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Anita Fiori hatte, von den verschiedensten Empfindungen bewegt, die Heimreise angetreten. Einerseits war sie, die in relativ beschränkten Verhältnissen aufgewachsene junge Person, hoch erfreut darüber, daß sie durch Frau von Marfens Großmut eigentlich ganz unerwartet dazugekommen war, ein gutes Geschäft zu machen, denn die Mittel, welche jene ihr zur Verfügung gestellt, waren weit größer, als sie erwartet, ja, wollte sie bei der Wahrheit bleiben, so mußte sie sogar zugestehen, daß sie eigentlich, von Empörung hingerissen, von Rachedurst erfüllt, an gar nichts anderes gedacht hatte als den Wunsch, Baldoni, den Mann, der ihre Liebe verraten, zu vernichten. Dabei hatte sie das Gefühl, daß sie ein gutes Werk begehe, und sah den ihr in den Schoß gefallenen pekuniären Vorteil als einen Lohn dieses guten Werkes an.
Von dem Wunsche beseelt, möglichst rasch etwas zu leisten, ans Ziel zu gelangen und ihren Rachedurst zu kühlen, hatte sie denn auch den Nachtzug benützt, um nach Triest zurückzugelangen, und kaum hatte sie den Reisestaub von sich geschüttelt, als sie auch schon sich auf den Weg machte, Oberstleutnant von König aufzusuchen und ihm alles mitzuteilen, was sie wußte, ihn gleichzeitig bittend, ihr behilflich sein zu wollen, um des Ungetreuen wieder habhaft zu werden, denn trotz Mitleid für Herrn von Marfen und dessen Mutter, trotz Wunsch nach Recht und Gerechtigkeit, war es ihr in erster Linie ja doch darum zu tun, des Treulosen habhaft zu werden. Das Geleitschreiben Frau von Marfens war ihr ein Passierschein, der ihr alle Pforten öffnete und Oberstleutnant von König war unermüdlich in den Kreuz- und Querfragen, die er zu stellen für angezeigt fand, denn es lag ihm vor allem daran, ein möglichst klares und umfassendes Bild als Basis der Schritte vor sich zu haben, die er zu unternehmen gedachte. Schon bevor Anita Fiori mit ihren hochwichtigen Aussagen, die nicht wenig dazu beitrugen, ein Gesamtbild zu komplettieren, bei ihm gewesen, hatte Oberstleutnant von König durch umsichtige und beharrliche Nachforschung erfahren, daß Frau Ola von Marfen in Begleitung des Leutnants Baldoni nach Venedig gereist war, dort aber verlor sich die Spur der beiden vollständig, und erst nach großer Mühe und Zuhilfenahme des österreichischen Konsulats in Venedig war es nach und nach gelungen, zu eruieren, daß in der Pension Luzius eine Dame unter dem Namen Ola von Thorn eingetragen sei, die möglicherweise mit der flüchtig gewordenen Frau des Hauptmanns von Marfen identisch sein konnte. Nach reiflicher Überlegung hatte Oberstleutnant von König den Entschluß gefaßt, den österreichischen Konsul in Venedig ins Vertrauen zu ziehen und ihn zu bitten, die angebliche Baronin Ola Thorn zu zitieren und nach Möglichkeit in die Enge zu treiben, damit man auf diese Weise in Erfahrung zu bringen trachte, was sie von dem wisse, dessen man den Leutnant Baldoni bezichtete.
Oberstleutnant von König hatte das Resultat des mit der Baronin angestellten Verhöres noch nicht in Erfahrung gebracht, als durch den Besuch Anita Fioris die Angelegenheit in ein neues Stadium trat, und nun glaubte er hoffen zu können, daß man der Lösung des geheimnisvollen Dunkels doch um einen Schritt nähergekommen, wenn auch jedenfalls noch eine ganze Fülle von Schwierigkeiten zu beseitigen war, bevor man wirklich Licht sah. Fast unmittelbar, nachdem Anita alles, was sie wußte, und vieles von dem, was sie empfand, in übersprudelnder Erregung dem Oberstleutnant kundgetan und diesem das Versprechen gegeben, ihm alles mitzuteilen, was ihr in bezug auf Baldoni zu ergründen gelingen werde, traf ein eingehender Bericht des Konsuls Fries ein, der die hochwichtige Mitteilung enthielt, daß Leutnant Ettore Baldoni sich wochen- oder monatelang unter dem Namen eines Marchese Giuglio Torre in der Pension Luzius aufgehalten, daß Frau von Marfen, geborene Baronin Thorn, selbst diese Angabe gemacht, daß sie ferner berichtet, er habe sich fälschlich als der Erbe des Marchese Torre, seines Oheims, ausgegeben, habe ohne jede Berechtigung seinen Namen angenommen und der Baronin Schecks ausgestellt, die sie bei der Bank hätte beheben sollen, was zur Unmöglichkeit geworden, da der Direktor ihr mitgeteilt, daß der falsche Marchese, den er damals für einen echten gehalten, sein Depots längst an sich gezogen habe. Daß der falsche Marchese Torre aber tatsächlich Geld besessen, war offenkundig, woher aber dieses Geld stamme, das entschieden nicht von dem verstorbenen Marchese Torre herrührte, darüber waltete noch unaufgeklärtes Dunkel. Die Vermutung war nicht ausgeschlossen, daß das Geld, über welches Ettore Baldoni, alias Giuglio Torre, verfügte und das er beizeiten behoben, um es an sich zu bringen, möglicherweise die Bezahlung für die dem Hauptmann von Marfen gestohlenen Pläne sei. Diese Mutmaßung lag sehr nahe, aber sie mußte zur apodiktischen Gewißheit werden, bevor man sie als vollwertig ansehen konnte. Bedeutsam war jedenfalls die Mitteilung des Konsuls von Fries, daß sowohl sein Gespräch als auch die bei Frau von Marfen-Thorn vorgenommene Hausdurchsuchung ihm nicht nur die Überzeugung beigebracht, daß die Dame dem Schurkenstreich Baldonis fremd gegenüberstehe, sondern er auch durchdrungen sei, daß sie das ihrem Gatten widerfahrene Unrecht tief beklage und sicherlich gewillt wäre, das Ihre dazu beizutragen, um die Unschuld Herrn von Marfens an das Tageslicht zu ziehen. »Vielleicht,« so fügte Herr von Fries hinzu, »mag die Erfahrung, die sie selbst mit Baldoni gemacht, ihr die Überzeugung beigebracht haben, daß sie ihm nur Mittel zum Zweck gewesen, und die Tatsache, daß er sie bezüglich des Geldes geprellt, hat ihr den Schleier von den Augen gerissen, ihr Klarheit darüber verschafft, daß sie es mit einem ganz gewöhnlichen Abenteurer zu tun habe.« Wie dem auch sein mochte, wertvoll war es jedenfalls, zu wissen, daß man in der Baronin Thorn, alias Frau Ola von Marfen, keine Verbündete, keine Helfershelferin des Landesverräters Baldoni zu sehen habe, daß sie vielleicht sein ahnungsloses Werkzeug, niemals aber seine Mitschuldige gewesen war.
Und so vergingen Wochen und Monate in langer, erfolgloser Suche, und über dem unglücklichen Robert von Marfen hing nach wie vor immer noch das Damoklesschwert des Freispruches »aus Mangel an Beweisen«, der fast vernichtender wirkte als eine erwiesene Schuld, denn er belastete ihn mit dem Makel des Verdachtes, und der war ein dumpfer Druck, der namenlos schwer auf dem Manne lag, dem es an Beweisen gebrach, seine Unschuld untrüglich festzustellen.
Während nun eine treue, liebende Mutter sich an den Strohhalm der Hoffnung klammerte, daß es doch noch möglich sein werde, die Ehre ihres geliebten Sohnes vor aller Welt herzustellen, während die Frau, die Robert von Marfen die größte Schmach, das bitterste Leid angetan, das ein Weib dem Manne zu bereiten vermag, sich mit Selbstvorwürfen herbster Art quälte und den Moment verwünschte, in dem sie, wie von hypnotischer Gewalt dazu gedrängt, alles vergaß, was Pflicht und Ehre ihr geboten hätten, lebte der Verfemte, Unglückliche, Schuldlose und doch durch den Verdacht einer schmählichen Schuld zu Boden Gedrückte in tiefster Weltabgeschiedenheit, einem Einsiedler gleich, in einem kleinen Tiroler Bergnest und hörte nichts von dem, was in der Welt vorging. Mit Absicht mied er nicht nur jeden Umgang, sondern griff nicht einmal nach einem Zeitungsblatt, wenn der Zufall ihm ein solches vor die Augen führte. Er wollte nichts hören, nichts wissen, nichts sehen von jener Welt, die ihn mit so rauher Hand angefaßt, in der er um all sein Lieben, Hoffen, Glauben gebracht worden war.
Und so war er zum weltfremden Einsiedler geworden, der alle Familienbande von sich stieß; er wollte weder Sohn noch Vater sein, da er Gatte nicht sein durfte, diese Stellung, in der sich all sein Denken, Fühlen und Lieben konzentrierte. Ihm war es, als ob sein Herz für nichts mehr schlagen könne, seit ihn das geliebte Weib verlassen, und nun hatte man ihm noch den reinen Namen geraubt, hatte seine Ehre besudelt, was sollte er demnach in einer Welt, die ihm die häßlichsten Zerrbilder zeigte? Er wollte nichts mehr hören, nichts mehr wissen von allem, was draußen vorging unter den Menschen, und so kam es auch, daß selbst Monate vergingen, ohne daß seine Mutter auch nur die geringste Kunde von ihm erhielt; die seltenen Lebenszeichen, die er ihr sendete, waren bald von da, bald von dort abgeschickt, denn er wollte nicht, daß sie auf den Einfall komme, ihn zu besuchen. Da jedoch, wenn schon nicht die Stimme des Herzens, so doch ein Rest von Pflichtgefühl ihm zuflüsterte, er sei bemüßigt von Zeit zu Zeit Kunde von seinem Kinde zu erwarten, gab er ihr ein Postamt an, an welches sie ihre Nachrichten postlagernd senden konnte, ging oder fuhr aber oft stundenlang, um sich dieselben zu holen, denn das Postamt des Örtchens, in dessen Nähe er lebte, das wollte er ihr niemals verraten.
Frau von Marfen sah selbstverständlich mit Spannung jeder Kunde von dem geliebten Sohn entgegen, und hoffte von Fall zu Fall, er werde Einkehr halten in sich selbst und begreifen, wie schweres Unrecht er der Mutter zugefügt. Bis nun aber war ihr Hoffen ein vergebliches gewesen, doch gütig und liebevoll, wie sie immer gegen ihn gewesen, entschuldigte sie seine Schroffheit mit der Verbitterung, welche die Ereignisse ihm auferlegt, und unterließ es auch in zarter Rücksichtnahme, ihm von Anita Fioris Besuch zu berichten, damit nicht vor der Zeit Hoffnungen in ihm erweckt wurden, deren Realisierung noch nicht gesichert war.