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9. Kapitel

Die englische Mannschaft

Acht Tage später ... es war gerade an dem unseligen Tag des Mordes von Serajewo ... wurde er im Hafen von Kiel bei einer Übung, beim Bootausschwingen, von einem eisernen Bolzen heftig am Knie getroffen und mußte auf fast drei Wochen ins Lazarett. Er wurde zwar wieder völlig geheilt; da aber das Knie noch eine Zeitlang schwach blieb und sie Leute genug hatten, entließen sie ihn.

Er hatte also seine Dienstzeit nun plötzlich hinter sich. Als er aus dem Büro heraustrat, wo er sein Dienstbuch empfangen hatte, und in das Buch hineinsah, las er, daß er sich am zweiten Mobilmachungstage in Wilhelmshaven, im Hof der großen Kaserne, zu stellen hatte. Es flog ihm so durch den Sinn: ›So ... also am zweiten Mobilmachungstag!‹ ... und sah sich im Geist im Hof der Kaserne, die sie die Tausendmannskaserne nennen, aber gleich verschwand dieser Gedanke wieder und das Bild, und er achtete es nicht. Wer in Deutschland dachte an einen Krieg?!

Er ging, nicht unfroh, daß die ganze Sache so abgelaufen wäre und er nun wieder in seinen Beruf und in die Nähe seiner Liebsten käme, die Brunswiek hinunter, da begegnete ihm ein Steuermannsmaat, den er schon von der Heimat her kannte. Der erzählte ihm, daß er heute morgen einen alten englischen Freund und Fahrensgenossen getroffen hatte, der nun Bootsmannsmaat auf einem englischen Kreuzer war, der seit drei Tagen hier im Hafen läge. Und nun hätten sie für heute nachmittag ein kleines Wettrudern veranstaltet und wollten nachher einige Stunden zusammen im Bürgerbräu sitzen; und wenn er Lust hätte, sollte er mit hinkommen und an dem Abend teilnehmen.

Er war stolz darauf, daß der Maat, ein ernster und tüchtiger Mann, und bedeutend älter als er, ihn zu der kleinen Festlichkeit einlud, und sagte mit Vergnügen zu. Als er dann allein weiterging, eilten seine Gedanken nach seiner Weise sofort nach Hause, und er freute sich, daß er ihnen im nächsten Brief schreiben könnte, wie er dies erlebt hätte; und gleich fiel ihm ein, daß er Bruder Reimer einen Wink geben wollte, daß er sich die Sache heute abend ansähe, wenn er Zeit dazu hätte. Also sandte er ihm rasch Nachricht, er möge sich um sieben Uhr im Bürgerbräu einfinden. Dann verbrachte er den Rest des Nachmittags, indem er in der Familie, bei der er seine Sachen und auch seine Anschrift hatte und bei der er auch die Nacht schlafen wollte, seine Sachen zusammensuchte und packte. Dann machte er sich nach der Wirtschaft auf den Weg.

Er traf da auch schon den Steuermannsmaat und einige andere. Dann kamen auch, selbstbewußt und sicher, sich gleichmütig umsehend, beweglich und frisch, die Engländer; und bald saß da eine vertrauliche Schar, wohl zwanzig oder fünfundzwanzig Mann, Deutsche und Engländer durcheinander, an dem langen Tisch. Die Engländer erzählten in froher Behaglichkeit, was sie in der Stadt gesehen hatten, zeigten, was sie in der Holstenstraße gekauft hatten, und schrieben Ansichtskarten in die Heimat, wußten alles und hatten alles, und ließen mehr als beschlossen war, zum Trinken herbeibringen und ließen das Geld springen. Nach einer Weile kam Bruder Reimer herein, sah sich verwirrt um – er war, seit er in Kiel war, stiller und unsicherer geworden – und suchte es zu verbergen, indem er über den Bruder und seine Gesellschaft hinwegsah, war aber ein hübscher und stattlicher Junge in seinem neuen dunkelblauen Anzug. Harm stand auf und begrüßte ihn und führte ihn an einen Platz, wo er nicht zu fern war und setzte sich wieder, und grüßte zuweilen zu ihm hinüber, und hoffte, ihn einschmuggeln zu können, wenn es etwas lebhafter geworden wäre; denn er wußte, daß es das größte Erlebnis auf der Welt für ihn sein würde, wenn er lebendige Menschen eines fremden Volkes, und nun gar Engländer, kennen lernen könnte. Da saß Bruder Reimer nun und sah scheinbar in eine Zeitschrift, die da lag, sah aber in Wirtlichkeit darüber hin und besah sich unauffällig alles, was in dem großen Raume vor sich ging, und sah, so oft es anging, nach dem Tisch der Engländer, horchte aufs schärfste, ob er etwas von ihrer Unterhaltung verstehen könne, und war voller Genugtuung, wenn er einen Satz begriffen hatte. Die Engländer, die Ellbogen auf dem Tisch, oder die Arme lässig um einige Stuhllehnen gelegt, einige die Mütze im Nacken, waren sichere und gemütliche Leute.

Die Unterhaltung kam bald auf das Wettrudern, das sie hinter sich hatten. Es war ein harter Kampf gewesen und die Deutschen waren dicht dabei gewesen zu siegen; aber da war ein wunderliches Mißgeschick geschehen. Die Deutschen hatten ihr Boot vormittags aufs peinlichste gesäubert und aufs beste in Ordnung gebracht und hatten es, da es ein böiger Tag war, noch bis zuletzt unter der Persennig gelassen. Nun hatten sie einen kleinen weißen Köter an Bord, der ihnen lieb war, weil er immer gleichermaßen freundlich und gefällig war. Dieser kleine Hund war von dem, der zuletzt, kurz vor dem Start, das Boot betreten hatte, um Ölmäntel zu verstauen, und es dann wegen einer plötzlichen Böe fluchtartig verlassen hatte, mit ins Boot genommen und dort vergessen worden. Er hatte sich vor dem Platzregen unters Deck verkrochen, hatte da ein Plätzchen gefunden, das ihm zusagte, und war da in Schlaf gekommen und vergessen. Als sie nun im besten Rudern waren und eine gute Aussicht hatten, die Engländer zu schlagen, mußte einer von ihnen mit dem Fuß ausgleiten und den Hund treffen, der aus seinem Platz herausgekommen war, um sich die Begebenheit zu besehen. Das kleine Ding heulte laut auf, und das genügte, um die ganze Gesellschaft unsicher zu machen, da jeder besorgte, ihm weh zu tun. Und so verloren die Deutschen das Spiel und hatten noch Spott von den Kameraden und eine gewaltige Rede vom ersten Offizier dazu anzuhören.

Aber so wie der Deutsche nun einmal ist, so ist er wunderlicherweise fast ein wenig unsicher, ja, ein wenig bedrückt, wenn er bei solchem Spiel der Sieger ist. In ernsten Dingen will er gern der Sieger sein, aber beim Spiel denkt er: ›Schade, daß der andere nun keinen Spaß von der Sache hat und traurig ist; es wäre mir wahrhaftig lieber gewesen, wenn der andere gesiegt hätte! Warum nicht? Bin ich darum weniger ein tüchtiger Mann? Ich gönn's ihm! Ein andermal siege ich!‹ Der Deutsche ist beim Spiel gern der Gebende, der Anerkennende. Wären sie, die Deutschen, die Sieger gewesen, so hätten sie nicht so gemütlich, so froh, so völlig übermütig an der langen Tafel gesessen, wie sie jetzt dasaßen, da sie die Geschlagenen waren. Freilich, sie schimpften über ihr Ungemach und gaben dem Hund jeden Schimpfnamen, den sie fanden, und das waren nicht wenige, zumal sie auch des Englischen mächtig waren und die meisten von ihnen einmal auf englischen Schiffen gefahren hatten. Aber obgleich sie behaupteten, den Hund mitgebracht zu haben, damit er seine Schande bis auf den Grund koste, war es doch klar, daß sie ihn noch mehr liebten als bisher. Jedenfalls saß er zwischen den Biergläsern und Sodaflaschen auf dem Tisch, eine kleine englische Mütze auf dem Kopf, da sie behaupteten, er sei von den Engländern bestochen worden; und wurde auf's lebhafteste von ihnen geneckt.

Da Harm seinem Bruder einige Male zugenickt hatte, war es dem Häuptling der Engländer, einem großen hübschen Menschen, denn auch bald aufgefallen, und er fragte ihn, ob es sein Bruder wäre, und als Harm nickte, rief er in guter Laune hinüber: » Are we down-hearted?« und als Reimer das Wort nicht gleich richtig verstand, rief er: »Kommt doch her mit Euren tiefen Augen, und seid mit uns,« und machte ihm Platz an seiner Seite.

Als Reimer nun, rot vor Freude, neben ihm saß, lehnte sich der Engländer zu einer kleinen Rede zurück, indem er den Arm um Reimers Stuhllehne legte, und sagte: »Es ist sicher, daß alle meine Kameraden, ja die ganze englische Flotte, darin einig ist, daß wir die deutschen Seeleute sehr gern haben. Die Franzosen und Italiener haben in ihrem Wesen etwas, das gegen unsern Geschmack ist, und sind uns fremd; aber die Deutschen sind in der Tiefe ihres Wesens uns verwandt. Aber manches« ... er lächelte – »können wir – meine Kameraden werden mir zustimmen – an den Deutschen nicht verstehen und lieben, so z.B. diese Begebenheit mit dem Hund. Nein! Erstens wäre es uns nie und nimmer widerfahren, daß der Hund im Boot gewesen wäre, und wenn es junge Katzen geregnet hätte! Es ist eine Anordnung, ein Mangel an Sachlichkeit, Klarheit und Bereitschaft. Zweitens, wenn wir ihn dennoch im Boot gefunden hätten ... mitten im Lauf ... so hätten wir keine Rücksicht auf ihn genommen! Nein, dieser Hund, so gut und nett er ist, wirklich ... ein drolliger, hübscher kleiner Kerl, obgleich nicht ganz reinrassig ... er hätte dran glauben müssen! Ein guter Fußtritt und er wäre still gewesen!« Als er das gesagt hatte, stieß er den jungen Reimer freundschaftlich in die Rippen und sagte leise mit schelmischem Augenzwinkern: »Aber es ist uns recht, daß ihr solche Leute seid. Es gibt uns Engländern eine gute Aussicht.«

Reimer Ott wußte nicht recht, was er dazu sagen sollte. Er hatte auch nicht den Mut, sich in seine erste englische Rede zu stürzen; er lächelte den Engländer freundlich an und nickte mit dem Kopf: »Es ist so, wie Ihr sagt.«

Der Engländer wurde ein wenig verwirrt, daß der junge Deutsche, in dessen Augen soviel Tiefe und Klugheit stand, das so hinnahm, machte sich noch bequemer auf seinem Stuhl, suchte mit den Füßen höher zu kommen, und legte, als ihm das nicht gelang, die Arme noch weiter um die Stuhllehnen. »Ich dachte,« sagte er wieder neckisch mit den Augen zwinkernd, »ihr Deutsche hättet so den Gedanken, wenn sich eine Gelegenheit böte, so ein gut Stück Welt an euch zu reißen.«

Reimer Ott sah sich am Tisch um und sah, daß sie alle anderweitig beschäftigt waren. Da wurde er etwas sicher; ja er wurde sehr sicher. Er sagte langsam, mit sehr ernstem und klugem Gesicht: »O nein, daran denken wir Deutschen nicht. Wir sind froh mit dem, wie es jetzt ist. Wir arbeiten, forschen, treiben Kunst, reisen; und sind in vielen Dingen die Lehrer und Führer anderer Völker.«

Der Engländer nahm die Unterhaltung mit dem halben Jungen nicht ganz ernst, hatte aber einen ehrlichen Spaß an seinen leuchtenden, todernsten Augen und nickte schelmisch: »Aber ihr werdet bei eurem Studieren und Reisen, Arbeiten und Handeln so verdammt reich; und das größtenteils auf unsere Kosten!«

Reimer Ott, im Geist und all seinem Denken schon ganz Lehrer, sagte eifrig: »Ja, wir werden auch reicher, wenigstens« – er wurde rot, denn er dachte, daß sie da in seinem verschuldeten Elternhaus am Deich von diesem Reicherwerden noch nichts gespürt hatten – »wenigstens sagt man so. Aber das ist nicht der Zweck von all dem regen Leben und Streben in unserm Volk. Reicher werden? Das hat noch keinen Menschen und kein Volk glücklich gemacht. Nein ... aber das beste Volk werden wollen, das gesundeste, reinste, das vorbildliche, das könnte uns wohl bewegen. Wir Deutschen,« sagte er mit einem eifernden Ausdruck in seinem Gesicht, »wir Deutschen denken immer ganz unwillkürlich – wir können gar nicht anders, es kommt aus unserer Natur – an die ganze Menschheit. Wir lieben sie; sie sind unsere Menschenbrüder, alle unter demselben Stern, unter demselben Tod. Wir möchten ihnen allen helfen, wir möchten ...« und eine neue Welle Rot ging über sein Gesicht ... »ihnen in diesem gern vorangehn.«

Der Engländer sah ihn mit seinen großen Augen an, immer noch mit den freundlichen Schelmenaugen, und dachte wohl: ›Der spricht ja wie ein alter Franzose! Meint er das wirklich?‹ Er tippte ihm auf den Ärmel und sagte: »Ich will nun aber mal sagen ... annehmen ... es käme plötzlich ein Krieg und vernichtete all eure schönen Gedanken!« und er machte eine kurze abschneidende Bewegung mit seiner flachen, magern Hand.

Aber Reimer Ott tat wie ein kleiner Prophet das Innerste seines Herzens auf und sagte mit gewichtigen, strahlenden Augen: »Krieg? ... Krieg?« ... sagte er, »das ist ja ganz unmöglich! Denn mit euch sind wir verwandt und befreundet! Also zwischen uns und euch ist ein Krieg unmöglich. Wer sollte es dann aber noch wagen, uns anzugreifen? Es wagt keiner.«

Der Engländer machte sich an seiner Pfeife zu schaffen, drehte und putzte daran herum und war aus seiner Behaglichkeit herausgerissen. Er wollte gern mit dem lebhaften, eifrigen, zierlichen Jungen weiter schelmen; aber es ging nicht, weil er ihn nicht verstand. Er war darüber ganz unglücklich; ja, er wurde verlegen. Er sagte unsicher, die Augen auf dem Tisch: »Wer hat denn solche Ansicht darüber ... ich meine, daß überhaupt kein Krieg sein kann, und erst recht nicht zwischen uns ... Habt ihr sie allein?«

Reimer Ott sah ihn groß und gläubig an und sagte: »Nein ... ich glaube ... die hat ganz Deutschland.«

Der Engländer schwieg und wußte nichts weiter zu sagen. Er sah mit gekrausten Brauen auf den Tisch und dachte wohl: ›Hätte ich doch lieber mit ihm über die Konstruktion meiner Pfeife gesprochen!‹ Nach einigem Nachdenken kam er auf die Schule zu sprechen, und es gab eine gute Unterhaltung über den Gegenstand, die der junge Deutsche mit flammenden Augen, der Engländer ruhig und bedächtig vortrug. Danach, als sie diesen Gegenstand genügend beredet hatten, saßen sie beide stumm und etwas ermüdet nebeneinander, beide zurückgelehnt und die Gesellschaft beobachtend, Reimer Ott stolz und glücklich, daß er freundlich gegen den Engländer gewesen war und ihm Rede und Antwort gestanden und lauter gute und von Herzen kommende Sachen gesagt hatte und daß dies alles die beste Stelle im Herzen des Engländers gefunden hatte; der Engländer in ruhiger Feststellung der Tatsache, wie verschieden die Nationen wären, daß er diesen jungen Deutschen, der eine Erscheinung war, daß er durchaus für einen Engländer aus guter Familie gelten konnte, überhaupt nicht verstehen konnte. ›Wenn er chinesisch gesprochen hätte,‹ dachte er, ›so hätte ich ebensoviel von dem begriffen, was er in seinem wunderlichen Sinn hat! Surely... die Nationen verstehn einander nicht, nicht mal so nah Verwandte! Selbst unter den wichtigsten Worten, wie Treue, Ehre, Gerechtigkeit, Freiheit verstehn sie verschiedenes. Und so reden sie denn aneinander vorüber; und es entstehn die größten Mißverständnisse!‹

Als die Gesellschaft auseinanderging, und die beiden Brüder nebeneinander nach Hause gingen, war Reimer noch Feuer und Flamme, und redete in einem fort, was das für ›schöne Leute‹ gewesen wären. »Wahrhaftig ... sieben oder acht von ihnen ..., Harm, als wenn sie Holsteiner wären! Die übrigen waren nicht so gut ... nein ... die hatten etwas im Gesicht ... etwas, das man wohl in Deutschland nicht so häufig sieht ... so etwas Hartes oder Leeres in den Augen. Ja, das hatten sie.«

Sein großer Bruder hörte kaum hin. Er dachte an die nächste Zukunft, an seine Reise nach Hause, sein Wiedersehen mit Lisbeth. Ei, wie war sein Weg nun klar, schön und rein! Er wollte nun einige Jahre in einer größeren Stadt der Provinz auf einem großen Zimmerplatz arbeiten; dann wollte er wieder in das Thomsensche Geschäft zurückkehren, wo er jederzeit willkommen war. Und dann ... und dann ... ach! was wollte er nicht alles! Und er sah gleich wieder das Bild seiner Liebsten und dachte wieder und wieder: »O, das wunderschöne, liebe Menschenkind! Nein, wie schön ist sie! Und wie schön und lieb wird sie erst sein, wenn sie älter und ernster geworden ist! Welch ein Leben! Täglich ihr Begleiter, ihr Herr und Führer, und ihr Liebster sein!«

Als sie oben in dem Zimmer ankamen, wo die Mutter des Kameraden ihm ein Lager bereitet hatte, und Reimer, nach allem Menschlichen immer neugierig, sich gleich an die Bilder heranmachte, die an den Wänden hingen, sah Harm zu seiner Verwunderung, daß da zwei Briefe von zu Hause lagen, beide von der Mutter Hand. Er war sehr beunruhigt, öffnete den einen und las hinter den Kühen, Kälbern und Schweinen, die wie immer den Vordergrund des Briefes füllten, die Nachricht, daß Lisbeth Thomsen sich vor ungefähr vierzehn Tagen, vorläufig noch heimlich, aber doch im Einverständnis mit den Eltern, mit einem jungen Landmann verlobt hätte. Sie war vorgestern auf den Hof zum Besuch gekommen und hatte Emma die Neuigkeit erzählt, der Mutter aber kein Wort davon gesagt.

So! Das war ein Schlag! Die ganze Stube drehte sich um und die Welt stürzte zusammen! So ... so ... also einen andern genommen! Und er ... und er ... er war ganz allein. Weg war sie! Eines andern! Sah einen andern an ... mit diesen Augen! ... Mit was für Augen! Ach ... und ließ sich von ihm küssen! Auf ihre Augen, auf ihr Haar, auf ihren Mund! Schrecklich! ... Er biß sich auf die Lippen und atmete leise und schwer, daß der Bruder nichts merkte.

Dann öffnete er den andern Brief, wobei ihm eine leise, verrückte Hoffnung durch den Kopf zuckte, daß dieser Brief melden würde: ›es ist nicht wahr; es war nur einer ihrer dummen Scherze ... sie wollte nur mal hören, wie du es aufnehmen würdest!‹ Nun hatte er den Brief geöffnet. Wieder die sehr ordentliche, steife Schrift der Mutter, die so gar nicht zu ihrem Wesen paßte. Aber diesmal, ohne Kühe und Kälber, klipp und klar gleich auf die Sache losgehend: daß eben Höbke Suhl dagewesen und einen Brief gebracht hätte, den Eggert ihr aus New York gesandt ... neben achtundvierzig Mark ... schon vor sechs Wochen. Sie hatte ihn bisher verheimlicht, in der Hoffnung, auf ihre Antwort, die sie sofort geschrieben und abgesandt hatte, wieder eine Antwort zu bekommen und nähere Nachricht über ihn bringen zu können; aber bis jetzt war diese erwartete Antwort ausgeblieben. Der Brief, den die Mutter nicht aus der Hand hatte geben wollen, lautete in Abschrift so:

›An Höbke Suhl, Harvsterkoog bei Altensiel.

Hier erhältst Du achtundvierzig Mark. Gib das Geld an den Landmann Peter Reimer Ott in Altensiel und schicke mir alsbald die Bestätigung. Ich wohne bei Rebekka Pein, New York 136, Street Nr. 42.

Ich hoffe, daß Du in diesem Jahre eine gute Ernte bekommst, und daß auch der Birnbaum trägt, von dem Du mir manchmal ganze Hände voll über den Graben geschmissen hast‹.

Zum Schluß schrieb die Mutter: ›Höbke und ich sind in Sorge, Harm, wie er da wohl wohnen mag! Was Reimer damals von der Wirtschaft auf St. Pauli erzählte, daß er da neben einem Mulatten im Sofa gesessen hat ... Schulter an Schulter, sagte Reimer ... das war sehr bedenklich. Aber unsere Hoffnung ist der Name Rebekka Pein. Wir wissen nur nicht, was für eine es sein mag; es gibt so viele Peins. Hoffentlich keine von den Südertoogern, die sind alle scheinig und unecht; die von St. Margarethen sind besser.‹

Er stand noch und sah auf die Worte, völlig im Bann alles dessen, was auf ihn einstürmte, da sagte Reimer, der plötzlich neben ihm stand und auch gelesen hatte, mit hitziger Bitte: »Harm, du mußt hinüberfahren und mit ihm reden! Bitte, Harm! Es ist ja ganz natürlich, daß du es tust! Wie wird die Mutter glücklich sein, wenn sie es hört! Es ist ja ein Katzensprung! Du verdingst dich als Zimmermann! Vielleicht bekommt so alle unsere schlimme Not ein Ende!«

Harm Ott überlegte nicht lange; er wußte gleich, was er zu tun hatte. Was sollte er jetzt in der Heimat? Er konnte das Thomsensche Haus unmöglich vermeiden. Dieses verruchte Mädchen aber wiedersehn, und ihr Liebster stand neben ihr?! ... »Natürlich!« sagte er jäh. »Ich fahr' hinüber! Ich fahre morgen früh nach Hamburg ... Hast du den andern Brief schon gelesen? Was war da noch Besonderes drin? Was war es noch ? Ach so ... Lisbeth Thomsen hat sich verlobt. Sie hat es sehr eilig! Sie ist noch nicht neunzehn.«

Reimer dachte nur an Bruder Eggert und wollte noch, wer weiß was, bereden; aber der Bruder hatte genug von Menschen. »Mach', daß du fortkommst!« sagte er, und schickte ihn weg.

Als er allein war, kam ein Anfall von Wut über ihn. Er setzte sich aufs Bett, knirschte mit den Zähnen und schimpfte auf das Mädchen, und war mit dem ganzen Leben fertig. Es ist nicht leicht, den Menschen, mit dem immer alle lieben Gedanken gespielt haben, nun mit völlig andern, fremden Augen anzusehn. Es ist, als wenn alles Blut aus dem Herzen weggeht und man leer und hohl zurückbleibt und nur noch ein toter Schein von einem Menschen ist. Ja, es ist ebenso schwer wie der Tod des Körpers; es ist der Tod der Seele. Dazu kam noch das... und das wurmte und kränkte ihn fast am meisten, daß sie ihm nicht ein einziges gutes Wort zum Abschied gesagt hatte. Und er wütete nicht allein gegen sie, sondern gegen alle Menschen, die es ja, wie ihm schien, alle und immer so machten. Was sie einander antun, ist an sich nicht das Schlimmste; denn es kann ja ohne Verwirrung nicht abgehn und die Schuld daran trägt mehr Gott als die Menschen. Aber die Form, in der sie es sich antun, ist so schlimm. Gäben sie ihrem Tun nur immer eine schöne und gerechte Form, so wäre nur der halbe Kummer unter den Menschen. Was konnte dieses Mädchen am Ende dafür, wenn ihr wirres Herz sich einem andern zuneigte, zumal er in der Ferne war?! Verd..., mag sie laufen, wohin es sie gelüstet! Aber, daß sie es ihm nicht in einem langen, guten Brief mit Entschuldigungen mitteilte, das war so unsagbar kränkend. Aber das begriff sie in ihrer Verstocktheit und Dummheit nicht. Zum Donnerwetter! Sie war doch seine Liebste gewesen! Wenn sie auch nie ein klares Wort über ihre Liebe zueinander gesprochen hatten, so wußte sie doch, wie heiß er sie liebte! Und auch ihre Augen hatten bekannt, neulich noch zwischen den Holzstapeln, wie es um sie stand! Nein, es war ein unentschuldbares Benehmen!

So grübelte er eine ganze Stunde lang und kränkte sich; und tauchte die Liebste immer wieder und wieder in seinen Zorn hinein, bis sie, so blond und weißhäutig sie war, ganz schwarz war, und der ärmste Bursche, der hungrig und stierend seines Wegs zog und an ihrem hellen Hause vorüberkam und eintrat, keinen Bissen Brot von ihr genommen hätte. Und es half ihm fürs erste nicht, daß er an sein schönes Rad und das Fähnlein denken wollte. Es war ihm alles, das ganze Leben, zerschlagen und zerschmissen.


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