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Nachdem der Tod Ettore Baldonis verfehltes Leben zu jähem Abschluß gebracht, fühlte sich Anita im ersten Moment vollständig betäubt, und die Schwestern Severe waren es, die im Verein mit dem Arzt alle nötigen Schritte taten, die im Gefolge eines Todesfalles zu sein pflegen. Apathisch saß Anita da und war nicht zu bewegen, das Sterbegemach zu verlassen. Sie hatte nur einen Moment lebhafter Anteilnahme bekundet, als Elvira Severe das Schriftstück, welches auf dem kleinen Tische neben der Leiche lag und auf dem man deutlich den mit zitternder Hand geschriebenen Namen Ettore Baldoni lesen konnte, an sich zu nehmen Miene machte. Mit geradezu fieberhafter Hast riß sie das Papier an sich, faltete es sorgfältig zusammen und steckte es in die Tasche ihres Kleides. »Das ist mein Besitz, der nur für mich von Wert und Interesse ist,« erklärte sie mit großer Bestimmtheit, im nächsten Augenblick aber schon saß sie wieder regungslos da und starrte mit leeren, tränenlosen Augen auf die gefalteten Hände, die in ihrem Schoß lagen, während man unwillkürlich die Empfindung hatte, daß ein heißer Tränenstrom für sie jetzt das erleichternd Wohltätigste wäre. Endlich, als die Leichenbestatter kamen, um den Toten aufzubahren, gelang es den Schwestern Severe doch, Anita zu bewegen, sich nach ihrem Zimmer hinüberzubegleiten zu lassen, und nun saß sie dort wieder Stunde um Stunde, ohne den gutmütigen Schwestern, die sich um sie bemühten, Rede und Antwort zu stehen. Ihr war es, als ob in ihr alles Fühlen erstorben wäre, als ob man sie rütteln müsse, um durch eine äußere heftige Bewegung sie wieder zum Bewußtsein des Lebens zu bringen. Und so dämmerte sie dahin, bis die sterblichen Überreste des Mannes, den sie weit mehr geliebt, als er es verdient hatte, draußen auf dem stillen Gottesacker in die Erde gebettet worden waren. Dann kam plötzlich eine fieberhafte Unruhe über sie, die sich doch mit einem Gefühl der Erleichterung paarte; er war menschlichem Urteilsspruch entrückt, ihm konnte weder ein milder noch ein strenger Richter mehr etwas anhaben, und ihr oblag nun die heilige Pflicht, soweit dafür eine Möglichkeit bestand, begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Wie aber konnte das am besten und am raschesten geschehen? Das kostbare Schriftstück, den einzig lebenden Beweis der Unschuld Robert von Marfens, aus der Hand zu geben, es der Post anzuvertrauen, das dünkte ihr nicht sicher genug. Sollte sie sich beim Theater einen Urlaub erwirken, um die Mutter, die ohne Zweifel noch immer in tiefer Niedergeschlagenheit unter dem Unglück litt, das den Sohn belastete, von dem zu benachrichtigen, was ihr gelungen? Nein, die arme Frau hätte ja doch sicherlich nicht, so meinte Anita, die nötigen Schritte einleiten können, um die Rechtfertigung des Sohnes durchzusetzen. Sie tat daher zweifellos besser daran, sich einen kurzen Urlaub von ihrer Direktion zu erbitten, um nach Triest zu fahren und Oberstleutnant von König, an den Frau von Marfen sie seinerzeit selbst gewiesen, das fragliche Schriftstück einzuhändigen. Er würde dessen Wert sofort erkennen und auch die nötigen Schritte tun, um die Unschuld des Hauptmannes von Marfen einwandfrei bekanntzugeben.
Endlich brach der Tag der Abreise heran, endlich konnte sie das wichtige Dokument in die Hände des Mannes legen, der ihr schon bei ihrer ersten Zusammenkunft mit ihm sehr freundlich und wohlwollend entgegengekommen war. Während der ganzen Reise, die sie aufs Geratewohl unternommen, hatte sie sich die bange Frage gestellt, was dann, wenn sie Oberstleutnant von König nicht antreffe? Seinem Nachfolger die ganze Sache bekanntzugeben, dazu gebrach es ihr an Mut, und meinte sie, daß, falls König nicht zugegen, ihr schließlich nichts anderes erübrige, als unverrichteter Dinge heimzukehren und zu warten, bis ihr die Möglichkeit geboten sei, nach Wien zu der Mutter Marfens zu fahren und dieser ihren kostbaren Besitz anzuvertrauen. Der Gedanke aber war ihr schrecklich, die arme Frau möglicherweise noch monatelang in banger Ungewißheit lassen zu müssen, und als sie, gleich nach ihrer Ankunft in der Kanzlei Königs vorsprechend, vernahm, der Herr Oberstleutnant sei nur momentan ausgegangen und werde bald zurückkehren, atmete sie erleichtert auf. Zum erstenmal seit Baldonis Tod fühlte sie sich in dem Bewußtsein, nun bestimmt eine gute Tat vollführen zu können, durch die sie den Verblichenen entsühne, relativ froh gestimmt. Als sie draußen im Vorzimmer herannahende Schritte hörte, sprang sie, unfähig länger müßig zu warten, lebhaft auf und trat dem die Schwelle überschreitenden Offizier hastig entgegen. Sein Blick streifte sie eine Sekunde des Oberstleutnants von König erfahren sollte, und als sie gleichzeitig mit diesem ein frohes Ahnen. »Fräulein Fiori, wenn mich nicht alles täuscht, darf ich Sie bitten, einzutreten,« sprach er, die Tür in sein Sanktuarium öffnend, und fügte dann, als sie einander allein gegenüberstanden, lebhaft hinzu: »Was führt Sie zu mir, mein Fräulein? Darf ich hoffen, daß es Gutes ist und daß es mit dem ersten Anlaß zusammenhängt, der mir Ihre Bekanntschaft vermittelt hat?«
»Ich habe Ihnen das Bekenntnis eines Toten zu übergeben, Herr Oberstleutnant, und ich möchte Sie bitten, mit diesem Bekenntnis so schonungsvoll zu verfahren, als dies möglich sein wird, wenn es gilt, die Ehre eines Schuldlosen wieder herzustellen. Ich wäre glücklich, wenn der Verblichene, der, ich bin dessen gewiß, sein Verbrechen bereut hat, wenigstens nicht öffentlich als der Vaterlandsverräter gebrandmarkt wird, der er, ich muß es ja leider zugeben, gewesen ist. Wenn Sie, Herr Oberstleutnant, in Ihrer Stellung und mit Ihrem Namen den Behörden und den Vorgesetzten gegenüber sich für die Unschuld des Hauptmannes von Marfen einsetzen, wird man Ihnen sicherlich vollen Glauben schenken, und es ist vielleicht möglich, den Toten in Frieden ruhen zu lassen, ohne ihm noch Schmach und Schande in sein einsames Grab nachzuwerfen!« Anita Fiori hatte mit lebhafter Bewegung gesprochen; König sah, wie nahe ihr die Sache ging, und entgegnete ernsthaft:
»Bevor ich Ihnen, mein Fräulein, irgendwie Zusage machen kann, muß ich genau über die Mitteilungen orientiert sein, die Sie mir zu machen haben.«
»Es handelt sich nicht um eine persönliche Mitteilung,« entgegnete Anita, »ich bringe Ihnen das Bekenntnis des Verblichenen, lassen Sie es nicht nur zu Ihrem Verstande, sondern auch zu Ihrem Herzen sprechen, und möge der Umstand, daß es ein Toter ist, der seine Schuld bekennt. Sie weicher stimmen, als wenn ein Lebender sein Vergehen beichten würde!«
Mit diesen Worten überreichte Anita dem Offizier das Schriftstück, welches sie als ihren teuersten Schatz behütet von der Stunde an, da sie es an sich genommen, weil sie über dessen Wert und Bedeutung für ein zweites Menschenleben, das zu entsühnen war, vollständig klar geworden.
»Ich kann Ihnen, mein Fräulein, bevor ich Einblick in dieses Dokument genommen, keinerlei Auskunft geben, weder Hoffnungen wecken, noch solche unterdrücken. Ich lese in Ihren Augen, daß der Schritt, den Sie mir gegenüber unternommen, Ihnen schwer geworden sein mag, aber trotz alledem kann und darf ich weder ein erlösendes, noch ein vernichtendes Urteil sprechen, bevor ich nicht über die ganze Angelegenheit genau orientiert bin!«
»Sie können überzeugt sein, Herr Oberstleutnant, entgegnete Anita, sich mit fast übermenschlicher Anstrengung zur Ruhe zwingend, »Sie können fest davon überzeugt sein, daß ich mich nicht der Ermüdung einer langen Reise ausgesetzt hätte, hätte ich nicht das Gefühl gehegt, daß das Schriftstück, welches ich Ihnen überbringe, ein Dokument von Bedeutung sei, das nur in berufene Hände gelegt werden durfte. Zu diesem Zweck bin ich hergekommen, und es bedarf wohl kaum der Versicherung, daß, wenn der Wunsch nach Gerechtigkeit auch noch so lebhaft in mir pulsiert, ich mich aller Mühe nicht unterzogen haben würde, wenn der Verblichene, in dessen Interesse ich handle, meinem Herzen nicht nahegestanden wäre. Ich habe nicht nur durch ihn, sondern auch für ihn gelitten, und mir will es scheinen, als ob ich mir um dieses Leidens willen das Recht erworben hätte, an Ihre Milde zu appellieren!«
»Wenn es mir möglich ist, diese walten zu lassen, mein Fräulein, so können Sie darauf zählen, einstweilen aber bitte ich Sie nochmals, mich allein zu lassen, damit ich in Ruhe das Schriftstück durchlese, welches Sie mir überbrachten, und leidenschaftslos überlege, was zu tun das Rechte sei. Morgen um dieselbe Stunde bitte ich Sie, bei mir vorzusprechen, und Sie sollen meinen Entschluß erfahren!«
Mit dieser Frist mußte Anita sich zufriedengeben, konnte aber nicht umhin, bangen Herzens zu bemerken, daß sie bereits am Abend des nächstfolgenden Tages werde abreisen müssen, und der Gedanke ihr qualvoll sei, daß Oberstleutnant von König vielleicht in der kurzen Spanne Zeit, die er ihr gestellt, doch noch nicht schlüssig geworden und sie am Ende, ohne klar zu sehen, werde abreisen müssen.
»Nein, mein Fräulein, fürchten Sie das nicht, ich halte, was ich verspreche. Auf Wiedersehen morgen zur gleichen Stunde!«
Er reichte ihr die Hand, Anita fühlte, daß sie entlassen sei und keinen Vorwand mehr finden könne, länger zu verweilen.
*
In peinlicher Aufregung verbrachte Anita Fiori die Zeit, welche sie von der Stunde trennte, in der sie den Entschluß lang verwundert, dann kam das jähe Erkennen über ihn und endlich vor ihm stand und in sein ernstes, gütiges Antlitz blickte, da kam, sie wußte selbst nicht wieso, eine große Ruhe über sie und sie sagte sich, daß dieser Mann mit den ernsten, markanten Zügen, mit der hohen Stirn und den mild und gütig blickenden Blauaugen gewiß nie hart und erbarmungslos werde sein können, am allerwenigsten dann, wenn es galt, über einen Toten ein Urteil zu fällen, der schon vor seinem göttlichen Richter stand. »Ich danke Ihnen, mein Fräulein,« sprach Oberstleutnant von König, nachdem er Anita aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, »es war das Richtigste, was Sie tun konnten, daß Sie das Bekenntnis des Toten mir überbrachten, und ich denke den richtigen Weg einzuschlagen, wenn ich bei meiner nächsten Fahrt nach Wien, die ohnehin in wenigen Tagen stattfindet, das Schriftstück mitnehme und höheren Orts berate, in welcher Form Hauptmann von Marfen entschädigt werden kann für alles, was er durch den ungerechten Verdacht, den man gegen ihn gehegt, gelitten haben muß. Ich hoffe, daß man meiner Meinung Gehör schenken wird, die darin besteht, daß es absolut keinen Sinn hat, jetzt noch einen Mann zu richten, der sich selbst schon gerichtet hat und in das Reich der Schatten eingegangen ist. Reisen Sie also beruhigt und seien Sie überzeugt, daß alles, was in meiner Macht liegt, geschehen soll, damit der Name Ettore Baldoni vergessen werde. Das ist das Höchste, was ich für Sie zu tun imstande bin, und damit müssen Sie sich genügen lassen.«
Mit einer hastigen Bewegung beugte sich Anita Fiori nieder auf die Hand des gütigen Mannes und zog sie an ihre Lippen; Tränen perlten dabei über ihre Wangen nieder, und sie verließ wortlos das Gemach.