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Ein Vater gedachte auszugehen und rief seine Kinder zusammen, um einem jeden seine Arbeit zuzuteilen. Einige hatten zu schreiben, die andern ein frommes Lied zu lernen, alle aber bekamen ihre Aufgabe und zugleich die Erlaubnis des Vaters, sobald sie ihre Arbeit vollbracht, im Garten zu spielen, bis daß er zurückkehren würde. Als nun der Vater alles aufs Beste geordnet, ermahnte er sie noch einmal zum Fleiß und begab sich hinaus auf die Felder.
Das Zimmer der Kinder aber stieß an den Garten, und die jüngeren blickten hinaus und sahen den schönen Sonnenschein und die goldenen Schmetterlinge, die über die Blumenbeete dahingaukelten, und die bunten Bilder verlockten ihr Herz, und sie sprachen untereinander: »Wäre es nicht gleich, wenn wir lieber zuerst unser Spiel trieben und sodann an die Arbeit gingen? Dort draußen ist es so hell und hier so eng und so düster!«
»Habt ihr nicht vernommen,« entgegnete der ältere, »wie der Vater gesagt: erst die Arbeit, dann das Spiel?«
»Ei,« versetzten jene, »wird nur beides getan, so kommt es wohl nicht darauf an, welches zuerst oder zuletzt geschieht.«
Mit diesen Worten warfen sie ihre Bücher zur Seite und hüpften leichten Sinnes hinaus in den Garten. Die älteren blickten ihnen nach in die lockende Freiheit, aber sie ließen sich nicht beirren und arbeiteten fort; still und schweigsam, wie es der Vater befohlen. Draußen stand die Sonne noch hoch, und die Luft war schwül. Die Kinder aber achteten der Hitze nicht und sprangen in wilder Jagd hinter den Schmetterlingen her und trieben allerhand unbändige Spiele und geberdeten sich wie eine zügellose Schar.
Als nun die älteren ihre Arbeit beendet hatten und sich zu den jüngeren in den Garten begaben, um sie an ihre Pflicht zu ermahnen, gedachten diese voll Schrecken ihrer Aufgaben. Des Vaters Strenge eingedenk, begaben sie sich ohne Widerrede in das Zimmer zurück; als sie aber die Bücher ergriffen, siehe, da vermochten sie weder zu lesen noch zu schreiben, denn sie waren allesamt erhitzt und erschöpft, und die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Dabei wurde es dunkler und dunkler im Zimmer, sie traten ans Fenster, aber ach, während sie trauernd hinaussahen, wanderten die glücklichen Geschwister in dem kühlen Schatten umher, die Blumen gießend und sich erquickend an dem linden herrlichen Abend. Vor Unmut weinend, daß sie die schöne Feierstunde verscherzt, griffen sie wieder zu den Büchern, aber sie vermochten ihre Gedanken nicht mehr zu sammeln und irrten eines wie das andere voll Furcht und Unruhe im Zimmer umher.
Als nun der Vater zurückkam und die verlegenen Gesichter der Kinder sah und wie sich das eine hinter dem andern verbarg, berief er die ältesten und fragte: »Was ist hier geschehen?«
Da erfuhr er, was sich begeben und wie jene zuerst gespielt und sodann zur Arbeit gegangen.
»Und wo sind die Arbeiten?« fragte der Vater.
Da rief einer der jüngern unter Weinen: »Vergib uns, Vater, wir waren erhitzt und zerstreut und vermochten nichts zu vollbringen, denn wir sahen die Freuden der andern!«
»Ihr Unfolgsamen!« zürnte der Vater. »Habe ich euch nicht gesagt: nur nach getaner Pflicht ziemt dem Menschen Erholung? Warum wolltet ihr diese Ordnung verkehren? Seht, jede Uebertretung straft sich von selbst, die Fleißigen genießen Erquickung und innere Zufriedenheit, so ihr aber verlangtet den Genuß vorher, und blieb euch nichts als die Arbeit samt der Unlust zurück!«
Mit diesen Worten führte er die Kinder zu den Büchern, sie aber gelobten sich heimlich, nie wieder einen Feierabend im voraus zu begehren.
»Die Schwingen des Lebens«, eine sorgsam bearbeitete Auswahl aus den Parabeln von Agnes Franz, erscheinen als drittes Buch der Reihe Angebinde. Literarische Leitung von Theodor Etzel. / Die Scherenschnitte zum Titelbild und Umschlag entwarf Maria Juß./ Druck und Bildbearbeitung von Otto Weber, Heilbronn am Neckar.