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Elftes Capitel.
Nacht.

Heinrich hatte Mühe, sich durchs die in Flur und Hof zusammendrängende Menge Bahn zu brechen. Die Gährung war seit einer Stunde in hellen Tumult ausgeartet. Ein Gerichtsbeamter vertrat ihm den Weg, mit der Frage, ob er über den Aufenthalt Roses eine Auskunft geben könne? Er hörte ihn nicht zu Ende; er achtete auf nichts, hatte keine Gedanken als an den alten Mann, der in der gewaltsamsten Aufregung, ohne Mantel und Hut, von einem Irrthum gehetzt, durch die stürmende, strömende Gewitternacht dahin rannte. Ihm war, als höre er seinen keuchenden Athem; ein Blitz zuckte nieder, er erkannte sein weißes Haar. »Vater!« schrie er, »Vater!« Regen und Wind deckten seine Stimme; das Gespenst des Häschers gab dem Greise Jünglingskräfte.

So ging es die Dorfstraße entlang, der Sohn endlich nur noch wenige Schritte hinter dem wankenden alten Herrn. Er sah ihn im Gutshofe verschwinden. Am Gärtchen des neuen Hauses hielt Charitas den Nachstürmenden auf. »Sei ruhig, armer Heinrich,« sagte sie und faßte seine Hand. »Es ist alles gut geworden.«

Stephan trat heran. »Hat Deine Mutter eingewilligt?« fragte er.

»Nein,« hauchte Heinrich kaum hörbar.«

»Ich wußte es. Folge Deinem Vater, dort steigt er die Terrassen hinauf. Beruhige ihn. Ein reitender Bote mit dem Telegramm, daß der Wechsel bis morgen früh eingelöst sein wird, ist nach der Stadt unterwegs. Sie, Herr von Stern,« wendete er sich an diesen, der mit der athemlosen Therese in diesem Augenblicke herantrat, »Sie reisen noch mit dem Nachtschnellzuge nach der Hauptstadt; mein Pferd steht gesattelt. Die Summe ist verpackt. Folgen Sie mir in mein Zimmer.«

Sprachlos zog Heinrich des Verwandten Hand an seine Lippen, heiße Thränen tropften darauf nieder. Stephan entzog sie ihm rasch und schüttelte den Kopf. »Nicht ich,« sagte er, »Charitas ist für die Ehre von Hellstädt eingetreten.«

Die Geschwister blickten sich nach Charitas um; sie war verschwunden.

Mit erlöstem Herzen eilte Heinrich nun seinem Vater nach. Der alte Mann mochte eine Minute geruht haben, sowie er aber Schritte hinter sich hörte, stürmte er wieder voran. Er achtete nicht auf des Sohnes Ruf, er keuchte weiter. Die letzte Terrasse war erreicht; er stand vor der Thür seines Hauses, er klopfte, rüttelte, er wankte, sein Sohn, dicht hinter ihm, breitete die Arme nach ihm aus; mit letzter Kraft riß er sich von dem Verfolger los: »Halt ein! halt ein!« schrie er und taumelte zu Boden. Eine Viertelstunde tödtlicher Qual hatte das siebenzigjährige Freudenleben beschlossen, – will's Gott, gesühnt.

Heinrich raffte den Leblosen in die Höh' und hielt ihn auf seinen Armen wie ein Kind. Als er ihn die Terrassen hinuntertragen wollte, kam ihm Charitas mit einer Leuchte entgegen. Sie schickte den nachfolgenden Knecht nach einem leisen Auftrage zurück, leuchtete voran und öffnete die Thür des Oberhofs. Heinrich legte den Vater auf sein eignes Bett, das nämliche, in welchem vor sechszehn Jahren zum letztenmale der Vater in seinem Erbhause geschlafen hatte. Sie lösten ihm die Kleider; sie trieben seine Stirn, sein Herz, die starren Glieder; der Knecht brachte die geforderte Lanzette; Stephan, Therese, die Leute des Hofes drängten ihm nach. Charitas, die barmherzige Schwester von Hellstädt, schlug eine Ader, – es strömte kein Blut »Er ist todt!« schrie Heinrich und stürzte auf den Leichnam nieder.

In diesem Augenblicke trat Frau von Hellstädt in die Thür; starr wie ein Bild aus Stein, blieb sie auf der Schwelle gebannt.

Wohl eine Stunde war seitdem vergangen. Heinrich, achtlos auf Alles, was um ihn geschah, lag noch immer über der kalten Gestalt. die sein Leben glücklich gemacht hatte bis heute, und noch immer stand die Matrone, regungslos und trocknen Auges unter der Thür gleich einer Mörderin; von Zeit zu Zeit streifte sie ein scheuer Blick der Tochter, die in Thränen gebadet zu des Todtenbettes Füßen kniete. Vetter Stephan hatte Mühe genug den Zudrang abzuwehren, der von dem Mühlengute nach dieser zweiten Unglücksstätte strömte; Charitas waltete still nach Außen das Unerläßliche.

Jetzt trat sie in das Zimmer und zog Therese vom Boden in die Höhe; die Tochter an der Hand, schlang sie den andern Arm um den Leib der Mutter, sie einem Bilde entrückend, vor welchem alle Schauer des Diesseit und Jenseit ihr das Leben erstarrten. Heinrich blieb bei seinem Todten allein. Er ahnete nicht, daß still im Hintergrunde der treue Hüter von Hellstädt diese letzte Nacht mit ihm theilte.

In ihrem Mädchenstübchen, dem stillsten und freundlichsten des neuen Hauses, bettete und überwachte Charitas während dessen die beiden Frauen. Die halbe Nacht barg Therese schluchzend und schauernd den Kopf an der Freundin Brust, endlich aber schlummerte sie ein wie ein thränenmüdes Kind und ruhig fort bis in den Tag. Die Mutter saß auf dem Bettrand ohne Regung; die Arme hingen schlaff herab, die Blicke stierten in's Leere. Kein Wort der Klage oder Ermunterung wurde laut; aber Charitas wich nur aus ihrer Nähe, wenn sie die Tochter oder Stern, der schon am anderen Abend zurückkehrte, der Erstarrten gegenüber wußte.

Während dessen gönnte Vetter Stephan dem verwaisten Sohne das ungestörte Erschöpfen des ersten Lebensschmerzes; er erledigte an seiner Statt die ge schäftige Unruhe, die, wenn zwei Augen sich schließen, die Umgebenden nicht zu Athem kommen läßt. In diesem Falle ein zehnfach guter Dienst und ein zehnfach schwerer, der empfangen und erwiesen ward; denn sobald die Todesnachricht sich verbreitete, drängten sich die widerwärtigsten Berührungen heran. Bittend, drohend, klagend machten die zahllosen Gläubiger des Barons ihre Forderungen geltend; der Leichnam lag noch über der Erde, als schon Mancher herbeistürmte, um bei dem mißlichen Stande seiner Aussichten, dem Erben in der ersten Betäubung ein Zugeständniß abzupressen. Da war Vetter Stephan denn just der rechte Mann, um klug und beherzt in die Mitte zu treten, die Zudringlichen abzuwehren, Unterhandlungen einzuleiten, wucherische Ansprüche einzuschränken und bei des Schuldners thatsächlicher Insolvenz processualische Weitläufigkeiten abzuschneiden. Hatte Stephan Hellstädt auf diese Weise in die Angelegenheiten seines Verwandten schon in den nächsten Tagen klare Einsicht gewonnen, so blieben die Angehörigen des nächsten Urhebers dieser doppelten Catastrophe noch lange Zeit in verwirrendem Dunkel. Alle Thüren waren versiegelt, alle Vorräthe mit Beschlag belegt; die Mühlwerke standen still; Diener und Arbeiter suchten nach neuem Brod; die Familie weilte, man wußte nicht wo; Rose wurde steckbrieflich verfolgt; es verbreitete sich das Gerücht, daß er schon am anderen Tage auf einem amerikanischen Dampfboote entkommen sei.

Daneben schwirrten die widersprechendsten Posten durch die Hellstädter Flur; es herrschte eine Spannung, ein Treiben, wie seit Kriegszeiten sie Keiner in der Gemeinde erlebt hatte; die stille Dorfgasse glich einem Jahrmarkt ohne Buden; aus Stadt und Land strömten Betroffene und Unbetroffene herbei, wie auf eine Brandstatt am Tage nach der Feuersbrunst, oder in die Verwüstung, die ein Wolkenbruch gerissen hat. Mancher dieser Aufgeregten nahm dann wohl auch seinen Weg über die Schloßterrasse, auf welcher der andere Akt des ländlichen Drama's sich abgewickelt hatte; mancher neugierige und mancher zürnende Blick ward nach den Fenstern geworfen, hinter welchen man den alten und den neuen Herrn vermuthete.

Einer so wenig wie der Andere spürte diesen unruhigen Wandel. Heinrich hatte den Oberhof seit drei Tagen nicht verlassen; jedem Zuspruch wich er aus; selber Sterns Gesellschaft that ihm nicht wohl; er kaufte die Stunden aus, die es ihm noch gegönnt war, mit dem Freunde seines jungen Lebens bei einander zu sein. Er war auch im Tode ein schönes Greisenbild; dem Sohne däuchte, als ob aller Freudenglanz von der Erde verflohen sei.

Und nun ging die Sonne zum viertenmale auf und das Letzte geschah. Nach ländlicher Sitte folgen dem Sarge auch die leidtragenden Frauen. Ein Jeder aber fühlte, daß die Matrone mit ihrem Glücke das Wittwenrecht zu diesem Geleite eingebüßt habe. Niemand hatte ihr die Stunde genannt. Wie in der ersten Nacht saß sie auf ihrem Bettrand starr und stumm; als die Tochter jetzt aber still weinend aus dem Zimmer schlich, da streckte sie die mageren Arme ihr nach, um ihr Kind bei sich zurückzuhalten. Charitas setzte sich an ihre Seite, faßte ihre Hand und harrte neben ihr aus in dieser langen, dunklen Stunde.

Das Geläut hob an; die Tritte des Trauerzuges nahten und verhallten; vom Friedhofe herüber summte das Klagelied; dann Grabesstille. Die Hand der Wittwe war kalt wie eine Leichenhand; ihr Auge bohrte nach der Richtung, ans welcher die Laute verweht waren; der letzte Lebensfunken schien in diesen Blick geflüchtet Gewiß, gewiß, sie sah, ihre Kinder vor der Grube des Vaters, den die Mutter ihnen retten konnte und nicht gerettet hatte; sie hörte den segnenden Friedensspruch und das Rollen der Hand voll Erde, mit welcher der Sohn seine Verwaisung besiegelte, sie hörte, Schaufel um Schaufel, die Grube sich füllen über der letzten Spur von einem vielgeliebten, vielbeneideten und – gehaßten Menschenleben.

Endlich drangen die Tritte der Zurückkehrenden herauf; Charitas verließ das Zimmer; die Augen der Wittwe hingen gespensterhaft an der Thür; waren es Minuten, war es eine Ewigkeit? Die Thür ging wieder aus; das junge Mädchen trat ein, an jeder Hand eines der Geschwister. Langsam, mit gesenkten Blicken schritten sie auf die Mutter zu, fielen vor ihr nieder, faßten ihre Hände und bedeckten sie mit ihren Lippen und Thränen.

Ein Hauch von Noth wehte über die fahlen Wangen der Wittwe; die ersten Tropfen entrungen sich den Augen. Sie hob Hände und Blicke gen Himmel: »Ich habe meine Kinder noch!« schluchzte sie.

*


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