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Zweites Capitel.
Der Vater.

Recht, daß Du kommst, mein Junge!« rief ihm der Baron entgegen. »Laß heute den Kameradentisch und dinire mit mir beim Restaurant. Alte Freunde, Nachbarn von Hellstädt, sind nach der Stadt gekommen und meine Gäste. Die biderben Krautjunker werden ihre Freude an Dir haben, Herzensheinz!«

Heinrich reichte dem Vater zustimmend die Hand; sein Auge ruhte mit Wohlgefallen auf dessen noch immer tadellos schöner Gestalt. Ein Cavalier der alten Schule, mit deren aufrechter, aber biegsamer Haltung, mit freiem Blick und schneeweißem Lockenhaar über der hohen klaren Stirn; mit dem treuherzig klingenden, immer verbindlichen, wenn auch zugespitzten Wort; dem Hofleben nicht fremd, doch nicht darin verwebt, wenig auf Ansehen und Ehrenbezeugung bedacht, aber zustimmenden Beifalls sich bewußt; lebend und lebenlassend, zwanglos und sorglos, ein ächter Hellstädt, – der Vater des Sohnes!

»So komm', mein Junge!« rief der alte Herr – schon unter der Thür.

»Im Moment, Papa!« antwortete Heinrich. »Nur zuvor ein kleines Anliegen, das keinen Aufschub leidet.«

»Eh bien?«

»Ich brauche Geld.«

»Geld? Sapristi! morgen, übermorgen, Heinz.«

»Ich muß es heute haben, Vater.«

»Heute? Unmöglich!«

»Ein Darlehn, das Du mir von der Zulage abziehen magst.«

»Darlehn? Abziehen? Sind wir Juden, Junge?«

»Also geschenkt! Desto besser und schön Dank. Aber bald, Papa!«

»Nur nicht heute und morgen.«

»Blos zweihundert Thaler –«

»Nicht zweihundert Groschen! Dort meine Cassette. Ueberzeuge Dich selbst.«

Heinrich unterließ es, sich selbst zu überzeugen, aber ein Schatten von Zweifel überlief seine bis dahin so unbedenklichen Züge. Der Vater bemerkte es. »Hilf Dir auf ein paar Tage, mein Junge,« sagte er, »nur auf ein paar Tage.«

»Und in ein paar Tagen, Vater –?«

»Helfe ich. Vetter Stephan's Pachtgelder, – mein Banquier, – mein Geschäftsführer, – aber komm', Heinrich; es ist hohe Zeit; unsere Junker werden Hunger haben.«

Sie gingen. Der alte Herr in völliger Unbefangenheit. Er plauderte, scherzte, grüßte, wechselte einen Blick, ein Wort, einen Händedruck nach rechts und links; bemerkte jede neue Ausstellung an den Schaufenstern der Hauptstraße, deren Baumreihen in diesen Tagen des Vorfrühlings noch unbelaubt standen, auf deren Trottoir aber Winters wie Sommers der alte, stattliche Baron mit den weißen Locken und dem achtzackigen, weißen Kreuz auf dem jagdgrünen Rock eine wohlbekannte Erscheinung war.

Sein Sohn dahingegen blieb, der väterlichen frohen Laune zum Trotz so einsilbig gedankenvoll, daß der Baron sich plötzlich mit dem Vorschlage an ihn richtete:

»Du solltest Dich wegen der Kleinigkeit an Deine Mutter wenden, Heinrich.«

»An die Mutter?« rief Heinrich betroffen.

»Warum nicht? Sie war niemals ohne einen baaren Vorrath und wird ihre Liebhaberei, die sie, wie alle Weiber ihren Grundsatz nennt, nicht geändert haben.«

Ein Einwand, der auf Heinrichs Lippen schwebte, wurde durch die väterliche Begrüßung eines Arm in Arm flanirenden jungen Paares zurückgehalten.

»Ah, unsere schöne Landsmännin!« rief der alte Herr der Dame entgegen, und indem er ihr herzlich die Hand schüttelte, setzte er hinzu: »Hat mein Sohn den Vorzug Ihrer Bekanntschaft, Gnädige?«

Die schwarzäugige, nach der pikantesten Mode gekleidete Schöne wiegte mit verneinendem Lächeln das Köpfchen, während eine jählings höhere Schattirung der blühenden Wangen dieses Läugnen Lügen strafte und mindestens eine officiöse Bekanntschaft vermuthen ließ, »Fräulein Liberta Rosa,« sagte nun vorstellend der alte Herr, indem er in einem galanten Impromptü auf die liebliche Harmonie zwischen Namen und Trägerin deutete. Dann zu dem Begleiter der Dame gewendet: »Herr Referendarius Gustav Rose, alte Kindheitsfreunde aus Hellstädt, lieber Heinrich,« setzte er hinzu.

Die anmuthige Begegnung verscheuchte schnell die Wolken von des jungen Mannes Stirn. Während der Baron zutraulich seinen Arm in den des Bruders legte, hielt er sich an der Seite der Schwester, bekannte ihr das Vergnügen, aus seiner neulichen interessanten Logennachbarin die kleine ländliche Jugendgespielin sich entpuppen zu sehen und hörte mit nicht minderem Vergnügen, daß sie auf den ersten Blick den blondlockigen, freundlichen Knaben im Manne wiedererkannt habe. Unter unbefangenem Geplauder erreichten sie den Eingang der Restauration und trennten sich mit dem allseitigen Wunsche baldigen Wiedersehens.

»Das wäre eine Partie für Dich, Heinz« sagte der L Vater, als sie die Treppe zu dem reservirten Speisekabinet hinanstiegen.

»Die hübsche Müllerin!« – entgegnete Heinrich lachend.

»Die schöne Oelgräfin!« verbesserte gleichfalls lachend der Baron. »Fi donc, Vorurtheile, Heinz!«

Heinrich war sich keiner Vorurtheile bewußt; allerdings auch nicht ihres Gegentheils. Er hatte sonder Kritik derartige materiell kräftigende Mesalliancen in kameradschaftlichen Kreisen sich vollziehen sehen, an eine eigne Verbindung aus irgend welchem Beweggrunde aber noch niemals gedacht. Im Munde seines Vaters indessen überraschte ihn dieser Liberalismus; er blickte dem alten Herrn zweifelhaft in's Gesicht und dieser erwiderte auf seine stumme Replik:

»Reines Blut, zweiunddreißig Hellstädt'sche Quartiere, am Ende gar ein Grafenkrönchen in den Kauf – à la bonheur, Heinz! Aber diese Blitzaugen und Rose's Dukatenrollen, – wären sie auch aus Rübsamen destillirt, – der Gusto ändert sich, mein Junge, und wenn der nervus rerum im ersten Stande stockt, muß er sich aus dem dritten frische Säfte saugen, oder in den vierten zurücktreten und wieder Bauer werden wie Ehren Stephan, unser Dungphilosoph.«

Einer der Gäste überholte sie; sie traten in das Kabinet; die ländlichen Freunde sammelten sich. Begrüßungen, Vorstellungen, Händedrücken, munteres Willkommen! In Kurzem saß man um den einladend servirten, runden Tisch; eine Flasche nach der anderen entstieg den blinkenden Kühlern; schäumende Gläser, schüpfende Austern, duftige Saucen, Toast auf Toast. Es gab keinen anregenderen, aufmerksameren Wirth als den alten Baron Hellstädt, ob Diplomaten oder Kammerherrn, gefeierte Künstler und Künstlerinnen, ob biderbe Junker vom Lande seine Gäste waren: der Gentleman, oder wie er selber, seiner Zeit gemäß, sich nannte der gentilhomme par excellence!

Sein Sohn jedoch war der munteren Unterhaltung zum Trotz, oder just um ihrer ihm fremden und doch hin und wieder anklingenden Gegenstände willen, in seine vorige Nachdenklichkeit zurückverfallen. Nach jedem geleerten Glase drehten und wirbelten die Blitzaugen der schönen Müllerin, Goldrollen und Oeltonnen, sich immer verwirrender mit alten Ahnenbildern vor seinem Sinn. Dann jählings tauchte die knochige Gestalt des traurigen Kameraden vor ihm auf; seines Vaters leere Cassette, das kleine Gärtnerhaus, in welchem er die so leicht gewähnte, leichtversprochene Hülfe, die Einlösung seines Wortes, suchen sollte; dazwischen drangen hin und wieder die Tischgespräche der Heimathsfreunde wie Mahn- und Weckstimmen an sein Ohr: in seinem Leben hatte er sich noch nicht in ähnlicher Verfassung befunden.

Die Kindheitserinnerungen an das alte Familiengut waren durch die Begegnung des Rose'schen Geschwisterpaares heute aus langem Schlummer wieder wach gerufen worden. Mutter wie Schwester selten sehend und kaum vermissend, war Heinrich dem elterlichen Uebereinkommen gemäß, dem Vater gefolgt, dem immer bereitwilligen, nachsichtigen Gefährten weit eher als Erzieher. Denn das Erlaubtsein des Gefälligen galt dem bequemen Lebemanne auch als pädagogische Methode »Narren, welche die Natur zu zwingen unternehmen!« oder gar: »Warum sich ein Kind durch Verbote zum Feinde machen?« hatte er wohl manchmal lachend gesagt. So, ohne Kunst und Studium, war der Sohn geworden was er bis heute war: seines Vaters Ebenbild und Freund. Auf einer Ritterakademie gebildet, gegenwärtig im militairischen Friedensdienst, sah er als Lehnsträger eines bedeutenden Rittersitzes, als Erben adliger Freiheit, Gastlichkeit, heiterer Lebenskünste seine Zukunft gesichert, wenn die Soldatenlaufbahn ohne kriegerischen Aufschwung ihm eines Tages langweilig dünken sollte. In lachender Perspective woben Kindheit, Jugend und Mannesalter sich ohne Zwiespalt in einander.

Seit heute Mittag wollten nun aber plötzlich Erinnerungen und Erwartungen gar nicht harmonisch mehr miteinander stimmen; die halbverstandenen Reden der heimischen Provinzialen: Fragen, Pläne, Mittheilungen, Auslegungen, Rathschläge, wiewohl allezeit möglichst durch ein Scherzwort des Vaters parirt, verscheuchten nun vollends die sorglosen, beschworen bängliche Vorstellungen und so saß er zwischen Gelächter und Becherklang im Kampfe mit dem unabweislich heranschleichenden Zweifel, ob alles auch wirklich so gewesen sei, so werden würde, wie er es bis heute ohne Bedenken angenommen hatte?

»Vetter Stephan will die Pachtung Ihres Oberhofs aufgeben, Baron?« hörte er einen der Gäste fragen.

»Wird alt, hat mit seinem Antheil genug,« antwortete Herr von Hellstädt.

»Rüstig vollauf wäre er, sie noch lange fortzuführen und eine bessere Hand finden Sie nicht, Baron. Freilich, er mag sein Schäfchen im Trocknen haben, bei seiner Lebensweise und dem einzigen Kind.«

»Mühmchen Charitas! Ist sie hübsch geworden?« fragte der alte Herr.

»Habe nicht die Ehre ihrer Bekanntschaft,« lautete die Antwort. »Ein dralles Bauerntrinchen vermuthlich, mit breiter Taille und rothen Händen wie Papa und Mama.«

»Auch eine Philosophin wie der Herr Papa?«

»Gott behüt uns in Gnaden! Philosophie in Kuhstall und Unterrock! An Vater Stephan mag's frei lich nicht gelegen haben, wenn's ohne das abgegangen ist. Haben Sie ihn kürzlich gesehen, Baron?«

»Seit sechszehn Jahren nicht.«

»Sehr begreiflich. Das Du und Du mit der Bauernsippschaft ist nicht nach unserem Geschmack, Baron. Curiose Blutsverirrung in diesem Hellstädt! Sans comparaison, aber mein brauner Araber und mein spanischer Zuchthammel, – Prachtstücke, sage ich Ihnen, Hellstädt, Prachtstücke jedes in seiner Art! – nun die beiden könnten mit gleichem Fug Vettern sein wie Sie und er.«

»Lehns- und Namensvettern auch nur; die Blutsverwandtschaft verschwindet in unberechenbarer Ferne.«

Während das Tafelgespräch sich noch eine Weite um die erwähnten Persönlichkeiten weiterspann, knüpfte Heinrich die spärlichen Erinnerungen und Erfahrungen aneinander, die ihm von Vetter Stephan und Mühmchen Charitas geblieben, oder überkommen waren. Der blutarme Sprößling eines Namensträgers wird, früh verwaist, von des Barons Eltern aufgenommen, in einer provinzialen Fürstenschule, in welcher die Familie, ein Alumnat, später auf der provinzialen Universität, auf welcher sie ein Stipendium zu vergeben hat, zum Theologen ausgebildet, um bei eintretender Vacanz die einträgliche Patronatstelle von Hellstädt zugewendet zu erhalten. Im Begriff, in dieselbe einzutreten, fällt, dem armen Candidaten unerwartet von einem unbekannten in Paris lebenden Lehnssippen das Erbe von Hellstädt zweiten Antheils, des sogenannten Unterhofs zu: weit geringer als das des Oberhofs, gründlich verschuldet, verwahrlost, von gewissenlosen Pächtern ausgesaugt, in Bau und Räumlichkeiten seit den Kriegszeiten wüst im Argen liegend. Dessenungeachtet giebt er ohne Bedenken die fette Pfründe auf und setzt sich auf die magere Hufe. »Der verrottete Unterhof,« sagt er, »macht mich zu einem Hellstädt.« Diesen Worten gleichsam zum Hohn, heirathet er eine Bäuerin, lebt wie ein Bauer, erzieht eine Bauernschaar, von welcher ihm nur eine Tochter, Charitas, geblieben ist, übernimmt neben der Bewirthschaftung des eignen Gutes noch die bedeutende Pachtung des Oberhofs und wird von der Familie so gut wie vergessen, nachdem der Baron, seiner Neigung folgend und später auch seine Gattin ihrem Vater zu Liebe, das Landleben für immer mit dem in der Residenz vertauschten.

So viel oder so wenig wußte Heinrich von Vetter Stephan, »dem Dungphilosophen«, selber; daß er die Pachtung des Oberhofs aufzugeben beabsichtige, war ihm wie alles Geschäftliche in seines Vaters Verhältnissen eine Neuigkeit.

»Haben Sie schon einen neuen Pächter engagirt, Baron,« hörte er jetzt einen anderen der Hellstädter Nachbarn fragen.«

»Offerten mancherlei, aber noch keine Entscheidung,« erwiderte der alte Herr, sichtlich, aber nicht glücklich beflissen, die ländlichen Freunde von Egge und Pflug abzubringen.«

»Es ging ein Gerede, daß Rose die Pachtung übernehmen werde,« meinte ein Dritter.

»Mir nicht bewußt,« versetzte der Baron.

»Hätte auch besondere Gründe zu dem Unternehmen haben müssen. Ist ja längst über das Stadium hinweg, wo er sich begnügte, jeden Bodenfetzen für seine Oelfrüchte abzupachten, seine Mühlen in Fabrikwesen umzuwandeln und nicht Faßbinder genug für seine Vorräthe aufzutreiben. Er ist Speculant geworden, Actionair, Käufer und Verkäufer auf Zeit, – wer versteht den Rummel? – König der Oelbörse wie es heißt. Fabelhaft, was der Mensch speculirt, riscirt, lucrirt! Just zur Stunde soll er einen Hauptcoup forciren, bis Amsterdam sämmtliche Oelfrüchte aufgekauft haben. Glückt's mit der Hausse, ist er dreifach ein Millionair.«

»Glückt's aber nicht?« wendete ein anderer Tischgast bedenklich ein.

»Der Patron ist mit dem Teufel im Bunde, ihm glückt Alles, was er unternimmt; im Nothfall wird er sich eine Hinterthür offengehalten haben.«

Der Gäste handfeste Beharrlichkeit in der Localisirung der Unterhaltung trug den Sieg über des Gastgebers Geschmeidigkeit im Ausbiegen auf weitere Gebiete davon; seufzend ergab er sich in den Discurs über Kraut und Rüben, Hühner und Gänse des provinziellen Winkels, aus welcher die Sippe der Hellstädt ihren Ursprung genommen hatte; froh, mindestens seine privaten Angelegenheiten abgeschnitten zu haben, machte er schließlich aus der Noth eine Tugend und mischte sich, nicht ohne sarkastische Pointen, in die heimischen Personalien. Das Aufstreben der Roses war ein unerschöpflicher Gegenstand. Auch Heinrich erfuhr auf diese Weise, daß der alte Oelgraf seinem einzigen Sohn, den er als grand seigneur studiren und reisen hatte lassen, bevor er ihn in sein weitverzweigtes Geschäft aufnahm, das große Staatsexamen nicht ersparen wolle, um wohl gar zu guter Letzt einen Finanz- oder Handelsminister aus dem Ei des Müllervogels kriechen zu lassen. Noch ausgiebiger ward der Stoff, als auch auf die junge Oelcomtesse die Rede kam. Erzogen wie eine geborene Comtesse, theilte sie Körbe zu Dutzenden aus, schwamm als Goldfisch im residenzlichen Element und kehrte nur auf etliche Sommerwochen in der alten Mühle und neuen Fabrik von Hellstädt ein, um durch ihren Glanz Heimath und Nachbarschaft zu verblüffen und Vetter Stephans patriarchalischen Einfluß bedenklich zu gefährden.

Der Wortführer des ritterschaftlichen Chors resumirte schließlich den socialen Wandel seines heimischen Bezirks in der folgenden von häufigem Applaus unterbrochenen Schilderung:

»Ein verzwicktes Endchen Zeitlauf, in welches unser Herrgott uns stetigen Leute eingeschmuggelt hat, Baron! Das rennt und rollt. Das Oberste kommt unterst, das Unterste oberst. Ein Hellstädt, dessen Stammbaum über die Kreuzzüge reicht, wird schlechthin ein Bauer, geht in Hemdsärmeln zum Heumachen, läßt seine Tochter Buttern und am Bache mit roth aufgesprungenen Händen die Wäsche spülen. Ein Müller, dessen Vater als Großknecht auf Hellstädt an gefangen hat, speculirt mit Hunderttausenden und giebt seinen Kindern eine prinzliche Erziehung. Sein Sohn beguckt sich die Pyramiden, seine Tochter liest englische Romane in der Ursprache. Geld und wieder Geld! mit dieser Loosung schiebt und drängt ein Jeder aus dem Jahrtausende alten Gleis. Bei Euch in Hellstädt, so heißt es, halten Stephan und Rose sich noch in der Schwebe; wie lange noch und der Rose hat obtinirt. Längst schon hat der Bauer den väterlichen Eisentopf aus dem Kellerwinkel ausgegraben und den Inhalt in Werthpapieren angelegt. Ist ein rundes Sümmchen bei einander, kauft er die Rittersitze heruntergekommener Barone, oder er verpachtet seine Hufen an Oel- und Zuckerfabrikanten und wird ein Bürger der nächsten Stadt. Der reichgewordene Kürschner und Gerber von Krähwinkel verhandelt, oder vermiethet Haus und Geschäft an einen Anfänger und sucht die Theater und Caffeehäuser der Hauptstadt seiner Provinz, deren bürgerliche Großhänse hinwiederum nur in der königlichen Residenz einen würdigen Ruheplatz finden. Man treibt die Heimath in's Weite, wenn von Heimath überhaupt noch etwas übrig bleibt. »Vaterland« ist das Stichwort geworden der Maulhelden, die oft genug sich um das freiwillige Dienstjahr aus der Schule gedrückt. Ob's unter Vetter Stephans Patronat noch Mieken und Muthen, einen Jürgen, oder Töffel giebt, kann ich nicht sagen. Bei uns heißen die Trinen Amanda und Hulda, werden in einer »Benehmichte« gebildet, tragen Hüte und gestickte Unterröcke und bereichern ihre Kenntnisse aus den historischen Romanen neuester, weiblicher Fabrik. Die Bürgermädchen heirathen Lieutenants; bei Hofe figurire hochadlige, angefreite Schleppen, die von Berlin bis Jerusalem reichen: was soll aus unseren Mädchen werden, Baron? Sei's um die Jungen, der König braucht Soldaten zu jeder Zeit; aber die Mädchen, was fangen unsere Mädchen an, Baron?« –

»Sie spülen Wäsche wie Mühmchen Charitas und die Königstöchter im Märchenbuche,« antwortete lachend der alte Baron.

»Ernsthaft, Freund,« versetzte der Vorredner, »ernsthaft! Was wird schließlich aus dem ritterlichen Stamm? Sagen Sie, Baron, was wird aus uns?«

»Wir werden Philosophen oder Bauern, wie Vetter Stephan vom Unterhof. Die Welt ist rund, lassen wir sie rollen!« entgegnete Herr von Hellstädt, indem er sein Glas erhob. »Lassen wir sie rollen und trinken einstweilen auf das Wohl des alten, ritterlichen Stamms und der edlen Nachbarn von Hellstädt!«

»Auf das Wohl des ritterlichen Stamms und des letzten Sprossen von Hellstädt!« jubelten die nachbarlichen Barone, stießen an mit Vater und Sohn und leerten ihre Gläser bis auf die Nagelprobe.

Den letzten Sprossen duldete es nicht länger; die Zeit drängte zur Einlösung seines Worts; unbemerkt stahl er sich aus dem Kreise der alten Herrn, die noch eine gute Weile mit provinziellem Appetite schmausten, dann ihren Mokka schlürften und des Barons Havanna schmauchten, bis sie endlich unter ihres Gastherrn Führung nach dem Opernhause aufbrachen, wo eine glänzende Balletaufführung die letzten gesellschaftlichen Apprehensionen verscheuchte.

*


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