Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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16

Der nächste, den wir sprechen mußten, war Chippendale. Er kam am folgenden Morgen ins Büro, begierig uns Bericht zu erstatten.

»Ich habe eigentlich Glück gehabt, Sir«, gab er auf Chaneys erste Frage zur Antwort. »Ich bin schnell sehr dick mit denen in Cheverdale-Haus geworden, und sehr bald hatte ich zweierlei festgestellt. Erstens mal: Von dem Zeitpunkt an, wo der alte Herr – ich meine Lord Cheverdale – sein Spiel Piquet mit Paley beendet hatte und schlafen gegangen war, kann niemand im Haus genau sagen, wo Paley war. Und zweitens besteht kein Zweifel, daß . . .«

»Halt mal, Junge!« sagte Chaney. »Eine Kleinigkeit! – Sie sagen, daß von dem Zeitpunkt an, wo Lord Cheverdale Paley verließ, um ins Bett zu gehen, niemand sagen kann, wo Paley war. Aber . . . bis wann?«

»Verzeihung, Sir«, antwortete Chippendale betreten. »Bis Harris hinauflief, um zu melden, was er im Gebüsch entdeckt hatte, und dabei Paley in der Bibliothek beim Lesen eines Buches antraf.«

»Und weiter, zum zweiten Punkt!« sagte Chaney.

»Ja«, fuhr Chippendale fort. »Es besteht auch kein Zweifel, daß sich Paley gleich, nachdem er die Polizei telefonisch gerufen hatte, aus dem Staub machte. Vorher sagte er noch zum Diener, daß er die Nachricht . . . aber halt! Hier liegt eben eine Verschiedenheit in den Aussagen von Harris und dem Haushofmeister vor. Harris gibt nämlich an, daß Paley gesagt habe, er müsse die Nachricht Hanningtons Verwandten überbringen. Der Haushofmeister aber behauptet, Paley habe nicht ›Verwandte‹, sondern ›unsere Leute‹ gesagt, womit er die Leute der ›Sentinel‹ meinte. Jedenfalls besteht Harris darauf, daß das Wort ›Verwandte‹ gefallen sei. Andrerseits behauptet der Haushofmeister, er habe recht, es sei ›unsere Leute‹ gewesen.«

»Na, jedenfalls verließ Paley das Haus?« fragte Chaney.

»Und zwar sofort, ohne erst auf die Polizei zu warten. Ich versuchte alles, um die genaue Zeit zu erfahren«, fuhr Chippendale fort, »soviel ich ermitteln konnte, war es fünf Minuten nach Mitternacht, als Harris die Leiche fand, und ein Viertel nach zwölf, als Paley nach der Polizei telefonierte und das Haus verließ. Und . . .«

»Einen Augenblick mal, Chippendale«, warf ich ein. »Ich möchte die Notizen ansehen, die ich mir seinerzeit gemacht habe, nachdem wir Harris' Aussagen gehört hatten; ich erinnere mich da an etwas.«

Ich fand meine Notizen, sah sie durch und kam zu der bewußten Stelle.

»Sehen Sie«, sagte ich, »ich habe mir hier aufgeschrieben, daß Harris, als wir ihn vernahmen, folgendes angab: ›Ich hörte, wie Paley zur Polizei sagte, es sei sehr verdächtig, daß keinerlei Papiere in Hanningtons Taschen gefunden worden seien, denn sie seien immer mit Papieren vollgestopft gewesen‹; wie hat denn Harris das hören können, wenn Paley bei Ankunft der Polizei schon weg war?«

»Darüber weiß ich Bescheid«, erwiderte Chippendale. »Wie Sie sich erinnern werden, gaben Sie mir damals Ihre Aufzeichnungen zu lesen, damit ich im Bilde sei; inzwischen habe ich erfahren, daß Harris eine Unterredung belauscht hat, die Mr. Paley nach seiner Rückkehr mit der Polizei hatte.«

»Sehr gut«, sagte ich. »Aber als ich Sie unterbrach, wollten Sie gerade sagen . . .«

»Daß Paley nicht vor drei Uhr dreißig ins Haus zurückkam, Sir. Die Polizei hat Haushofmeister Walker mehrere Male nach Paley gefragt. Er kam genau um halb vier Uhr nach Hause.«

»Sie haben hoffentlich alle diese Nachrichten vor dem Hauspersonal geheim gehalten, lieber Freund?« fragte Chaney.

»Jawohl, natürlich! Was ich ausfindig gemacht habe, ist nur durch – ich möchte sagen – gelegentliche Unterhaltungen herausgekommen; das ganze Personal spricht heute noch davon!«

»Haben Sie irgend etwas darüber gehört, daß man unter den Leuten Paley verdächtigte?« forschte Chaney.

Chippendale grinste verständnisvoll.

»Jawohl, Sir«, erwiderte er. »Das eine Mädchen dort hat, wie es scheint, eine kleine Schwäche für mich; ich habe sie hin und wieder zum Spazierengehen in den Park mitgenommen, und natürlich haben wir uns oft recht vertraulich unterhalten . . .«

»Aber Sie haben sich hoffentlich nichts von Ihrer wirklichen Aufgabe anmerken lassen?« warf Chaney ein.

»Ich bin doch kein Narr, Sir! Sie weiß nichts weiter über mich, als daß ich ein Freund von Harris bin; ich sagte ihr, daß ich Sekretär sei und gute Aussichten habe. Nein, Mr. Chaney, sie weiß nichts!«

»Na, und weiter?« meinte Chaney.

»Eines Abends, als wir aus waren, sprach sie über den Mord. Und da sagte sie immer wieder das eine: ›Ich würde mich gar nicht wundern‹, sagte sie, ›wenn dieser aalglatte Kriecher, der Paley, etwas damit zu tun hat, ich würde es ihm ohne weiteres zutrauen!‹ ›Mögen Sie ihn denn nicht?‹ fragte ich. ›Wer mag ihn schon?‹ antwortete sie. ›Wir alle hassen ihn wie die Pest, dieses schleichende Krokodil!‹ ›Aber der alte Herr mag ihn doch?‹ fragte ich; ›er kann ja nichts ohne ihn tun.‹ ›Ja‹, sagte sie, ›den hat Paley schon lange herumgekriegt, er kann ihn um den kleinen Finger wickeln!‹«

»Sind alle dort dieser Meinung?« fragte Chaney.

»Das kann man wohl behaupten«, antwortete Chippendale. »Paley scheint in Cheverdale-Haus der eigentliche Herr zu sein. Miß Chever ist anscheinend eine Null, der alte Herr überläßt alles Paley. Man sagt, daß Paley seine Nase in alles steckt, sich in alles hineinmischt – selbst die Mahlzeiten ordnet er an.«

»Ein recht verwendbarer Mann!« bemerkte Chaney trocken. »Schön, lieber Freund – aber Sie haben uns sicher mehr als das zu sagen. Also los!«

»Ja, Sir, was nun kommt, ist allerdings viel wichtiger. Ich stellte mir die Aufgabe herauszukriegen, wohin Paley ging, als er in jener Nacht um viertel eins Cheverdale-Haus verließ. Und ich habe es herausbekommen!«

»Wirklich?« rief Chaney. »Famoser Kerl! Ganz famoser Kerl! Wie haben Sie denn das fertigbekommen?« fuhr er eifrig fort. »Es war wohl ein schweres Stück Arbeit, nicht?«

»Ja, Sir«, gab Chippendale zu. »Nun, ich habe über die Sache nachgedacht, und da fiel mir ein, daß Paley, als er fortstürzte, wahrscheinlich nach dem nächsten Autostand gelaufen ist. Der war bei Clarence Gate. Dorthin bin ich gegangen, und mit größten Schwierigkeiten stöberte ich dort einen Schofför auf, der in jener Nacht einen Herrn an zwei verschiedene Stellen gefahren und ihn schließlich um viertel vier bei Clarence Gate wieder abgesetzt hat.«

»Haben Sie Einzelheiten von dem Schofför erfahren?« fragte Chaney.

»Ja, Sir! Aber ich würde vorschlagen, daß Sie ihn selbst sprechen. Als ich gestern Ihr Telegramm aus Paris erhielt, daß Sie noch in der Nacht zurückkämen, habe ich mich mit dem Mann in Verbindung gesetzt; er ist ein kluger Bursche, und ich habe mit ihm ausgemacht, daß er heute vormittag um elf Uhr hierher kommt; jetzt ist es halb elf, meine Herren.«

Wir benutzten die nächste halbe Stunde, uns mit der Post zu beschäftigen, die sich während unserer Abwesenheit im Büro angesammelt hatte. Um elf Uhr führte Chippendale einen jungen Mann herein; sein Aussehen entsprach der Beschreibung, die unser Sekretär von ihm gemacht hatte, er schien klug und geweckt.

»Albert Marks, meine Herren«, sagte Chippendale.

Albert Marks machte eine Verbeugung und setzte sich auf den Rand des Stuhles, den Chippendale ihm hingeschoben hatte. Chaney betrachtete ihn genau.

»Taxischofför, nicht wahr?« sagte Chaney.

»Ja, Sir.«

»Unser Sekretär sagt mir, daß Sie sich eines Herrn erinnern, den Sie eines Nachts gefahren haben, als Sie am Clarence-Gate-Standplatz waren. Wie können Sie feststellen, welche Nacht das war?«

»Sehr leicht, Sir. Es war die Nacht, in welcher der Redakteur auf Lord Cheverdales Grundstück ermordet wurde. Ich erinnere mich, darüber in den Abendzeitungen am nächsten Tag gelesen zu haben, gerade am Tag danach.«

»Sie haben Ihren Fahrgast nicht mit dem Mord in Beziehung gebracht?«

»Nein, Sir, es ist nichts Ungewöhnliches, um diese Nachtzeit gerufen zu werden. Dort in der Gegend sind viele feine Häuser, und die Herrschaften bleiben lange nach Dinners und Abendgesellschaften auf. Nein, ich habe ihn nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht, bis Ihr junger Mann mich angesprochen hat. Dann natürlich kam ich auf den Gedanken, daß er vielleicht etwas damit zu tun haben könnte.«

»Können Sie den Mann, den Sie damals gefahren haben, beschreiben?«

»Bis zu einem gewissen Grad schon, Sir. Er war im Gesellschaftsanzug, jedenfalls in Schwarz. Schwarze Hosen, schwarzer Überzieher und ein großes, weißes Halstuch; an sein Gesicht erinnere ich mich nicht. Er war mittelgroß, weder alt noch jung, und trug einen Regenschirm.«

»Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ihn sehen?«

Marks sah Chippendale an.

»Ja, Sir«, erwiderte Marks. »Der junge Mann hier gab mir nämlich Gelegenheit, einen gewissen Herrn, der dort in der Gegend wohnt, genau anzusehen.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Chaney. Er wandte sich zu Chippendale. »Wer war das?« fragte er.

»Paley!« erwiderte Chippendale.

»Aber«, fuhr Marks auf einen Wink Chippendales fort, »beschwören könnte ich nicht, daß es der war, den ich damals nachts gefahren habe. Das einzige, was ich sagen könnte, ist, wie groß er war, und so . . . Ich glaub' schon, daß der Mann, den Ihr Sekretär mir zeigte, der ist, den ich gefahren hab', aber beschwören könnte ich es nicht.«

»Auch nicht, wenn Sie sich ihn noch genauer ansähen?« fragte Chaney.

»Nein, Sir! Auch dann nicht! Sicher wäre ich meiner Sache nicht.«

»Na gut; wohin fuhren Sie ihn denn?«

»Er kam in ziemlicher Eile die Straße herauf und sagte, ich solle ihn bis Portland Place fahren und dort halten. Natürlich brauchten wir nur ein paar Minuten da hinunter, es ist ja ganz nahe. Ich hielt an der linken Seite, gegenüber der Ecke vom Langham Hotel, er sprang heraus und steckte mir eine Pfundnote in die Hand. ›Hier‹, sagte er. ›warten Sie! Nehmen Sie das inzwischen, ich bleibe vielleicht fünf Minuten, vielleicht auch eine halbe Stunde; warten Sie auf alle Fälle.‹ Dann eilte er weg.«

»In welcher Richtung?«

»Er ging die Riding House Street entlang, Sir.«

Chaney sah mich an. Ich wußte, was er dachte. Riding House Street führt direkt in die Great Portland Street, und Little Custom Street ist gerade hinter Great Portland Street. Von der Stelle, wo er die Autodroschke verließ, bis zu Little Custom Street waren höchstens drei Minuten zu gehen.

»Und wie lange haben Sie gewartet?« fragte Chaney. »Aber zuerst noch: können Sie sich erinnern, wie spät es damals war, als der Mann aus Ihrem Wagen stieg?«

»Ich kann Ihnen auf die Sekunde genau die Zeit sagen, Sir; ich habe nämlich nicht nur auf meine Uhr gesehen, sondern auch die Turmuhren im selben Augenblick schlagen hören. Es war genau ein Viertel vor eins.«

»Kam der Mann zurück?«

»Ja, Sir.«

»Und wie lange hatten Sie gewartet?«

»Genau dreiviertel Stunden, Sir. Er kam um halb zwei zurück.«

Wieder sah Chaney mich an. Und wieder wußte ich, was er dachte. Er überlegte, ob der Mord an Mrs. Clayton und das Durchwühlen der Wohnung Nummer 12, Minerva-Haus, in dreiviertel Stunden ausgeführt sein konnte.

»Gut«, fuhr Chaney fort, »und dann?«

»Dann stieg er wieder ein.«

»Einen Augenblick! Fiel Ihnen etwas an ihm auf, als er zurückkam?«

»Nur, daß er allem Anschein nach sehr gelaufen war, er atmete schwer.«

»Schön, erzählen Sie weiter.«

»Er stieg wieder ein und trug mir auf, zur Ecke von Whitehall Place, beim Kriegsministerium, zu fahren. Als wir dorthin kamen, sagte er mir, ich solle wieder etwas warten, dann ging er eilig weg.«

»Welchen Weg?«

»Er ging Whitehall hinunter, am United Service Institut vorbei. Ich achtete nicht besonders darauf, sah aber doch, daß er diesen Weg einschlug, dann verlor ich ihn aus dem Auge. Und dann wartete ich eben . . .«

»Wie lange blieb er diesmal aus?«

»Länger! Er kam erst nach drei Uhr zurück; so zehn Minuten nach drei war es wohl.«

»Irgend etwas Auffälliges bemerkt, als er zurückkam?«

Marks lächelte und sah Chippendale an: »Ja, ich habe etwas bemerkt, Sir. Ich habe es schon Ihrem jungen Mann erzählt. Wie ich schon sagte, hatte mein Fahrgast einen Regenschirm, als er das erstemal in meinen Wagen stieg. Das fiel mir auf, der Schirm hatte nämlich einen schönen goldenen Knopf. Er nahm ihn mit, als er in Portland Place ausstieg; er nahm ihn auch mit, als er in Whitehall ausstieg. Wie er aber das zweitemal zurückkam, hatte er ihn nicht mehr. Ich machte ihn darauf aufmerksam: ›Entschuldigen Sie, Sir‹, sagte ich, ›Sie haben wohl Ihren Schirm vergessen‹ . . .«

»Und was hat er darauf gesagt?« fragte Chaney.

»Er schien zuerst überhaupt nichts sagen zu wollen«, erwiderte Marks. »Dann murmelte er etwas wie: ›Schon gut, man wird den Schirm schon aufheben, ließ ihn bei Freunden stehen . . .‹, oder so was Ähnliches.«

»Und dann?«

»Dann fuhr ich ihn dorthin zurück, wo wir losgefahren waren, und wir rechneten ab – das heißt, er sagte mir, ich könne den Rest der Pfundnote behalten. Und dann ging er fort.«

»Marks!« sagte Chaney. »Können Sie wirklich nicht beschwören, daß es Paley war?«

Aber Marks schüttelte den Kopf. Nein! So sicher er auch seiner Sache sei, schwören könne er nicht.

 


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