie auf seine Jugendfreundin gesehn. Er war tief in verwirrten Gedanken. Dann sagte er: »Denn wird sie wohl nie heiraten?«
Harm zuckte die Schultern: »Ich wüßte nicht, wer es sein könnte. Es müßte ein ganz besondrer Mensch sein ... ein ganz und gar besonderer, und so um vierzig oder noch älter, so ein ganz ruhiger, langsamer, ordentlicher Mensch, vielleicht gar ein Gelehrter von diesem Alter ... Aber das geht uns ja nichts an! Antworte ihr nur bald, daß unsre Mutter wieder deine Handschrift sieht.«
Er murrte etwas ... »Wie ... was soll ich darauf antworten?« steckte den Brief aber ein. Kameraden kamen, und sie sprachen von andern Dingen.
Nein, auf Urlaub konnte weder Eggert noch Harm kommen. Sie hätten es auch dann nicht können, wenn sie es gewollt hätten! Nein, es war in diesem Sommer und Herbst eine hilde, heiße Zeit; es mußte in diesem Sommer allzuhitzig gearbeitet werden. Rangen nicht in diesem schrecklichen Sommer hunderttausend Brüder an der Somme, stürzten und starben in schrecklichem Kampf und Not? Kamen nicht immer mehr Völker und fielen über das deutsche Volk her, um mitzureißen und mitzurauben, wie sie meinten. Es war Italien gekommen! Es kam Rumänien! Es drohte Amerika! Nein, wie konnte man Urlaub nehmen! Nein, sie mußten arbeiten ... arbeiten ... arbeiten, Tag und Nacht ... daß sie wieder tüchtig wurden, daß sie dem gewaltigen Feind widerstanden, wenn er wiederkäme.
Aber die englische Flotte kam nicht. Sie wagte es nicht, hervorzubrechen! Warum wagte sie es nicht? Sie war zu schwer verwundet.
Und so arbeiteten sie alle von Stuttgart und München bis hinunter nach Kiel und Wilhelmshaven.
Als der Hochsommer kam, da war alles wieder in Ordnung. Die ganze Flotte war wieder hergestellt! Ja, sie war noch viel stärker geworden! Und war zu neuen Schlägen bereit.
Da bat Harm Ott um Urlaub und bekam ihn.