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6. Kapitel.

Hauptmann von Büsing war nicht wenig überrascht, als er, vom Kriegsspiel nach Hause kommend, auf seinem Schreibtisch unter anderen Briefen jenen von Frau von Marfen vorfand. Natürlich begriff er nicht nur, daß er ihrem Wunsche pünktlich nachzukommen habe, sondern daß er auch Diskretion wahren müsse. Eine innere Stimme flüsterte ihm zu, daß die Mutter mit sehendem Auge für ihr Kind irgendein Unglück ahne, und er war auch überzeugt, daß sie, von dem heißen Wunsche beseelt, Robert zu schützen, ihn als Hilfstruppe anwerben wolle, damit er ihr beistehe, irgendeinen unbekannten Feind zu bannen, der Robert von Marfen möglicherweise schädigen könne. Er wußte und empfand ganz deutlich, daß die Pflicht der Dankbarkeit allein schon ihm gebot, nach Möglichkeit auf alles einzugehen, was Frau von Marfen von ihm fordern mochte, aber er fragte sich doch mit banger Sorge, in welcher Weise sie denn wohl sein Eingreifen wünschen mochte.

Sonnenhell und warm brach der Freitag an. Mit einer gewissen Hast, die ihm sonst nicht eigen war, ging Büsing seinen dienstlichen Obliegenheiten nach, sehnte er nun schon mit Ungeduld den Moment herbei, in dem er der Aufforderung Frau von Marfens nachkommen konnte und von ihren Lippen hören würde, um was es sich handle, was sie von ihm zu fordern im Begriffe stand. Abwarten – es blieb nichts anderes übrig – aber er mußte sich Gewalt antun, um durch nichts seine innere Erregung zu verraten. Endlich schlug die Stunde, zu der er sich vorgenommen hatte, auf die Höhe zu fahren. Ein wolkenlos blauer Himmel wölbte sich über der Adria, und Büsing sagte sich unwillkürlich, daß, ob man nun wolle oder nicht, man nicht blind bleiben könne für den zauberhaften Reiz des Bildes, welches jenen, die emporfuhren, in abwechslungsreicher Pracht zu Füßen lag. Unwillkürlich wirkte die Schönheit dessen, was er zu sehen bekam, beruhigend auf sein erregtes Nervensystem, und er nahm sich vor, daß, wenn er, auf der Höhe angelangt, dem mit Menschen vollgepfropften Waggon entsteigen könne, er, bevor er mit Frau von Marfen zusammentraf, einen tüchtigen Spaziergang unternehmen wolle.

Mit einem etwas matten Lächeln kam aber Frau von Marfen alsbald auf ihn zu.

»Sie haben sich sicherlich gewundert, lieber Büsing, über das vielleicht etwas seltsame Ansuchen, das ich an Sie stellte, aber es sei Ihnen der beste Beweis, daß ich Sie als einen treuen, verläßlichen Freund unseres Hauses betrachte, denn nur mit einem solchen bespricht man Dinge, die einem nahe gehen. Sie kennen mich schon von lange her und wissen, daß die Hauptsorge und der Hauptgedanke, der mein Leben ausfüllt, immer mein Sohn gewesen ist, schon von dem Augenblick an, da er ins Leben eintrat. Mein Sorgenkind könnte ich eigentlich sagen, obzwar er mir gewiß mit Willen und Absicht keine Sorge bereitet hat, aber sein Temperament, seine heftige, impulsive Art ließen mich schon in der Vergangenheit für ihn zittern, und ich könnte nicht behaupten, daß das mit den Jahren anders oder besser geworden wäre. Ich zittere immer noch für ihn, wenn auch die Ursachen, welche dieses Zittern veranlassen, vielleicht andere geworden sind. Kleine Kinder, kleine Sorgen; große Kinder, große Sorgen. Ich weiß nicht, wer ursprünglich dieses Zitat ins Leben gerufen, daß es aber ernste Wahrheit in sich birgt, läßt sich nicht gut in Abrede stellen. Doch, lieber Freund, um philosophische Betrachtungen zu machen, habe ich Sie nicht zu diesem eigenartigen Stelldichein gebeten, aber es handelt sich darum, ein ernstes Ersuchen an Sie zu stellen, dessen Erfüllung für mich von großer Wichtigkeit ist. Ich fühle mich seit einiger Zeit leidender, als ich der Allgemeinheit gegenüber gern eingestehen will, und dieser Umstand zwingt mich, dem unaufhörlichen Drängen unseres Hausarztes Doktor Fabiani nachzugeben und mich zu entschließen, während der heißen Sommermonate in der kühlen Waldgegend der grünen Steiermark Kräftigung und Erholung zu suchen. Das wäre ja an und für sich nichts so Schreckliches, und ich begreife ganz gut, daß Sie mich mit einiger Verwunderung ansehen und sich überrascht fragen, weswegen ich Ihnen das alles erzähle, aber die Sache hat ihren Haken, und da ich mit einem treuen Freunde spreche, mit einem Mann, den ich noch aus den Tagen seiner Kindheit kenne, darf ich auch offen und rückhaltlos reden, ohne zu befürchten, daß Sie mich mißverstehen. Es ist mir hart, schwer, bang, meinen Sohn allein lassen zu müssen. Sie werden mir die Einwendung machen, die berechtigt erscheint, daß er nicht allein ist, daß seine Frau ihm zur Seite steht, aber« – fast klang es wie ein Aufschluchzen höchster Qual – »aber das genügt mir nicht. Sie kennen mich so lange, lieber Büsing, daß es Sie nicht überraschen wird, wenn ich Ihnen sage, daß ich aus Liebe zu meinem Sohne nach und nach gelernt habe, meine Schwiegertochter zu ertragen. Aber der Umstand, daß sie an seiner Seite weilt, bietet mir keine hinreichende Gewähr für sein Glück. Ich besitze keine Handhaben, die es mir ermöglichen würden, eine Anklage gegen sie zu formen, aber ich fühle nur zu deutlich, daß im Hause meines Sohnes nicht alles so ist, wie es sein sollte, daß dort weit über die pekuniären Verhältnisse hinaus gelebt wird, die uns zur Verfügung stehen, und ich bin völlig im unklaren darüber, wie und auf welche Weise dieses ermöglicht wird. Um vielleicht nach und nach doch einen Einblick zu erhalten, um bei drohender Gefahr einspringen, abwehren, helfen zu können, bin ich seit Jahren mit der Frau unter einem Dach geblieben, für die ich nur negative Empfindungen hege, deren unbegrenzten Einfluß auf meinen Sohn ich aber kenne und, wenn ich ehrlich sein will, muß ich wohl auch sagen, fürchte. Roberts großer Zauber ist immer darin gelegen, daß er viel Assimilierungsvermögen besaß und sich seiner Umgebung anzupassen versteht. Daraus erwächst aber auch die Gefahr. Ich persönlich habe längst keinen Einfluß mehr auf meinen Sohn. Wenn ich ihn jemals besaß, ist er durch Ola paralysiert worden, die mit der ganzen Schlauheit, welche bei einer berechnenden, kleinlichen Natur an Stelle des Verstandes tritt, gegen mich unterminierte, was ihr auch meisterhaft gelungen ist. Ich muß also vollständig ausgeschaltet werden und kann mit gebundenen Händen zusehen, wie mein Sohn in sein Verderben rennt, denn daß Ola dieses Verderben ist, darüber bin ich leider längst im klaren. Trotzdem habe ich es nicht über mich gebracht, dem Hause meines Sohnes auf die Dauer den Rücken zu wenden, weil ich doch immer noch hoffe, ihm lindernd, tröstend, beruhigend zur Seite stehen zu können, wenn er einmal des Trostes bedarf und die Mutter sucht. Die bange Sorge aber, die stets in mir lebt, die Sorge um das Glück der Zukunft meines Kindes, im Verein mit dem Umstand, daß ich mir immer Gewalt antun muß, um das Mißtrauen zu verbergen, das ich für Ola empfinde, haben meine Gesundheit so ernst geschädigt, daß ich wirklich selbst einsehe, daß eine kurze Erholung mir not tut, um dann wieder mit ganzer Kraft am Fleck sein zu können. Aber es ist mir bang, selbst für diese kurze Zeit Robert hier allein Olas Einfluß preisgegeben zu wissen, und deshalb, lieber Büsing, habe ich Sie bitten wollen, wachen Sie über meinen Jungen, stehen Sie ihm zur Seite, schließen Sie sich ihm intimer an, als es in letzter Zeit der Fall gewesen, und paralysieren Sie dadurch den Einfluß jener Frau, der nur ein verderblicher sein kann. Am liebsten freilich, möchte ich Sie bitten, auch auf Ola ein wachsames Auge zu haben; sie wird Ihnen nicht mit jener Abneigung und jenem Mißtrauen begegnen, die sie gegen mich empfindet. Vielleicht gelingt es Ihnen, Einfluß auf sie zu gewinnen oder ihr Vertrauen zu erlangen, und wir erhalten auf solche Weise einen Schlüssel zu Dingen, die bis dahin ganz unverständlich, ja, fast möchte ich sagen, ganz unfaßbar sind. Ola fühlt sich im ganzen zu Männern viel eher hingezogen wie zu Frauen. Versprechen Sie mir, daß Sie während meiner Abwesenheit nicht nur mich vertreten, nein, mehr tun wollen, indem Sie trachten, auch auf Robert Einfluß zu gewinnen, damit er klarer sehen lerne und einsehe, daß in seinem Hause gar vielerlei geschieht, was man unterlassen könnte und sollte. Vielleicht gelingt es Ihnen, auch Ola darauf hinzuweisen, daß der Wirkungskreis einer Frau und Mutter unmöglich darin bestehen kann, nur in einem Taumel von Vergnügungen zu leben – vielleicht …«

»Gnädigste Frau,« unterbrach sie Hauptmann von Büsing mit einer gewissen Hast, »Sie wissen, wie aufrichtig ich Ihnen von Kindheit an ergeben gewesen, und es ist daher nur natürlich, daß ich mit Freuden bereit bin, alles für Sie zu tun, was in meiner Macht gelegen ist und – sich mit meiner Ehre verträgt; ich verspreche Ihnen auch, daß ich Sie sofort benachrichtigen will, wenn ich zu der Annahme berechtigt bin, daß Robert Ihrer Gegenwart bedarf – aber – aber – ich bewege mich nur mit offenem Visier – und irgend etwas zu tun, was an ein heimliches Nachspüren und Spionieren erinnert – das – das, gnädige Frau, können und werden Sie mir nicht zutrauen!«

Frau von Marfen seufzte schwer auf. Sie sagte sich, daß sie vielleicht, nur an das Glück des Sohnes denkend, nur bestrebt, von ihm jedes Ungemach abzuhalten, zu weit gegangen sei, indem sie dem in ihrer Seele schlummernden Verdacht gegen die Schwiegertochter, wenn auch nicht direkte Worte verliehen, so ihn doch leise angedeutet hatte. Sie begriff, daß sie sich damit begnügen müsse, Robert einen Freund zur Seite zu stellen, nicht aber gleichsam einen Wachposten anwerben dürfte, der das Tun und Lassen Olas beobachtete und demselben nachspürte. Wollte sie mithin ihr Ziel erreichen, Robert von einem treuen Freunde behütet zu wissen, so blieb nichts anderes übrig, als dem Gedanken zu entsagen, daß sie an ihn das Verlangen stelle, ein wachsames Auge auf Ola zu richten. Schließlich konnte ihr da auch sein Versprechen, Robert häufig besuchen zu wollen und danach zu streben, sein Vertrauen zu erringen, genügen. Sie fügte nur noch die Bitte hinzu, er möge ihr wenigstens geloben, sobald irgend etwas Außergewöhnliches sich zutrage oder sobald Robert leidend sei, sie telegraphisch in Kenntnis zu setzen, damit sie sich zur Heimreise rüsten könne.

Büsing gab anstandslos das von ihm geforderte Versprechen und, vielleicht von dem Wunsche beseelt, die offenbar tief erregte Frau zu beruhigen, fügte er noch hinzu:

»Ich darf mir ja kein Urteil über Ihre Frau Schwiegertochter erlauben, aber verzeihen Sie, gnädigste Frau, wenn ich darauf hinweise, daß es ja doch manchmal vorkommen kann, daß man vorschnell, ja sogar schroff über irgendeine Persönlichkeit urteilt, nur weil sie einen anderen Gesichtskreis, ein anderes Auffassungsvermögen hat, als wir selbst. Man bedenkt nicht oder vergißt vielleicht auch, daß sehr viel von dem, was die Menschen tun oder unterlassen, auf die Art zurückzuführen ist, wie sie aufwuchsen, daß die gute, mittelmäßige oder schlechte Kinderstube sich bis in das höchste Alter bei den Menschen verrät und wir mithin vieles von dem, was wir selbst tun oder nicht tun würden, jenen nicht anrechnen dürfen, die in anderen Verhältnissen ausgewachsen sind und nicht den Vorzug jener Erziehung hatten, die uns zuteil geworden. Deswegen können die Leute ja doch gut, korrekt und anständig sein, wenn auch ihre Korrektheit sich anders äußert, wie die unsere. Tout comprendre c'est tout pardonner, dieses alte, aus dem gallischen Idiom übernommene Zitat ist die Quintessenz der Lebensweisheit, und verzeihen Sie mir, liebe gnädige Frau, wenn ich mir erlaube, darauf hinzuweisen, daß Sie alles, was Ihnen schwer wird, leichter tragen würden, wenn Sie versuchen wollten, mit dem gleichen scharfen Blick, mit dem Sie das Böse herausfinden, das Gute zu suchen.«

Frau von Marfen schlug den Blick zu Boden; sie fühlte, daß etwas Wahres an Büsings Worten sei.

»Verzeihen Sie, lieber junger Freund,« sprach sie nach einer kurzen Pause, während welcher beide in Nachdenken versunken vor sich hingeblickt hatten, »verzeihen Sie, daß ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet habe, und vergessen Sie jedes Wort, welches Sie möglicherweise als Tadel gegen Ola auslegen könnten. Es genügt mir Ihr Versprechen, daß Sie Robert treu zur Seite stehen und mich benachrichtigen wollen, wenn meine Rückkehr wünschenswert erscheint. Und nun biete ich Ihnen abschiednehmend die Hand, wir wollen nicht zusammen zur Stadt zurückkehren, wenn auch dieses Zusammensein ein ganz zufälliges sein könnte. Lassen Sie mir einen Vorsprung und folgen Sie mir in einer halben Stunde. Ich lege Ihnen meinen Sohn ans Herz und weiß ihn in Ihrer Obhut geborgen, das wird mir das Fernsein wesentlich erleichtern.«

In tiefer Ergriffenheit zog Büsing Frau von Marfens Hand an die Lippen. »Was in meiner Macht liegt, werde ich tun und hoffe, Ihnen nur gute Kunde senden zu können,« sprach er, sich tief verneigend.

Ein letzter freundlicher Gruß, dann entfernte sich die sorgenvolle Mutter und legte langsam den Weg zur elektrischen Bahn zurück, um von dort aus in der rasch hereinbrechenden abendlichen Dämmerung die Talfahrt zu unternehmen, die sie in etwa zwanzig Minuten nach der Stadt brachte.


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