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Auf einem Hügel am Wege trug eine steinerne Säule die Inschrift: »Hellstädter Flur!« Heinrich stand auf der Grenze seines einstigen Territoriums; vor ihm breitete sich eine sanftanschwellende Aue, durchschnitten von dem Flüßchen, welches den großen Rose'schen Mühlwerken Triebkraft spendete. Auf der höchsten Erhebung lagen die Trümmer der alten Burg; etwas niedriger der Oberhof, – in der Gegend das Schloß genannt, – dessen Terrassen zu dem Unterhofe und den Wirthschaftsgebäuden beider Güter hinabführten. Weiterhin zog sich das Dorf, inmitten desselben die Kirche, nebst Pfarr- und Schulhaus und am äußersten Ende das Rose'sche Etablissement. Zu beiden Seiten der gepflasterten, mit Bäumen bepflanzten einzigen Dorfstraße reihten sich die Bauernhöfe, nicht zahlreich, aber wohlhäbig netteren Ansehens als man in einer Gegend gewohnt ist, deren Grund und Boden großentheils den dichtgepflanzten Edelhöfen eignet. Die Arbeiten der Ablösungscommission waren kürzlich vollendet, Aecker und Wiesen zweckmäßig zusammengelegt, Hohlwege ausgefüllt, trennende Raine und Hutungsplätze verschwunden Die Grundstücke dehnten sich in breiten Strecken, von bequemen, mit Obstbäumen eingefaßten Wegen durchschnitten. Der Boden, fast überschwer, zeigte eine gartenartige Cultur, die emporgeackerten Steine wurden von Kindern und alten Frauen in Körbe gesammelt und in den Bach getragen.
Die Freunde überschauten dieses gedeihliche Landschaftsbild von dem Uferabhang aus, der sich, saftig berast, zum Bache niedersenkte; kindliche Erinnerungen tauchten in Heinrich auf und schwellten sein Herz mit seltsamer Rührung; »Heimlust« nannte sie der Kamerad, dessen freudige Erregung sich zu naiver Begeisterung steigerte. »Ich möchte,« so rief er aus, »ich möchte wie Brutus den Boden küssen, der Deinen Vätern zu eigen gewesen ist, der einst Dein sein wird, mein Heinrich, und in unausdenkbarer Folge Deine Söhne beglücken soll. Nur ein Heimathloser wie ich faßt den Segen dieser dauernden Einrichtungen. Ich sehe ein Heiligthum darin und schlechthin hassen möchte ich die Neuerer, welche auch diesen letzten festen Bestand dem Rollen des Tages überantworten wollen«
»Seltsam,« entgegnete Heinrich, »daß just im Augenblicke die Kehrseite dieser Bevorzugungen mir zum erstenmale vor die Seele trat! Mit welcher Empfindung muß Vetter Stephan die Stätte seines Fleißes betrachten, auf welcher sein einziges Kind eine Ausgestoßene sein wird? oder meine Schwester, die, – ich weiß es nicht! – arm sein kann und eines Tages von dem reichen Erben ihres Vaters, und wäre es ihr Bruder, das Gnadenbrod annehmen müßte. – Auch Mißstände für die Cultur im Allgemeinen schweben bei einer in solchem Falle naturgemäß eigensüchtigen Verwaltung mir vor. Giebt es denn nirgend eine Dauer, als die auf beschränkende Vorrechte begründet ist?«
Die Mittagssonne brannte sommerlich warm. Die Wanderer hatten sich auf einer Bank niedergelassen, welche zur Hälfte von einer Tannenhecke umgeben, beim ersten Schritte auf Hellstädter Grund zu einem ruhigen Ueberblick einlud. Dicht in ihrer Nähe stand der Stumpf einer Windmühle, gleich einer Warte die Gegend überragend, das hölzerne Flügelwerk war ver fallen; der steinerne Unterbau hatte eine Art häuslichen Ansehens bewahrt, und auf ihrer Schwelle saß, den Freunden den Rücken zukehrend, der alte Gänsehirt. Seine gefiederte Schaar, von einem kleinen, gelben Dachshunde bewacht, weidete am Uferhang und watschelte im Bach.
»Pathe Klaus!« unterbrach bei seinem Anblick der junge Mann seine Rede. Er war im Begriff, den Alten zu begrüßen, als auf raschem Roß ein Reiter von der Stadtseite dahersprengte, ohne die von der Hecke gedeckten Wanderer zu bemerken.
«Libertens Vater, Rose!« flüsterte Heinrich dem Freunde zu. – »Wie doch die alten, vergessenen Heimathsgestalten so rasch in meinem Gedächtnisse aufleben!«
»Der ein Müller?« fragte Stern verwundert. »So hager, gelb, schnurrbärtig, unruhig flackernd hätte ich mir eher den Bankhalter in einem Modebade vorgestellt.«
»Sie gleichen ihm auch,« versetzte Hellstädt. »Und sind sie denn nicht seines Gleichen? Sind Spieler wie er, wagen und wägen den Zufall und das Glück?«
»Die Frage wäre nur: hat ein leidenschaftliches Grundwesen den Bauer zum Spieler gemacht? oder hat das ausartende Gewerbe ihm einen fremdartigen Typus aufgeprägt?«
»Beides wahrscheinlich, das erstere zumeist. Natur und Wille vereint machen ja wohl überall den Menschen. Aber sieh doch, Conrad! Pathe Klaus hat sich gewendet. Gleich am Gränzpfahl ein zweites Hellstädter Charakterbild! Ist Dir schon ein Gänsehirt vorgekommen, der das eiserne Kreuz auf seinem Schafpelze trägt?«
Der Vollblutreiter hatte, wie sich besinnend, den Lauf seines Rosses gehemmt, und war in ruhigem Tempo den Uferhang zur Mühle hinangeritten. »Morgenroth, Klaus!« fragte er vom Pferde herab den Veteranen. »'s giebt noch Frost, he?«
»Ein Donnerwetter giebt's!« knurrte der Alte mit hämischer Grimasse.
»Die Sonne hat an Lichtmeß geschienen; das bedeutet einen Nachwinter.«
»Einen Bettelmann bedeutet's, wenn dem Bauer von einem Bauer nichts als der Aberglaube übrig bleibt.«
Der Reiter wendete zornig sein Pferd und sprengte in die Dorfstraße hinab. Der Gänsehirt hatte sich in die Höhe gerichtet. Er trug einen Stelzfuß und ihm fehlte die rechte Hand. Mit der linken schwenkte er seine Pudelmütze und schrie dem Davoneilenden nach: »Ein Donnerwetter giebt's, Herr Fabrikant! Die Saaten sprießen und die Oelpreise sinken. Prosit die Mahlzeit, Herr Fabrikant!«
Der Reiter schaute sich nicht um. Im Jagen hätte er um ein Haar ein junges Frauenzimmer überrannt, das die Anhöhe hinangestiegen kam. »Hallunke!« schrie aus vollem Halse der Gänsehirt ihm nach, mit geballter Faust seinen einen Arm in die Höhe reckend.
»Warum schimpfst Du den Mann, der Dir freundlich zugesprochen hat, Pathe?« fragte mit ruhigem Vorwurf das junge Mädchen, das einen schweren Korb am Arm, in diesem Augenblick vor der Mühle erschien.
»Freundlich zugesprochen?« versetzte noch immer giftig der Alte, indem er ausspuckte und mit der Hand drei Kreuze in der Luft beschrieb. »Ei Du Erzschinderknecht! Frieren soll's, dieser Gottessegen erfrieren! Nur daß die Früchte steigen, die er gekauft hat und nicht bezahlt, der Wucherschlund! Die Armuth mag hungern und im Finstern tappen, wenn ihm nur Geld und wieder Geld in die leeren Oeltonnen strömt.«
»Das verstehe ich nicht, Pathe Klaus,« sagte das Mädchen.
»Sollst's auch nicht verstehen, Goldkind,« entgegnete allmälig besänftigt der Invalid. »Aber erleben wirst Du's, erleben am Ende schon morgenden Tags. Der Streich bricht ihm den Hals. Was wäre das für ein Herrgott, der sich von solchem Ungeziefer in's Handwerk pfuschen ließe? Nun aber, Gott grüße Dich, Pathe Charitas.«
»Charitas!« rief Heinrich. Beide Freunde sprangen von ihren Sitzen in die Höhe und beugten sich vor, das junge Mädchen in Augenschein zu nehmen. Wären Pathe und Pathin nicht so emsig miteinander beschäftigt gewesen, hätten die Lauscher nicht unbemerkt bleiben können.
Charitas, die im Schatten der Mühle den groben, runden Strohhut vom Kopfe genommen hatte, leerte, ohne weiter ein Wort auf die Anklagen des Alten zu erwidern, ihren Henkelkorb, stellte eine Mittagsschüssel auf der Schwelle zurecht, schnitt Fleisch und Brod in mundrechte Stücke und füllte den Bierkrug; dann setzte sie sich neben den Gänsehirten und schaute, während er nach Bauernart schweigend in langsamen Zügen und Bissen das Mahl zu sich nahm, still mit stätigem Blick in die Landschaft.
Die Freunde waren auf ihren Platz zurückgekehrt. Stern sagte: »Das ist so wenig die Bäuerin, welche ich halb und halb vermuthet hatte, als jener Reiter ein Bauer war. Freilich auch kein Weltkind, wie dieses Mannes Tochter. Mir ist ganz feierlich zu Sinne geworden, Heinrich. Fallen auch Dir nicht urewige Bilder bei diesem Anblick ein? Die den Knecht tränkende Tochter Bethuels, der göttliche Sauhirt und seine Königin! Diese markige jungfräuliche Gestalt, die gelassene Sicherheit, als sie vor dem Huf des Pferdes zur Seite wich; das breite dunkle Auge voll Treue!«
Heinrich nickte zustimmend. »Liberte hatte recht, sie ist in ihrer Art wirklich eine Schönheit, Mühmchen Charitas,« meinte er.
»Sage, sie ist ein Ideal!« rief Stern begeistert. »Und hörtest Du die herzige Melodie der Stimme? Unvergeßlich wird das schlichte Wort vor meinem Ohre klingen.«
»Arme Therese!« neckte Heinrich mit dem Finger drohend.
»Therese!« entgegnete der Andere, »ach, laß den Scherz, Heinrich! Du thust mir weh!«
»Weh? Warum nicht lieber wohl, närrischer Ge sell? Warum soll des Freundes Schwester Dir nicht ein wenig werth werden, Conrad?«
»Sie ist mir werth, Du weißt es; sie wird es mir bleiben wie nie eine Andere; ich fühle es. Sie war mein tröstender Engel in trostlosen Stunden. – Aber lassen wir das, Heinrich, ich bitte Dich.«
»Mit nichten, Freund. Lassen wir es einmal nicht. Kommen wir hier an der Grenze zum Abschluß auch über diesen heimlichen Punkt. Du nahmst Theil an ihr, sie an Dir, ehe Ihr Euch kanntet. Die Sympathie des Mitleids spann ein Fädchen über die Straße hinüber und herüber. Nun sollt Ihr Euch Aug' in Auge treten. Bleibt's beim Mitleid: gut; so hast Du des Freundes Schwester, sie hat des Bruders Freund kennen gelernt; ein Gewinn bleibt's immer. Wird mehr daraus – –«
»Heinrich!« stammelte Stern überflammt.
»Wird mehr daraus: auch gut; besser. Ihr liebt Euch, wartet ein Weilchen, wenn's also sein muß, und schließlich heirathet Ihr Euch.«
»Aber Heinrich – –«
»Still! Ich habe mir den kleinen Roman in den Kopf gesetzt. Schlage ein, Bruder in spe! Und kein Wort weiter über die Sache.«
»Nie ein Wort wieder!« sagte Stern sehr ernst, indem er seine Hand in die des Freundes legte. Sie richteten nun ihre Blicke nach der Gruppe vor der Mühle zurück.
Der Invalide hatte sein Mahl beendet, das junge Mädchen sich erhoben, den Hut wieder ausgesetzt und das Geräth eingepackt. »Du kommst doch heute Abend, Pathe Klaus?« fragte sie freundlich, indem sie sich zum Heimgang wendete. »Es giebt einen Spaß. Sie rücken uns den Tisch in's neue Haus«
»Unter einem Dach mit dem Müllerhund?« knurrte der Gänsehirt. »Nein Pathe, nein.« Doch mußte die Einladung wohl mächtig locken, denn er kratzte sich mit seiner einen Hand eine lange Weile im Kopf und da die Einladerin geduldig wartete, gab er ein besseres Besinnen ruckweise kund. »Wer weiß auch, ob der heute noch Laune hat für einen Bauernspaß; – und wenn auch, – ich komme, Charitas, ich komme doch.«
»Und kein Freudenstörer, Pathe!«
»Wenn die Laus mir nicht über die Leber läuft, – nein, nein, Pathenlaune, Kind. Und warte Kind. Weil ich kein Menschentractament mitzubringen habe, nimm das und brühe Deinen Gänsen einen Schmaus; die ersten im Jahre; zart wie Salat!« Er arbeitete bei diesen Worten die Hand in einen Fausthandschuh und drückte ein Bündel frischgepflückter Brennnesseln in den Korb, während der Zeit und noch eine Weile, nachdem das junge Mädchen den Rückweg angetreten hatte, sich in folgender Tischrede ergehend: »Jedwedem sein Vogel, Pathe; dem Adel der Adler, der hochfliegt und raubt. Uns Bauern die Gans! Schmeckt gut; – giebt Ehebetten, nimmt Nesseln für Leckerbissen. Und höre, Pathe: die Nesseln und die Klause, die sind so ein Gewächs. Stechen die feinen Zungen, aber den Ochsen und den Gänsen, denen munden sie. Und brauchen kein Beet und keinen Dung. Paradiren zwischen Steinen und Schutt, wie Salomo in seiner Herrlichkeit. Die Nesseln und die Klause, das sind die Reichen auf der Welt; die haben überall genug. Und merke Dir's, Gotteskind, verachte nimmer ein Gottesgewächs; das schlechteste nährt noch, oder es sticht. Ich komme, Pathe, ich komme! Zum Henker mit dem Schuft!«
Und nachdem er diese Rede vollendet, streckte er sich zum Mittagsschlaf auf den Rasen, mit der Steinschwelle als Pfühl. Kaum zwei Minuten und die Freunde hörten ihn schnarchen wie einen Ratz.
»Ein närrischer Kauz,« sagte lachend Stern. »Wahrhaftig, in die Winkel muß man kriechen, wenn man noch Naturen finden will. Aber warum heißt er der Pathe?«
»Ich weiß es nicht,« antwortete Heinrich. »Wir werden seine Bekanntschaft ja noch machen und es erfahren. Jetzt laß uns gehen. Ich spüre einen heimathlichen Hunger. Schon als ich ein Kind war, saß der Alte in Schafspelz und Ordenskreuz auf dieser Schwelle und hieß nicht anders als der Pathe Klaus.«
Sie folgten eine Weile dem jungen Mädchen, wie es in seiner ruhigen Weise und der schlichten, aber nicht bäuerischen Tracht, längs des Weidensaumes am Bache hinschritt; dann stiegen sie wieder aufwärts und traten bald durch eine offenstehende Pforte in den Garten des Oberhofs.
Der Garten des Oberhofs hatte bessere Tage gesehen, selber zu Heinrichs Kinderzeit noch, wo er der Schloßgarten hieß und an den ursprünglichen Lustgarten von Hellstädt wenigstens erinnerte Die Veränderung seitdem war groß. Die kunstvollen Wände von Bux und Taxus, den Hauptweg entlang, unterschieden sich wenig mehr von gemeinen Hecken; die grünen Pyramiden drohten wieder Bäume zu werden; in den Bassins der einstigen Fontainen sammelte sich nur noch das Regenwasser, und die dünnbeinigen Nymphen oder dickbäckigen Liebesgötter aus Blech und Sandstein, sonst in lauschige Gruppen vertheilt ohne Zweifel die Kunstbildung von Hellstädt und Umgegend wesentlich fördernd, sie standen heute in Reih und Glied wie ein Bataillon längs der Schattenseite der grünen Wände aufmarschirt. Was heute im Garten des Oberhofs gefördert wird, das kann im Sommer auf den Rabatten zu erlesen sein, die zur Stunde umgegraben, gehackt, mit Bohnen und Erbsen besäet werden, oder an den Spalieren, die auf der Sonnenseite der Wände dicke Knospen treiben.
Würdiger conservirt präsentirte sich das Schloß; das, seitdem es unbewohnt war, sich dem Namen nach in den Oberhof umgewandelt hatte. Zwar blickten die Scheiben der Geschosse blind und trübe; an den steinernen Ornamenten zwischen Fenstern und Thüren war mancher Schnörkel, den die Altane tragenden Karyatiden manche Nase abgebrochen, die beim Abputz – einfach bekalkt worden waren; in Dach und Mauerwerk jedoch stand der Bau vor dem Ruin durch das Wetter geschützt, so daß er, wenn beliebt, zwar nicht als ein Palast, aber als räumliches Familienhaus ohne Lebensgefahr bezogen werden durfte.
Welch ein Umschlag nun aber, als die Freunde, die Terrassen herab, den umfänglichen Wirthschaftshof betraten. Die Baulichkeiten beider Güter, die von Schloß- und Kriegszeiten her arg versäumt und beschädigt, worden waren, standen im Geviert neu und dauerhaft aufgerichtet; eine mustergültige Sauberkeit herrschte; der alte Unterhof, in Heinrichs Erinnerung noch ein halbwüstes Rattennest, war in einen Kuhstall umgewandelt und auch das Pächterhaus, in welchem man Vetter Stephan den ersten Besuch zugedacht hatte, unbewohnt. Maurer und Zimmerleute waren mit Reparaturen, Knechte und Mägde beschäftigt, die letzten Mobilien nach einem kleinen neuerrichteten Hause zu übersiedeln, das außerhalb des Gehöfts den Anfang der Dorfstraße bildete.
Unter dem Thor hielten die Freunde eine Weile inne. Ihre Blicke schweiften noch einmal beifällig vom Hof zum Schloß und von dort in den Hof zurück. Stern rief mit warmer Herzensfreude aus: »Deinen Vetter Stephan, mein Heinrich, den kenne ich nun schon. Ein Stamm- und Treuhalter, für den die Steine reden!«
Der Erbe von Hellstädt gab schweigend ein Zeichen der Zustimmung; vieldeutige Rückgedanken waren in ihm angeregt.
Da die ländliche Mittagsstunde längst vorüber war, schritten sie aus dem Thor, um in der Schenke einen Imbiß zu nehmen und Weisung für ihr nachfolgendes Gepäck zu geben. Am Nachmittag sollten dann die befreundeten Familien ausgesucht und zugeschaut werden, wo sich für ein paar Wochen am schicklichsten herbergen ließ.
Die nächsten Schritte führten sie vor dem schon erwähnten kleinen Hause vorüber, das sich von den besseren Bauernhäusern nur durch etwas höhere Fenster und Thüren und durch eine nach dem Vorgärtchen offene, mit Sitzplätzen ausgestattete Halle hervorthat. Die Wirthschaftsbauten lagen rückwärts, von einem umfänglichen Nutzgarten umgeben. Auf den Rabatten des kleinen Vorplatzes blühten die ersten Crocus und Primel, ein knospender Hollunderzaun friedigte ihn ein und eine alte Linde vor der Halle verhieß erquickenden Schatten gegen die mittägige Sommersonne. Das nur einstöckige Häuschen trug ein säuberlich unberührtes Angesicht, wenngleich die noch mit Stroh umhüllten Weinstöcke vor der Straßenfront, wie auch eine mit Schieferplatten auf dem rothen Ziegeldach markirte Jahreszahl einen mehrjährigen Bestand bekundeten.
»Solch ein bescheidenes Heimwesen ist das geträumte Paradies meines ganzen Lebens,« rief Stern seltsam bewegt, »ich tauschte Deinen vornehmen Oberhof, Freund, nicht für dasselbe ein.«
»Charitas!« unterbrach ihn Heinrich, auf die Halle deutend, welche in diesem Augenblicke das junge Mädchen betrat, dessen Bekanntschaft sie vor Pathe Klausens Warte gemacht hatten. Sie stützte eine halbgelähmte alte Frau in bäuerlicher Tracht, rückte einen Sorgenstuhl in den wärmenden Sonnenschein und ließ sie behutsam darauf nieder; dann schob sie einen Schemel unter ihre Füße, hüllte sie in schneereine Wollendecken, alles mit der stillen, liebreichen Art, die ihrem Namen Ehre machte. »Ruth und Naemi!« flüsterte Stern gerührt.
Kaum zwanzig Schritte von der Gruppe in der Halle entfernt, konnten die Freunde den Blicken des Mädchens nicht lange entgehn; freundlich nickend stieg sie mit rascherer Bewegung als sonst die Stufen nieder. »Willkommen, Vetter Heinrich!« rief sie Stern entgegen, den sie, nach seinem Militairanzug für den er warteten Verwandten hielt. Kaum aber hatte sie ihn näher in's Auge gefaßt, zog sie die für ihn ausgestreckte Hand zurück, um sie dem wirklichen Vetter im grünen Jagdkleide zu reichen.
»Erkennst Du mich wieder, Mühmchen Charitas?« fragte Heinrich erfreut.
Sie nickte und antwortete lächelnd: »Du siehst ja ganz noch so aus wie der gute Heinrich von sonst.«
Sie nöthigte zur Einkehr und man folgte ihr gern. »Großmutter,« rief sie der alten Bäuerin in's Ohr, »Großmutter, Vetter Heinrich ist gekommen und sein Freund.«
»Sie erwarten Euch drunten in der Mühle,« sagte die Großmutter, beiden treuherzig die Hand bietend. »Aber Ihr nehmt fürwillen in der Freundschaft, junge Herren, gelt?«
Das häusliche Mittagsmahl war längst vorüber; aber Charitas ordnete alsobald den Tisch zum zweiten Mal und belud ihn mit Rauchfleisch, Eiern, Milch und Obst, die dickbäuchige Kaffeekanne nicht zu vergessen. Eben stieg sie mit etlichen Weinflaschen aus dem Keller herauf, als der Vater eintrat, nach dem sie in den Gutshof geschickt hatte.
Vetter Stephan glich fast unverändert dem Bilde, das Heinrich aus seinen Knabenjahren bewahrt, Stern aus dem Stegreife sich von ihm entworfen hatte. Schlicht, bieder, klug wie der beste Bauer; aber beileibe nicht blos und zuerst ein Bauer. Die geläufige Ausdrucksweise, wie das schwarze Sammetkäppchen auf dem noch wenig verfärbten Haar, erinnerten an den einstigen Magister, der heitersichere Tact an den Zögling und die Race der Hellstädt.
Gruß und Handschlag wurden gewechselt, väterlich warm von Stephans Seite auch gegen den fremden Kameraden, das Unterkommen der Gäste darauf in Betracht gezogen. Stephan entschied weder für die Mühle, noch für sein eigenes Haus: »Ihr wohnt auf dem Oberhof,« sagte er. »Die Zimmer, in denen Du ein Kind warst, Heinrich, stehen zu Deiner Aufnahme bereit. Dort bist Du in dem Deinen und Dein eigner Herr. Die Tage verbringt Ihr wie und wo es Euch beliebt, bei den Roses, oder bei uns. Ihr seid uns Allen gern gesehene Gäste.«
Als Heinrich darauf seine Verwunderung aussprach, die Familie in neuen Umgebungen anzutreffen, erklärte Stephan: »Das Wirthschaftshaus mußte für den neuen Pächter in Stand gesetzt werden. Hat's mit dem Wechsel auch noch bis Neujahr Zeit, die Arbeit geschieht um so gründlicher. Den Unterhof habe ich eingehen lassen; der Herr, welchem er nach meinem Tode zufallen wird, hat im Oberhof Raum mehr denn genug. Dies Haus ist meiner Tochter als Auszug hergerichtet. An ihrem Einsegnungstage vor vier Jahren wurde der Grundstein gelegt; heute am selbigen Datum werden wir zum ersten Male unter seinem Dache ruhn.«
Man hatte während dieser Reden Platz um die Tafel genommen. Der Hauswirth entkorkte eine Flasche und trank seinen Gästen ein herzliches Willkommen in der Heimath von Hellstädt zu. Nach der gesegneten Mahlzeit wurde zur Mühle aufgebrochen; Charitas, die sich gefällig von ihren den Tisch rückenden Gästen überraschen lassen wollte, begleitete die Freunde. Sie trug das nämliche blaue Wollenkleid wie am Morgen; einfach, aber paßlich gearbeitet, zeichnete es die kräftigen Umrisse der hohen Gestalt ohne Zwang; das dunkle Haar, schlicht gescheitelt, war am Hinterkopf in einen Kranz gewunden, der schwarze Strohhut war der Visite zu Ehren mit einem weißen vertauscht, Fuß- und Handbekleidung zwar nicht zierlich, aber untadelig sauber; das Ensemble anspruchslos, aber nicht ärmlich und unzusammengehörig wie das der guten Therese, als der Bruder sie neulich unter die Augen der reichen Leute führte.
Mit jedem Schritte durch die Dorfstraße wachten Scenen der Kindheit in Heinrichs Erinnerung auf. Hier war er beim Schlittern in den Entenpfuhl gebrochen; dort auf dem Anger zur Rechten hatte er mit den Bauernjungen im Sack gehüpft, ein andermal, mit den Großen um die Wette, nach dem Vogel geschossen, dann, der flinkste von Allen, sich an der glatten Kletterstange in die Höhe gewunden und das buntblitzende Band heruntergerissen, das er zu Libertens Aerger nicht ihr, sondern Mühmchen Charitas verehrte. Weiter unten, auf leiser Anhöhe, lag die Kirche, umgeben vom Friedhof, auf dem er, die kleine Charitas an der Hand, am offenen Grabe der guten Mutter Grete geweint hatte. Sie bogen ein und weilten etliche Minuten mit gefalteten Händen vor der Ruhestätte der Hellstädt, auf welcher die ersten Frühlingsblumen blühten. Stern, der schweigend neben den Verwandten ging, bemerkte mit Antheil die sorgfältige Umhegung, die sauberen Wege und die liebreiche Ausschmückung dieses sonsthin von Bauern vernachlässigten, in seiner ärmeren Heimathsgegend wohl gar als Hütung benutzten letzten Erdenplatzes. Stephan Hellstädts veredelnder Einfluß konnte ihm auch hier nicht entgehen.
Als sie in die Straße zurückgelenkt waren, sagte Heinrich: »Alles das hatte ich so gut wie vergessen, und nun ist mir's plötzlich, als wäre ich immer hier gewesen. Bist Du niemals aus Hellstädt gekommen, liebe Charitas?«
»Nur auf Stunden,« antwortete sie.
»Und hast Dich niemals herausgesehnt?«
»Niemals. Als Liberte in die Anstalt gebracht wurde, fragte mich der Vater, ob ich auch in der Stadt zu lernen wünsche, was man in Städten zu wissen braucht. Aber ich dankte ihm und bat ihn, mich zu lassen wo ich glücklich war.«
»Und der Vater?«
»Freute sich darüber, kaufte das Grundstück und baute das Haus, in dem ich so lange ich lebe mein Eignes haben soll.«
»So lange Du lebst?« entgegnete Heinrich lachend. »Du wirst ja doch einmal heirathen, Mühmchen, und außerhalb Hellstädt Dein Eignes haben.«
»Das glaube ich nicht,« versetzte sie ruhig.
An Pfarre und Schulhaus vorüber, gingen sie, von immer neuen Erinnerungen begleitet, eine Strecke längs des Baches auf einem saftigen Wiesengrunde, bis endlich das Mühlgut vor ihnen lag.
»Die alte Windmühle hätte ich freilich nicht wieder erkannt,« sagte Heinrich, indem er stehen blieb und die weitläufigen Fabrikgebäude neben dem stattlichen Wohnhause musterte. »Alles ist neu geworden, herrschaftlich wie ein Edelhof.«
»Aber Keinem die alte Heimath geblieben,« entgegnete Charitas.
Die jugendliche Mühlengesellschaft saß um den Kaffeetisch; die Gäste wurden auf das Heiterste empfangen, von der schönen Oelgräfin mit einem Erröthen, welches der Erbe von Hellstädt nicht mißdeuten konnte. Vater und Tante waren nicht gegenwärtig, dahingegen hatte sich ein anderer, wenn auch selbst nicht eben mehr jugendlicher Gast der munteren Jugend zugesellt, Herr Edmund von Speck, dessen prachtvoller Kamelienstrauß dem Leser bereits unterbreitet worden ist. War die Baronie des galanten Herrn auch neusten Datums, sein Ledergeschäft rentirte mehr als ein Dutzend Edelhöfe, und das höfliche Entgegenneigen von Kinn und Nase bekundete die Ableitung von einer Aristokratie, mit welcher keine andere sich an Datum messen darf. Da Herr von Speck indessen nicht das Interesse einer Specialität beanspruchen darf, trotz seiner zuversichtlichen Umhuldigung eines hellstädter Kindes, zur Stunde auch noch nicht festen Fuß in der Gemeinde von Hellstädt gefaßt hat, möge es mit seiner Vorführung ein Bewenden haben.
Herr Rose, längst verwittwet, führte, so oft er in seiner Fabrik anwesend war, ein seinen äußerst mäßigen persönlichen Bedürfnissen entsprechendes Junggesellenleben, daher die innere Einrichtung seines Hauses denn auch nicht annähernd den Trumpf'schen Comfort in der Residenz erreichte. Indessen hatten die Damen seit der Zeit ihrer Einkehr bereits hinlängliches Behagen um sich zu schaffen gewußt, und so fanden die Freunde sich bald allerseits wohl versorgt, dem Caffeekreise eingereiht. Fräulein Liberte bereitete einen neuen Aufguß von allerdings kräftigerem Arom als der, an welchem man sich in Vetter Stephans Hause restaurirt hatte; in heiterem Geplauder schied sich die Gesellschaft unmerklich in zwei Gruppen, deren eine Liberte mit ihren beiden Verehrern, die andere Herr von Stern mit Therese und Charitas bildete. Rose junior amüsirte sich und die Anderen auf eigne Hand, deklamirte, sang, spielte den Flügel, witzelte, erzählte Anekdoten, ganz in der Art wie Tante Rosanna es neulich als eines Gentlemans unziemlich beseufzt hatte.
Eine Stunde mochte auf diese Weise vergangen sein, als das ältere Geschwisterpaar in das Zimmer trat; der reiche Mann, eine Geschäftswolke über den tief eingesunkenen Augen, eine Sorgenfurche auf der hohen kahlen Stirn, noch bleicher als die Freunde ihn am Morgen, aus der Stadt heimkehrend, gesehen hatten; die vornehme Frau merkbar echauffirt, eine starke Schattirung röther als romantisch und nicht ohne Effort vor ihren residenzlichen Gästen sich in residenzlichen Gleichmuth zurückversetzend. Als Heinrich sein Unterkommen in dem heimischen Oberhof erwähnte, beklagten Tante und Nichte die verschmähte Gastfreundschaft; der Hausherr, überhaupt wortkarg, erwiderte nichts; doch blitzte, vielleicht zufällig, ein Ausdruck momentaner Befriedigung in seinen Augen auf; unverkennbar widmete er seine Aufmerksamkeit mehr dem neu- als dem altritterlichen Aspiranten auf die schöne Hand seiner Tochter.
Die Unterhaltung hatte einen beklommenen Ton angenommen; zu allseitigem Behagen währte sie nur kurze Zeit; es dämmerte bereits, die Jugend erhob sich zum Aufbruch.
»Wir begleiten Sie,« sagte Liberte. »Wozu es länger geheim halten, Charitas? wir rücken Euch den Tisch. Kommt's Euch ungelegen, Ihr müßt's Euch gefallen lassen. Auf dem Lande feiert man die Feste wie sie fallen.«
»Wir freuen uns darauf,« erwiderte Charitas, und sie gingen.
»Ich komme wohl auch noch ein Viertelstündchen,« lispelte Frau Rosanna, ehe sie in ihre Privatgemächer verschwand. Auch Herr von Speck zog sich zurück, um Abendtoilette zu machen.
Vater und Sohn waren allein im Wohnzimmer zurückgeblieben »Ihr reist noch in der Nacht, Alter?« fragte Herr Gustav.
»Jenachdem,« antwortete der Müller.
»Nun für den Fall: Addio gleich jetzt. Ich halt's hier unten nicht länger aus. Morgen früh rutsch' ich ab.«
»Und unser Uebereinkommen, Gustav?«
»Unsinn, Papa.«
»Ich habe Dein Wort.«
»Warum nicht? 's wird mir nicht schwer werden, es zu halten.«
»Das Mädchen gefällt Dir?«
»Noch einmal: warum nicht? Sie ist schön. Styl nennen wir Künstler das, Papachen. Alle Wetter! meine Herrn Maler würden Augen machen, wenn ich auf einmal mit diesem Model zwischen ihre Modepuppen führe.«
»Nun denn?«
»Sie nimmt mich nicht. Sie geht nicht aus Hellstädt.«
»Um so besser, so bleibst Du hier.«
»Was soll ich hier, Herr Papa?«
»Arbeiten, die Fabrik übernehmen. Die Beamtencarriere lag nie in meinem Sinn.«
»Bei Gott! in dem meinigen auch nicht.«
»So werd' ich noch heute Abend mit dem Vater sprechen.«
»Meinethalben. 's kommt mir auf einen Korb nicht an.«
Damit sprang er in großen Sätzen der vorangegangenen Gesellschaft nach.
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