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Dritter Band.

Die goldene Hochzeit.

(Fortsetzung.)

 

Drittes Capitel.

Wir drei Alten saßen schweigend, die Augen zu Boden gesenkt. Es ist ja so schwer, einem vertrauenden Menschen Muth und Glauben durch unsere Zweifel abzukühlen. Die jugendliche Braut dahingegen schaute mit siegesfreudigem Blick und hochrothen Wangen zu ihrem Verlobten in die Höh'; die Vergangenheit nicht ahnend, deren Mahnen uns Greise so bänglich bewegte.

»Und ich, ich gehe mit Dir, Renatus!« rief sie, indem sie ihre Hand in die seine legte. – »Tritt Du vor den alten Herrn; ich trete vor die alte Dame.«

»Fräulein Deborah!« will ich sagen und recht demüthig ihre Hand küssen; »Fräulein Deborah, Sie haben mich niemals freundlich angesehen, so oft ich Ihnen im Kirchstuhle gegenüber saß; Sie haben mir niemals ein Wort gegönnt; kaum meinen Gruß erwidert. Und doch sind Sie meine Pathin; doch trage ich Ihren Namen, der jeden Morgen und jeden Abend in unseren Gebeten wiederklingt. Und doch hat man von Kind auf mich Sie lieben gelehrt, wie meine Mutter im Himmel, und ich sehne mich nach Ihrem Segen zu dem Bunde, den ich mit meinem Renatus geschlossen habe. Denn ich liebe meinen Renatus; und seit ich die Seine geworden, dünken mich alle Menschen näher, ja so nahe gerückt, daß ich sie an mein Herz ziehen und sie so froh und glücklich sehen möchte, wie ich selber es bin. Aber meine Großmutter blickt traurig an dem Tage, mit welchem der liebe Gott so Wenige begnadigt. Ihr Auge sucht eines, das ihrer Jugend schwesterlich zugelächelt hat und jetzt sein Begegnen vermeidet; – warum? ich weiß es nicht. Ihre Hand streckt sie nach einer, die sie mit Wohlthaten beladen und jetzt ihren Druck verweigert; – warum? ich weiß es nicht. Fräulein Deborah, lösen Sie den Stachel aus dem Herzen der alten Frau; blicken Sie freundlich zu ihr hinüber; führen Sie heute die Aelternmutter, wie Sie vor fünfzig Jahren die bräutliche Jungfrau zum Altare geführt; kehren Sie ein in unser Haus, ein theurer, langersehnter, ein vielgesegneter Gast!« –

»Geh', meine Tochter, geht, meine Kinder!« rief die Matrone hastig und mit bebenden Lippen. »Geht gleich jetzt; Euer Herz ist warm, Euer Vorsatz von Gott. Er geleit' Euch!«

»Ja, geht, lieben Kinder,« sagte gelassener der Greis, der nicht die Rührigkeit seiner Gattin in das Alter hinüber gerettet hatte.

»Ja, gehen Sie, Herr Renatus, Fräulein Deborah,« sagte auch ich. »Gottes Wege sind wunderbar; auch die zu den Herzen der Menschen.«

Frohen Muthes, Arm in Arm, schwebte das Paar den Gartenweg entlang. Wir blickten ihm nach, stumm, mit gefalteten Händen.

»Und wir, Christian?« hob nach einer langen Pause die Matrone an; »sollen wir sie allein gehen lassen? Nicht ihnen folgen, an diesem Tage, vielleicht in der letzten Stunde? Nicht danken, wenn ihnen gelang, was uns nimmer gelingen sollte? Bitten, wenn sie vergeblich gebeten haben; noch einmal bitten um den Frieden dieses Erinnerungstages, um die Ruhe unseres Sterbebettes?«

»Lenchen, Herzenslenchen!« wendete der alte Mann bedenklich ein. Aber sie schlang, sanft erröthend, gleich einer Braut, die Arme um sein weißes Haupt; ihre heißen Thränen perlten darauf nieder, – und sie gingen.

Ich hinter ihnen drein, Schritt für Schritt, wie ihr Schatten. Wir redeten kein Wort. In wenigen Minuten standen wir auf der Schwelle des Nachbarhauses; »Zum ersten Male seit fünfzig Jahren!« flüsterte die Matrone.

Im Vorgemach hörten wir die bewegte Stimme des Enkels aus dem Studierzimmer; die der Enkelin aus dem Fräuleinzimmer dringen. Die Großmutter hielt plötzlich inne.

»Nicht vor dem Ohre des Kindes,« sprach sie erröthend. »Du, Christian, erwarte Renatus hier oben, ich gehe in den Garten, bis Deborah entlassen ist. Sie, lieber Freund geben mir einen Wink zu rechter Zeit.«

Damit ging sie leise die Treppe wieder hinunter und in den Garten; ich sah vom Fenster sie in der großen nächtigen Laube des Hintergrundes verschwinden. Ihr Eheherr schlich mit eingepreßtem Athem im Zimmer auf und ab; um mir Muth einzuflößen, nahm ich die große Postille zur Hand, die auf dem Tische vor dem Küsterstuhle ihren Platz und mir manche Stunde des Harrens erbaulich verkürzt hat. Ich las das dreizehnte Capitel des ersten Corintherbriefs; das heiligste Capitel, das, nach meinem Dafürhalten, die Hand eines Menschen aufgezeichnet hat. Ich wußte es auswendig, Wort für Wort, seit länger als siebenzig Jahren. Jedes Mal aber, daß ich es von Neuem las, klang es mir wie eine neue Botschaft; und mit dem Schlußsatz: »die Liebe ist die größte unter ihnen!« – den Gaben des Geistes nämlich, – da fühlte ich heute eine köstliche Gewißheit in mein Herz einziehen; die Gewißheit: daß auch der starke, eifrige Mann dieses Hauses, der in seinem Glauben und Hoffen nicht erst aus einem Saulus ein Paulus zu werden brauchte, für die höchste unter den Gaben doch noch eine Stunde von Damaskus erleben werde; das Wunder, um welches ich am Morgen schon einmal an dieser Stelle gefleht hatte.

Kaum aber, daß diese Freudigkeit in mir warm geworden war, wurde ich übergossen wie von einer eisigen Traufe. Die Rede des Supplikanten in der Studierstube war verstummt: Renatus Henrici gab seinen Bescheid. Den Wortlaut unterschied ich nicht, aber der Ton der Stimme klang wie kurzes, scharfes »Nein!« Und einen Augenblick später stürzte auch Renatus, der Enkel, aus der Thür, und der Riegel wurde hastig von Innen vorgeschoben. –

»Alles vergebens!« rief der junge Mann mit verstörten Mienen und einer abwehrenden Handbewegung, indem er sich eilig entfernte.

»Ich wußte es!« flüsterte kleinlaut sein Großvater und wollte dem Enkel folgen. Ich aber hielt ihn zurück.

»Das Fräulein!« bat ich, auf der Dame Zimmer deutend.

Er schüttelte den Kopf; allein ich drängte ihn nach der Thür. Er legte die Hand an die Klinke, kehrte aber wieder um und blickte mir ängstlich in das Gesicht. Ich öffnete beherzt und schob ihn über die Schwelle in dem Augenblicke, als die kleine Deborah, wie ein verscheuchtes Vögelchen über dieselbe flüchtete. Hinter ihr stand das Domfräulein, steif wie eine Statue vor der neuen behelligenden Erscheinung.

Die Thür fiel in das Schloß. Die Kleine floh ohne Aufenthalt der Treppe zu; Thränenspuren feuchteten ihre Augen, sie schüttelte den Kopf über dieses starre, unverständliche Menschenräthsel. Ich folgte ihr, um der in der Laube harrenden Matrone das Scheitern des kindlichen Angriffsplans mitzutheilen.

Jählings stockte mein Fuß. Ich hörte des Probstes Thür sich schließen und seinen heftigen Tritt der Treppe nahen. In diesem Augenblicke fürchtete ich mich schier vor ihm. Ich schlüpfte behende hinter die Thür, die aus dem Hausflur in den Garten führt und lugte durch die Lücke der Angel, wohin er sich wenden werde.

Die kleine Deborah war überrascht am Fuße der Treppe stehen geblieben, des Mannes Aufregung aber so gewaltig, daß er sie erst bemerkte, als er Auge in Auge ihr gegenüber inne hielt. Sie, die er jeden Tag in ihrem Garten hätte beobachten können, der er jeden Sonntag auf dem Kirchwege begegnet war, – er sah sie heute zum ersten Male. Er sah sie; – aber es war, als ob eine Sinnentäuschung ihn überflöge, vielleicht durch den Anblick des alten kleinen Bildnisses hervorgerufen. Fünfzig Jahre waren plötzlich verschwunden; nicht Deborah, Magdalena Adami in ihrer Jugendschöne stand vor Renatus Henrici hingezaubert, und Renatus Henrici, der Greis, erzitterte unter einem Jünglingsschauer.

Sie beugte sich bis zur Erde vor der hohen Gestalt, griff mit Lebhaftigkeit nach seiner Hand und führte sie an ihre Lippen. Bei dieser Bewegung löste sich der kleine Maiblumenstrauß von ihrem Busen; er fiel in feine Hand. Er riß sich hastig von ihr los, indem er sich nach der Gartenseite wendete. Die kleine Deborah floh wie ein Reh der Straßenthür zu.

In den Garten ging er, zu dieser Stunde! Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Von ihm unbemerkt schlüpfte ich aus meinem Versteck und hinter den dichten Taxushecken der Laube zu. Dabei lauschte und lugte ich durch die Lücken nach dem alten Herrn.

Er ging auf dem gewohnten Wege zwischen den uralten Rüsterriesen; aber nicht in dem gleichmäßigen Tempo seines Dämmerungsganges, nicht Tritt für Tritt, die Hände auf dem Rücken und die Augen am Boden. Er machte etliche Schritte, hielt dann inne; setzte sich von Neuem in Bewegung, fuhr mit der Hand über die Stirn. Ein Zug von Kampf oder Krampf bewegte die schmalen, farblosen Lippen; die tiefe – Furche zwischen den Brauen glättete sich und grub sich stärker wieder ein in jähem Wechsel. Ein Etwas arbeitete heimlich, aber mächtig in seiner Brust. Noch einmal hielt er still. Mechanisch führte er den kleinen Strauß an sein Gesicht; schaute lange in die weißen Glockenkelche und sog, wie befremdet, ihren Balsam in sich hinein. Ein tiefer Seufzer, ein Athemzug der Erquickung rang sich empor. Hatte er zum ersten Male einen Blumenduft gespürt?

Bei unserm letzten Spaziergange hatte mir Christian Borsdorf die gar sinnige Legende erzählt, wie ein frommer Christenapostel mit der eindringlichsten Rede vergeblich versucht hatte, das im freien Feld um ihn geschaarte Heidenvolk von dem Wunder der dreieinigen Gottheit zu überzeugen. Verzweifelnd blickt er zu Boden, gewahrt ein bescheidenes Kleeblatt, pflückt es, hält es in die Höhe und ruft: »die Ihr nicht glauben wollt, schaut! wie dieses kleine Blatt, so der große Gott: drei und doch eins!« Das Heidenvolk aber schaut, glaubt und ehrt noch heute das Kleeblatt als sein heiligstes Symbol.

Seltsam! diese Erzählung fiel mir wieder ein, als ich Renatus Henrici die erquickende Maienwürze einathmen sah. »Alles Natürliche ist Sinnbild des Uebernatürlichen!« hatte mein Freund gesagt, und ich dachte bei mir selbst: »der Duft, der geheimnißvoll labend in den Busen dringt, sollte der nicht das wahrhaftige Sinnbild der Liebe sein? sollte nicht Gott, der Herr, wie durch die Gestalt eines Blatts, so durch den Weihrauch einer Blüthe, seine ewigen Wunder einem Menschenherzen offenbaren können?«

Renatus Henrici hatte die Laube erreicht; ich stand verborgen kaum fünf Schritte von ihm entfernt. »Sobald er sich wendet,« dachte ich, »gebe ich der armen Frau einen Wink.«

Aber er wendet sich nicht. Er steht unschlüssig; was hält ihn? Hebt dann hastig den Arm; er zittert; – was treibt ihn? Er schlägt das wuchernde Gestrüpp zurück und tritt in das düstere Laubgemach. Ein jäher Aufschrei! – Sich gegenüber sieht er das Weib, das er fünfzig Jahre lang in der Stille, sei es der Tugend, sei es des Hasses oder – der Liebe? gemieden hat, gleich einer Verbrecherin.

Sie war von ihrem Sitze aufgesprungen bei seinem Nahen »Renatus!« stammelte sie freudenvoll durchzuckt.

Aber schon hatte er sich gesammelt und wollte entfliehen. Sie griff nach seiner widerstrebenden Hand. »Du kommst zu mir,« sagte sie; »Renatus, Du suchst mich hier, hier an dieser, dieser Erinnerungsstätte?«

»Ich suchte Niemand. Ich kam ans Zufall dieses Wegs,« versetzte er herbe, indem er sich zur Rückkehr wendete. Sie aber stellte sich ihm am Ausgang entgegen, faßte von Neuem nach seiner Hand und sprach:

» Nicht aus Zufall, Renatus! Das Begegnen an dieser Stätte, Wand an Wand neben Ihnen, Thür an Thür, fünfzig Jahre lang vergeblich ersehnt, erfleht, erstrebt, nennen Sie es Führung, Renatus, und gehen Sie heute nicht von mir ohne Wort, wie an jenem Tage, und so oft seitdem; heute nicht, wo das Grab mir näher ist als damals der Altar; heute hören Sie mich und entsühnen mich.«

»Entsühnen?« fragte er kalt. »Sind Sie verklagt worden, Frau?«

Sie neigte schweigend das Haupt bis auf die Brust.

»Niemals, niemals!« rief er heftig.

Sie aber entgegnete mit dem beweglichen Stimmenklang, den ihr das Alter nicht geraubt hatte: »Ja, ich bin verklagt worden; ich bin es worden, Renatus. Nicht laut, nicht öffentlich, nicht mit Worten und Zeichen; aber im Herzen und Gedanken; aber im Schweigen und Meiden; aber durch Ihr einsames Leben; aber durch Ihre Großmuth, unerforschlicher Mann.«

Sie machte eine Pause; vielleicht in der Hoffnung eines Wortes von ihm. Er sprach es nicht; aber er blieb. »Renatus,« hob sie endlich wieder an; noch leiser, noch bebender als zuvor, »einst liebten Sie ein Kind, eine Waise – –«

»Lassen wir, was so lange vergangen ist,«unter brach er sie. »Sie und ich, wir würden es nicht mehr verstehen.«

»Ja, wir verstehen es noch,« entgegnete sie. »Auch Sie, Renatus, verstehen es. Und ich? O, wohl verstehe ich es, was fünfzig Jahre an meiner Seele gezehrt, wie ein Wurm, und auf meinem Haupte gebrannt, wie eine glühende Kohle. Hören Sie mich, daß ich Ihnen sage, in dieser äußersten Stunde, wie ich es verstand.«

Wieder machte sie eine Pause. Er regte sich nicht. Nachdem sie sich gesammelt hatte, fuhr sie fort:

»Sie liebten ein Kind, eine Waise, deren Bruder Sie gewesen, deren Schützer und Wohlthäter Sie geworden waren; liebten sie und gedachten sie zu Ihrem Eigenthum zu machen für das Leben. Widerstandslos hatte sie ihr Wort verpfändet, ohne zu ahnen, was es bedeute. Und die Sie liebten – verrieth Sie. Hier unter diesen Bäumen, die den Treuspruch vernommen, wurden Sie Zeuge eines zwiefältigen Treubruchs, – nein, eines zehnfältigen. Denn der Andere, dem sich das Herz der Geliebten zugewendet, war ein Diener Gottes, wie Sie, war der Freund Ihrer Jugend, Renatus, und hatte seine Treue Ihrer Schwester verlobt, der Schwester und Wohlthäterin auch des treulosen Kindes.

Wie es geschehen konnte, daß Zwei von einander strebten, die so Heiliges verbinden, Zwei zu einander, die das Heiligste scheiden sollte? Renatus, klagen Sie den Trieb an, der so schwach macht und zugleich so stark macht, so stark, daß er heute, nach fünfzig Jahren, noch ungebrochen des Weibes und des Mannes Herz regiert. Nicht, daß sie sich liebten, war ihre Schuld; daß sie dieser Liebe keinen Damm zu setzen wußten – auch das nicht einmal. Aber daß sie kleinmüthig zagten, zögerten, täuschten, die zufällige Ueberraschung sprechen ließen, statt eines redlichen Vertrauens, daß sie Betrüger, Verräther zu werden verdienten.

Aber die Betrogenen, Verrathenen, sie schalten nicht; – sie schwiegen; sie schmähten nicht: – sie deckten zu; sie halfen, förderten, spendeten mit reichlichen Händen; geleiteten die Treulosen zum Altar, und an der Schwelle ihres Hauses schieden sie von ihnen, – für immer.

Seit dieser Stunde wandeln sie ihren Pfad, einsam zu Zweien; meiden sie ein Geschlecht, dessen Nächste ihrem Glauben Hohn gesprochen. Sie forschen, sie schaffen, sie spenden und üben strenge Tugend. Ihr Haus ist ein Tempel und ein Tempel ist ihr Haus; aber sie wehren dem Danke und der Bewunderung, und niemals hat Gottes Liebe wieder zu ihnen geredet durch eines geliebten Menschen Mund.

Jene Anderen aber, jene treulosen Liebenden; ach, auch sie waren nicht glücklich. Glauben Sie mir, Renatus, sie waren es nicht; trotz ihrer Liebe, trotz äußeren Gedeihens, bei allem Segen der Familie und eines heimathlichen Heerds; die Oede der Verrathenen breitete sich über den Frieden und die Fülle ihrer Herzen. Renatus, wenn ich Sie und die Schwester, die Ihnen treu geblieben ist, im Schatten dieser Bäume auf- und niederwandeln sah, so schweigend, so wechsellos, so ohne Regung einen Tag und alle, diese fünfzig Jahre, da hätte ich mich aus meinem Fenster und zu Ihren Füßen stürzen mögen mit dem Flehen: vergieb mir und lebe auf! Wenn Sie die priesterliche Hand auf meine Kinder und Enkel legten im ersten Sacrament, wenn Sie mir das heilige Versöhnungsmahl spendeten; da zitterte meine Hand, die Ihre zu fassen und meine Seele schrie: Sprich Dich selber los als Mensch, nachdem Du mich als Priester losgesprochen. Und endlich in jenen schmerzensreichsten Stunden, als Sie den letzten Segen über die Gruft der Kinder spendeten; da flehete das Herz der Mutter: »Nimm sie, mein Gott, und den Reichthum, den du uns geraubt, lege ihn denen zu, die wir arm gemacht haben.« Heute aber, Renatus, heute, wo Dein priesterliches Wort unserm Bund, wie einst für das Leben, so für die Ewigkeit weihen, Deine Hand zum letzten Male auf meinem Haupte ruhen soll, – denn bald, morgen vielleicht, in meinem Sarge, da fühl' ich's ja nicht mehr; lege sie heute auf mich, daß ich's fühle mit einem erneuerten Herzen. Der uns erhalten, wie durch ein Wunder, so nahe einander, so ferne einander; hat er uns erhalten zu ewigem Entfremden? O, reiße die Mauer nieder, die Du um Dich und zwischen uns gezogen; sei noch einmal mein Wohlthäter, mein Bruder, liebe meine Kinder, Renatus, mache meine Sterbestunde froh!«

Sie konnte nicht weiter. Sie schluchzte wie in Krämpfen, sank zu seinen Füßen, umklammerte seine Knie. Und er?

Ich hatte alle Scheu vergessen; ich war hervorgetreten, stand dicht an seiner Seite und weinte laut. Aber er sah und hörte mich nicht.

»Magdalene!« rief er, und stürzte neben sie zu Boden und schlug mit der geballten Faust an seine Brust; »Magdalene, Schwester, Geliebte! – Ich habe meines Herrn Botschaft bis heute verkündet, ein unnützer Knecht!«

Dann aber richtete er sich auf, zog sie in die Höhe, breitete die Arme aus und hielt sie an seinem Herzen, lange schweigend, bis alles Zittern sich gelegt. Ich schlich mich ungesehen von dannen. Ehe ich die Gartenthür erreicht hatte, sah ich das alte Fräulein hereintreten, Hand in Hand mit dem Jugendfreunde. Auch ihre Augen waren geröthet. So schritten sie nach der Laube der Schuld und der Versöhnung; ich aber floh in mein Kämmerlein und lobpreisete Gott.

*


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