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Das Rohr

Von seinen Enkeln geführt, begab sich Leander hinaus auf die herbstliche Flur. Zärtlich hatten sich die Knaben um ihn gedrängt, denn wenn sie auch untereinander oft unerträglichen, widerspenstigen Sinnes waren, alle begegneten sich in der Liebe zu dem ehrwürdigen Alten, und dessen Beifall schien einem jeden das höchste Ziel seines Strebens.

Es geschah aber, als sie aus den Toren der Stadt traten, daß ein jeder der Knaben einen andern Weg vorschlug, denn alle wollten den Greis zu ihren Lieblingsstellen geleiten, und da dieser nicht aller Wünsche zu erfüllen vermochte, so erhob sich ein Streit unter ihnen, und einer kränkte den andern mit feindseligen Reden, so daß zuletzt alle in stummem Unmut des Weges dahergingen.

Leander, der solches bemerkte, war darüber von Herzen betrübt. Er bestimmte nun selbst den Weg, um den Zwist zu beenden, und führte die grollende Schar zu einem nah gelegenen Hügel hinan, der weit über die Ebene hinausschaute.

Als sie die Anhöhe erstiegen und Leander sich niedergelassen hatte, lagerten sich die Knaben zu seinen Füßen. Allmählich verschwand ihr Unmut beim Anblick der herrlichen Aussicht, und sie begannen wiederum ihre Augen zu erheben und harrten erwartungsvoll der Worte ihres väterlichen Freundes. Diesem aber war, als er in die weite Ebene hinabschaute, als überblicke er das Leben von dem letzten Hügel der Laufbahn, und alle die Stürme, die er überstanden, und die Freuden und Leiden vergangener Zeit zogen an seiner Seele vorüber, und er gedachte mancher treuen Hand, die seine Lasten erleichtert, und manches befreundeten Herzens, das der Tod von dem seinen gelöst, und seine Seele war voll Wehmut, und er blickte gedankenvoll auf seine Enkel herab und dachte, wie sie noch am Eingang ständen des sturmbewegten Lebens, und wie die Zeit so kurz sei, durch die er sie noch zu leiten vermöchte. Und der Gedanke, daß sie noch nicht eins waren im Geist der Liebe, der Eintracht, beunruhigte sein Gemüt.

Als er solches dachte und in tiefes ernstes Nachdenken versunken hinabschaute, fiel sein Blick auf einen nahegelegenen Weiher, in dessen Schilfrohr der Wind spielte und es in sanften Wellen bewegte. Es gemahnte ihn an die jugendliche Schar, die ihn umgab, und er erhob sein Antlitz und sprach: »Nicht umsonst, meine Kinder, wurde unser Fuß auf diesen Hügel geleitet! Seht das Rohr zu unsern Füßen, ist es nicht ein Bild eurer zarten, schutzbedürftigen Jugend? Leichtbewegt schwanken die seinen Stäbchen, sobald ein Windstoß darüber hinwegfährt. Sollte man nicht befürchten, daß er sie knicken werde, da die Natur ihnen in sich selbst so wenig Widerstand gab?«

»Ich würde es glauben,« entgegnete einer der Knaben, »wenn ich nicht gesehen hätte, wie jenes zerbrechliche Rohr schon stärkere Stürme bestanden und dennoch unversehrt geblieben ist, wenige Stäbchen ausgenommen, die ich zerknickt am Ufer fand.«

»Und warum mußten diese unterliegen?« fragte der Greis.

»Sie standen allein und abgetrennt von den andern,« erwiderte jener, »darum konnte sich der Sturm ihrer bemächtigen. Dort aber, wo das Rohr dichter ist, stützt ein Stäbchen das andere, und wie der Wind sie auch gemeinschaftlich beugt, so kann er doch keines zerbrechen, weil das Ganze das Einzelne halt und dem Sturme Widerstand leistet.«

»Und sollte uns nicht hierin eine geheime Lehre verborgen sein?« versetzte Leander. »Was ist es denn, was das Glück der Völker, das Wohl der Familien sichert? Ist es nicht, nächst dem höhern Schutz, der friedliche Verein einzelner Kräfte, das Band der Liebe und Eintracht, was ihm Dauer verleiht?«

Da erröteten die Knaben, denn sie gedachten ihres Streites und ihres häufigen Unfriedens, und sie wagten ihre Blicke nicht zu erheben. Leander aber sah, was in ihrem Herzen vorging, und winkte einem, daß er eine Handvoll des Rohres herbeibringe; als aber solches geschehen, verteilte er es unter die Brüder und sprach:

»Gedenket, wenn ich heimgegangen bin, gedenket mein beim Anblick des Rohres! Haltet zusammen, so wie der Schöpfer diese zarten Stäbe dicht aneinander gepflanzt hat! Vereint nur vermögt ihr die Stürme des Lebens zu bestehen, so wie es dieses Bild euch gelehrt hat. Und wenn einer sich lossagen will von dem brüderlichen Bunde, so erinnert euch des Rohres, das der Sturm geknickt hat. Dem vereinzelten Dasein drohen die Schläge des Geschickes doppelt Gefahr. Liebe und Eintracht aber sind die Stützen des Lebens, und im Unglück entfaltet sich zwiefach ihre himmlische Kraft.«

Da wurden die Knaben ergriffen von den Worten des Greises und legten in seine Hand das Gelübde ab, zu tun, wie er sie durch dieses Gleichnis gelehrt hatte.


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