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Chaney war stets peinlich gewissenhaft in der Ausarbeitung seiner Pläne; es machte mir daher einen diebischen Spaß, ihn jetzt höflich daran zu erinnern, daß er etwas übersehen hatte, was mir sehr wichtig schien.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, erwiderte ich auf seinen letzten Vorschlag. »Aber Sie vergessen, daß wir hier noch etwas zu erledigen haben.«
»Was denn?« fragte er.
»Hannington war doch am ›Milthwaite Observer‹«, antwortete ich. »Er war dort erster oder zweiter Redakteur, nicht wahr? Nun sind wir einmal hier in Milthwaite – wollen wir uns da nicht im Büro des ›Observer‹ erkundigen?«
»Donnerwetter, ja, Sie haben recht«, rief er aus. »Natürlich! Hannington war zuerst Berichterstatter und dann zweiter Redakteur hier. Wo sind denn die Büros des ›Observer‹?«
Die Büros waren, wie sich herausstellte, in einem Hof im Hinterhaus des Hotel ›Engel‹; wir gingen dorthin, schickten unsere Karten hinein und wurden sofort zu dem Redakteur geführt, der sich unsere Geschichte mit der Miene sichtlicher Voreingenommenheit anhörte, wie sie aus einem unerklärbaren Grund Leuten seines Berufes eigen ist.
»Ich war zu Hanningtons Zeiten nicht hier«, sagte er, nachdem Chaney ihm erzählt hatte, was er wissen durfte. »Er ist zwei oder drei Jahre, ehe ich kam, von hier weggegangen. Ich hörte natürlich von ihm. Seit jener Zeit hat sich der Stab bei uns vollkommen geändert. Trotzdem haben wir noch einen Mann hier, der schon zuzeiten Hanningtons bei uns war; ich will Sie gerne mit ihm bekannt machen.«
Er klingelte, und ein Boy erschien.
»Sehen Sie nach, ob Mr. Macpherson im Berichterstatter-Zimmer ist. Wenn ja, bitten Sie ihn herzukommen.« Mr. Macpherson erschien bald. Er war, wie sein Name verriet, Schotte. Er hatte einen grauen Schnurrbart und Backenbart, eine rote Nase und wasserblaue Augen; mit argwöhnischer Neugierde betrachtete er uns.
»Mr. Macpherson«, sagte der Redakteur. »Diese Herren, Mr. Chaney und Mr. Camberwell, sind hier, um sich nach dem verstorbenen Mr. Hannington zu erkundigen, der, wie Sie wissen . . .«
» . . . In London neulich ermordet wurde«, brummte Mr. Macpherson. »Ach ja, ich kannte Tom Hannington gut, wirklich gut.«
»Vielleicht unterhalten Sie sich mit den Herren, Mr. Macpherson«, schloß der Redakteur.
Sofort und ohne ein Wort zu verlieren, forderte uns Mr. Macpherson mit einer Handbewegung auf, das Redaktionszimmer zu verlassen; dann machte er sorgfältig die Tür hinter sich zu und wendete sich mit einem ernsten Blick zu uns: »Kennen Sie den ›Engel‹?«
»Ja«, erwiderte Chaney.
Macpherson zeigte vom obersten Treppenabsatz, auf dem wir standen, hinunter.
»Gehen Sie dort in das kleine Zimmer auf der linken Seite«, sagte er. »Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.«
Wir folgten Macphersons Wünschen. Der Raum, von dem er sprach, war ein kleines, unbewohntes Zimmer, in dem ein helles Feuer brannte. Ein Kellner erschien: wir baten ihn, auf Mr. Macphersons Kommen warten zu dürfen. Nach etwa zehn Minuten trat er ein, der Kellner schien ihn sehr genau zu kennen.
»Für mich wie gewöhnlich, Alfred«, sagte er. »Nehmen Sie die Bestellungen dieser Herren entgegen.«
Mr. Macphersons ›Gewöhnliches‹ bestand in einer reichlichen Dosis des Weines seines Landes mit sehr wenig Wasser vermengt; er fühlte sich sichtlich wohler, als er davon ein paar Schlucke genommen hatte. »Sie wünschen also etwas über den armen Tom Hannington zu erfahren?« fragte er. »Ach ja, so manches Glas haben Tom und ich gerade in diesem Zimmer getrunken! Ich erinnere mich . . .«
»Ich dachte, daß Mr. Hannington ein begeisterter Temperenzler war«, unterbrach Chaney.
Mr. Macpherson machte ein Gesicht, das deutlich seinen Widerwillen ausdrückte.
»Ach, guter Mann, das wurde er erst in seinen späteren, heruntergekommenen Tagen!« erwiderte er. »Aber er war kein Temperenzler, als er hier beim ›Observer‹ arbeitete! Da kam er recht oft mit mir und den anderen Kollegen hierher in den ›Engel‹. Er war ein guter Kamerad, der arme Tom. Sein Unglück fing an, als er sich mit dem verdammten alten Teehändler in London einließ.«
»Mit Lord Cheverdale?« fragte Chaney.
»Mit wem sonst? Dem verdammten alten Puritaner!« erwiderte Mr. Macpherson. »Ach, du meine Güte, wie hatte sich Tom verändert! Ich suchte ihn auf, als ich zum letzten Mal in diesem Babylon war; er, der sonst immer mit mir in ein Gasthaus in der Fleet Street gegangen war, wollte jetzt mit mir in eine Kakaostube gehen! Pfui Teufel! Alfred, schenken Sie wieder ein!« Es war klar, daß Mr. Macphersons Redefluß nicht aufzuhalten war, und wir ließen ihn weiter schwatzen. Aber wir stellten doch gleich die eine wertvolle Tatsache fest: Thomas Hannington, der vor zwölf oder fünfzehn Jahren Mitglied des Redaktionsstabes des »Milthwaite Observer« gewesen war, hatte die Gewohnheit gehabt, das Hotel »Engel« aufzusuchen, um dort eine Erfrischung, ein Getränk oder sonst etwas zu nehmen, und hatte so Gelegenheit gefunden, Alice Holroyd kennenzulernen. Die Erwähnung ihres Namens erweckte neue Erinnerungen in Mr. Macpherson.
»Ja, ja, ich erinnere mich an das Mädel sehr genau«, sagte er. »Sie war ein famoses, heiteres, junges Ding, – heiratete einen Burschen, der ihr Gefallen erregte und ging mit ihm auf und davon. Wir vom ›Observer‹, diejenigen von uns, die oft hier herkamen, gaben ihr zur Erinnerung ein Hochzeitsgeschenk. Hannington suchte es aus; es war ein Tee- und Kaffeeservice aus schwerem Silber. O ja, ich erinnere mich an Alice sehr gut, Hannington war selbst ein bißchen verliebt in sie. Er war manchmal recht schwermütig dabei, aber ein guter Kerl. Und als der verdammte alte Teehändler ihn in die Hände bekam . . . pfui Teufel! Da wollen wir gleich ein neues Glas zu Toms Gedächtnis trinken! Alfred!«
Bald darauf verließen wir Mr. Macpherson, den Alfred noch weiter bediente, und gingen in unser Hotel zurück, fest entschlossen, uns für die Abreise mit dem Nachmittagszug fertig zu machen. Um so mehr, als Chaney wieder mit seinem Riviera-Vorschlag kam: »Wir müssen da hinunter fahren, Camberwell«, sagte er. »Unsere Aufgabe ist es jetzt, Mr. und Mrs. Crowther nachzuspüren. Mentone ist der letzte Ort, den wir in Verbindung mit ihnen gehört haben, wir müssen also hin. Wahrscheinlich kamen sie von dort nach London. Wenn das so ist, gibt es sicher in Mentone Leute, die sie kennen und manches über sie wissen!«
»Warum haben diese Leute sich dann nicht gemeldet?« fragte ich.
»Das weiß ich nicht. Unsere Lokalnachrichten kommen nicht in die Zeitungen auf dem Kontinent«, antwortete er, »jedenfalls nicht in die kleineren in der Provinz. Nein, wir müssen schon hinfahren. Und warum auch nicht? Netter Ausflug auf Kosten von Lord Cheverdale.«
»Das ist auch ein Standpunkt«, bemerkte ich lachend.
»Ein sehr praktischer«, erwiderte er. »Es ist doch sein Wunsch. Haben Sie einen Paß?«
»Ja.«
»Ich auch. Dann ist ja alles in Ordnung. Ich schlage vor, wir fahren morgen. Ich habe diese Strecke schon zwei- oder dreimal abgegrast. Ich kenne Mentone. Dort ist eine ganz nette, große englische Kolonie. Wir fahren am besten mit dem 3 Uhr-fünfzig-Zug von Victoria Station über Folkestone-Boulogne nach Paris und sind dann in etwa sechsundzwanzig Stunden in Mentone. Und dann . . .«
»Ja?« fragte ich. »Und dann?«
»Es muß doch eine Spur von ihr in Mentone existieren«, antwortete er. »Sie war dort auf jeden Fall. Das wissen wir, das ist Tatsache. Und wenn man einmal eine solche Tatsache festgestellt hat, kann man von ihr aus weiterarbeiten. Wir wollen ihr in Mentone nachspüren und herausbekommen, wo sie seitdem gewesen ist.«
Wir verließen London am nächsten Tag und waren am Abend des folgenden Tages in Mentone. Am nächsten Morgen machten wir uns unter einem blauen Himmel, der scharf mit dem grauen Gewölk, das wir in England zurückgelassen hatten, kontrastierte, auf unsere erste Entdeckungsfahrt.
»Promenade St. Louis?« sagte Chaney, als wir unser Hotel verließen. »Das ist auf der anderen Seite des Hafens – auf der Garavanseite.«
Wir gingen durch die Straßen am Fuß der alten Stadt zur Promenade St. Louis, die auf der Nordseite des Hafens in die Straße zur italienischen Grenze führt. Für mich, der ich vorher nie in Mentone gewesen war, hatte die ganze Szenerie sehr viel Interessantes; Chaney war in seinem Element, mir auf unserem Weg alles zu erklären – die Hügel, die sich über den Hotels und Villen im Hintergrund erhoben, die flüchtig auftauchende italienische Küste im Osten und die von Cap Martin im Westen, die alte Kirche von St. Michel, die hoch über den engen Straßen und Alleen emporragte; dann die »roten Felsen« unmittelbar vor uns, gerade jenseits des schmalen Baches, der Frankreich von Italien trennt, und all das hundertfältige, bunte Leben, das einem englischen Auge so fremd ist. Aber ein so guter Beobachter Chaney auch sein mochte . . . ich war es, der plötzlich entdeckte, was wir suchten, weswegen wir diesen weiten Weg gemacht hatten. Wir waren wenige Meter von der Straßenbahn-Haltestelle am Ende der Promenade entfernt, als ich seinen Arm ergriff und die Straße hinunter zeigte.
»Chaney!« rief ich aus. »Sehen Sie doch dort!«
Ich hatte nämlich folgendes entdeckt: Jenseits der Straße, auf der Landseite, mit dem Blick auf den Golf und den Hafen, stand ein Gebäude, das augenscheinlich einmal ein Café gewesen war, jetzt aber – soweit man erkennen konnte – ein Kramladen war. Es hatte früher an der Außenseite eine heitere und künstlerische Bemalung getragen; Kübel, in denen vordem Bäume und Strauchwerk gepflanzt waren, standen jetzt verlassen und traurig auf dem Pflaster vor dem Haus; eine zerrissene Markise in einstmals leuchtenden Farben war halb hochgezogen. Und an der Fassade hatte ich in großen, verblaßten Goldbuchstaben die Worte entdeckt:
Chez Crowther
und darunter in kleineren Buchstaben:
Englische Teestuben.
Chaney holte tief Atem. »Schon haben wir's!« sagte er zu sich. »Aber die Bude dürfte geschlossen sein. Kommen Sie herüber. Eine Teestube, wie? Gut, gut!«
Wir gingen über die Straße und sahen durch die schmutzigen Fenster ins Innere. Das ehemalige Café schien jetzt als Ablageplatz für alte Möbel zu dienen. Es war verheerend schmutzig, voll von altem unmöglichem Gerümpel. Niemand war zu sehen. Die Tür war verschlossen. Aber über uns standen die Buchstaben in ihrem verblichenen Gold.
Nebenan war ein anderes kleines Café, offenbar ein florierendes Unternehmen; seine Besitzerin, eine gutmütig aussehende Frau, kam zwischen den Stühlen und Tischen hindurch auf den Vorplatz und sah uns prüfend an. Chaney war gerade dabei, die Tür des verlassenen Lokals zu untersuchen; die Frau schüttelte den Kopf zu ihm hin. Nun sprach Chaney mit viel Zungenfertigkeit ein sehr leidliches Französisch. Während ich weiter in das verlassene Café hineinstarrte, ging er zu der Frau hinüber und fragte sie etwas, worauf sie redselig antwortete. Er hörte sie an und kam dann zu mir zurück.
»Sie sagt, daß dieses Lokal seit einigen Jahren kein Café mehr ist«, berichtete er, »die Leute, denen es gehörte, haben es verlassen, und so wurde aus ihm, was wir hier sehen. Camberwell! Ich wette, diese Frau weiß etwas. Wir wollen uns hierher setzen, Kaffee trinken und uns mit ihr unterhalten.«
Madame brachte uns den Kaffee und war nur zu gern bereit, sich mit uns zu unterhalten; Chaney verstand es immer, die Leute zum Sprechen zu bringen, besonders Frauen. Ja, es war ein paar Jahre her, seit die Nachbartür verschlossen wurde – das heißt als Café, die Herren würden schon richtig verstehen. Es waren Engländer, denen es gehörte; sie hatten geglaubt, daß die Engländer und vielleicht auch die Amerikaner sie bevorzugen würden, und so boten sie ihren Gästen englische Cakes und dergleichen. Aber – so meinte Madame und zuckte die Achseln – die Engländer zogen anscheinend die Konditoreien von Mentone vor. Und schließlich zahlte sich das Lokal nicht mehr aus.
»Kannten Sie die Leute, Madame?« fragte Chaney.
Madame kannte sie gut – sie waren doch nächste Nachbarn –, Mrs. Crowther – die Frau hatte einige Schwierigkeiten, den Namen auszusprechen – und Mr. Crowther. Drei Jahre waren sie hier gewesen, und dann kam das Ende! Sie gaben den Kampf auf, wie man so sagt. Das »Chez Crowther« schloß seine Tür.
»Und wohin gingen Mr. und Mrs. Crowther, Madame«, fragte Chaney. »Vielleicht nach England?«
»O nein«, sagte Madame. »Ganz und gar nicht, sondern ganz dicht in die Nähe, nach Monte Carlo.« Sie wußte das genau, denn Mr. Crowther hatte einige Sachen in ihrer Obhut gelassen, die er sich später nach Monte Carlo schicken ließ. Ob die Herren die Adresse in Monte Carlo haben wollten? Die hatte sie irgendwo, in ein paar alten Briefen . . . sie verschwand in einem Hinterzimmer.
»Wir haben Glück, Camberwell«, sagte Chaney. »Glied für Glied fügen wir zur Kette. Jetzt Monte Carlo – aber wieviele Jahre sind seitdem vergangen!« Madame kam mit einem zerknitterten Briefbogen zurück. Schweigend gab sie ihn Chaney. Es waren nur ein paar Worte, um Madame zu bitten, einen Koffer, der in ihrer Verwahrung geblieben war, nach Monte Carlo zu senden. Aber der Brief war »Alice Crowther« unterzeichnet und trug die Adresse Pension Hagill, Rue Antoinette, La Condamine. Ich wies auf das Datum: neun Jahre war es her!
»Ja«, sagte Chaney. »Aber trotzdem . . .«
Wir bedankten uns bei Madame für ihre Freundlichkeit und gingen fort.
»Camberwell«, bemerkte Chaney, als wir zu unserem Hotel zurückschlenderten, »wie ich schon sagte, wir fügen die Kette, Glied für Glied. Wir haben festgestellt, daß Crowther und seine Frau kurz nach ihrer Heirat hierher nach Mentone gekommen sind und einen englischen Teeladen eröffneten. Es lohnte sich aber nicht, sie reisten wieder ab und gingen nach Monte Carlo. Schön! Jetzt gehen auch wir nach Monte Carlo. Dort müssen wir etwas über Crowther erfahren! Bisher wissen wir so gut wie nichts. Wo befindet sich Crowther jetzt? Lebt er? Freilich, der Krieg hat in jedes Menschen Schicksal eingegriffen . . . vielleicht ist Crowther untergegangen. Doch wenn Crowther noch am Leben ist, steckt er sicher – wie das alte Auge des Gesetzes in Milthwaite sagte – hinter den Morden. In Monte Carlo müssen wir auf alle Fälle etwas über ihn erfahren! . . . Sie ist nicht so wichtig. Jetzt laß uns mal über das, was Perkins erzählt hat, nachdenken. Mrs. Growther bekam besagtes Vermächtnis, während sie in Mentone war. Vielleicht hatten sie noch etwas von ihren ursprünglichen zweitausend Pfund übrig; vielleicht legten sie das, was ihnen geblieben war, zu den tausendfünfhundert Pfund und gingen nach Monte Carlo, um ihr Glück am Spieltisch zu versuchen, nicht?«
»Kann sein, Chaney, ist aber nur eine Vermutung«, sagte ich lächelnd.
»Wahrscheinlich . . . aber ich halte es durchaus für möglich«, gab er zurück. »Wie dem auch sei, über den Mann müssen wir mehr erfahren. Über die Frau wissen wir ja schon einiges.«
Wir machten also am Nachmittag einen Spaziergang nach Monte Carlo; nachdem wir uns in einem ruhigen Hotel im Pereira Distrikt eingemietet hatten, gingen wir nach La Condamine hinunter, um die Pension Hagill zu finden. Und wieder hatten wir Glück; die Pension Hagill wurde von zwei Engländerinnen geführt, den Fräuleins Wakeman, älteren Schwestern, von denen wir die eine gleich sprechen konnten. Sie war eine kluge, praktische Frau, die unsere Erläuterungen schnell begriff und schlau lächelte, als wir die Crowthers erwähnten.
»Aha!« rief sie aus. »Ich hatte immer das Gefühl, daß früher oder später Nachfragen kommen würden! Was möchten Sie wissen?«
»Alles, Madame, was wir über die Crowthers und ihren hiesigen Aufenthalt erfahren können«, entgegnete Chaney.
Miß Wakeman überlegte einen Augenblick.
»Kommen Sie heute abend nach dem Essen«, sagte sie dann. »Kommen Sie so um neun Uhr, dann sind meine Schwester und ich frei. Dann können wir in Ruhe plaudern. Es ist sicher eine ganze Menge zu erzählen.«
Zur verabredeten Zeit waren wir wieder in der Pension Hagill, wo uns die Schwestern Wakeman in ihrem Privatzimmer empfingen! Die zweite Schwester, die wir vorher nicht gesehen hatten, erwies sich als noch schlauer und gewandter als die erste; während der folgenden Unterhaltung führte sie das Wort, nachdem sie sich genügend über uns und den Zweck unseres Kommens unterrichtet hatte.
»Wir bekommen hier natürlich die englischen Zeitungen«, sagte sie, »und haben auch von den Morden in Haus Cheverdale und in Little Custom Street gelesen, haben aber niemals Mrs. Clayton und Mrs. Crowther miteinander in Zusammenhang gebracht. Glauben Sie wirklich, daß die beiden identisch sind?«
»Ich glaube, daß darüber nicht der leiseste Zweifel besteht, Madame«, erwiderte Chaney. »Für mich wenigstens nicht.«
»Wir kannten Mrs. Crowther wirklich sehr gut – es sind jetzt neun Jahre her«, sagte Miß Wakeman. »Und wir hörten auch von ihr – ich meine, von ihr selbst – nachdem sie schon ein paar Jahre fort war. Dann blieben alle Nachrichten aus, und wir dachten oft darüber nach, was wohl aus ihr geworden sein mag, dem armen Ding!«
»Sie scheinen sie ja zu bemitleiden?« meinte Chaney. »Warum?«
»Sie werden gleich begreifen, warum«, entgegnete Miß Wakeman. »Sie möchten gern erfahren, was wir über Mr. und Mrs. Crowther wissen? Sie kamen zusammen von Mentone hierher zu uns. Als wir sie besser kannten, erzählte uns Mrs. Crowther, daß sie in Mentone eine englische Teestube besaßen, weil sie auf die Kundschaft von Engländern und Amerikanern gerechnet hatten; sie mußten aber bald merken, daß ihre Teestube keine besondere Anziehungskraft ausübte. Und so räumten sie den Laden, ehe sie noch mehr Verluste erlitten. Sie hatten bestimmt Geld, als sie hierher kamen, setzten aber dann ständig zu.«
»Wieso, Madame?« fragte Chaney.
Miß Wakeman lächelte bedeutungsvoll. »Ich glaube, das Geld ging in dem großen Gebäude auf dem Hügel da oben verloren«, sagte sie und zeigte zum Fenster. »Crowther war immer dort. Er hatte ein System erfunden. Ja, meine Schwester und ich leben hier schon fünfundzwanzig Jahre und haben von einer Menge Systeme gehört, noch nie aber von einem unfehlbaren! Wir hatten den Eindruck, daß Crowther beständig im Casino verlor. Er arbeitete gar nichts – was hätte er hier auch schließlich tun sollen? Er ging ins Casino, sobald es geöffnet wurde, und blieb, bis man es schloß. Ich sah, wie seine Frau immer ängstlicher wurde. Endlich vertraute sie sich mir an; sie wußte, daß ihr Mann viel Geld verlor – eine kürzlich gemachte Erbschaft!«
»Stimmt!« murmelte Chaney. »Sie hatte geerbt, 1500 Pfund; gerade ehe sie Mentone verließ.«
»Ich fragte sie«, fuhr Miß Wakeman fort, »warum sie denn nicht das Geld für sich behalte? Sie antwortete, daß Crowther einfach darüber verfüge; er war von der Sorte Männer, die darauf bestehen, daß alles, was der Frau gehört, ihnen mitgehört; seit ihrer Heirat, seit sie ihm ihr kleines Vermögen von 2000 Pfund übergeben hatte, habe er mit ihrem Geld gemacht, was er wollte. Er sei vom Spielfieber gepackt, sagte sie, und sie wisse nicht, was daraus werden solle. Na, jedenfalls fand die Sache schnell ein Ende, ein sehr plötzliches Ende!«
»Crowther verschwand!« entgegnete Miß Wakeman. »Er ging eines Morgens, wie gewöhnlich, aus dem Haus und kam nicht wieder. Wir hörten nie mehr von ihm, und so lange wir mit Mrs. Crowther in Verbindung standen, hat auch sie nie mehr etwas von ihm gehört. Vierundzwanzig Stunden nach seinem Verschwinden erfuhr sie, daß er das ganze Geld von der Bank, dem ›Credit Lyonnais‹, abgehoben hatte. Er hatte dort aber nicht hinterlassen, wohin er gegangen war. Na – er war jedenfalls fort, einfach fort!«
»Und er ließ sie ganz ohne Geld zurück?« fragte Chaney.
»Sie hatte noch zwanzig bis dreißig Pfund«, erwiderte Miß Wakeman. »Das reichte, um sich eine Weile über Wasser zu halten. Sie schuldeten uns nichts zu der Zeit, als er verschwand. Trotz seiner Spielleidenschaft war er doch höchst peinlich und pünktlich im Bezahlen der Rechnungen. Er ist hier nichts schuldig geblieben. Aber – er lief mit all ihrem Geld davon!«
»Haben Sie eine Ahnung, um welche Summe es sich handelte?« fragte Chaney.
»Ja, Mrs. Crowther sagte uns, daß er wenigstens 1100 Pfund von der Bank abgehoben hatte – allerdings ihr Geld!« erwiderte Miß Wakeman. »Sie erzählte uns weiter, daß Crowther gar kein Geld besaß, als er sie heiratete, und auch nachher nie welches verdient hatte. Und dennoch – er wirkte auf mich wie ein besonders schmucker, tüchtiger, kluger Mann. Aber er war sicher ein Abenteurer.«
»Wurde irgendein Versuch gemacht, ihn zu finden?« fragte Chaney.
»Nicht, daß ich wüßte«, entgegnete Miß Wakeman. »Ich glaube, Mrs. Crowther zog auf den Stationen von Monte Carlo und Mentone Erkundigungen ein, konnte aber nirgends Nachrichten über ihn bekommen. Es gab allerdings für ihn viele Wege, aus der Stadt herauszukommen; nichts leichter als das! Jedenfalls«, fügte sie lächelnd hinzu, »verließ er die Stadt, wie er stand und ging – nicht einmal einen kleinen Stadtkoffer nahm er mit. Er lief einfach davon!«
»Und hinterließ eine sehr gute Garderobe«, bemerkte die andere Miß Wakeman. »Er war immer sehr gut angezogen.«
»Er ließ wohl auch später nie etwas abholen?« fragte Chaney.
»Nein. Wie ich schon erwähnte, hörten wir niemals mehr ein Wort von ihm«, sagte Miß Wakeman. »Er verschwand spurlos!«
»Und Mrs. Crowther, was unternahm sie?« fragte Chaney.
»Mrs. Crowther war eine sehr verständige, Frau«, erwiderte Miß Wakemann. »Sie begriff sofort, daß er für immer gegangen war. Sie war auch eine praktische Frau; sie verkaufte zunächst Crowthers ganze Habe und erzielte daraus eine ganz nette kleine Summe. Sie blieb bei uns wohnen, suchte sich Arbeit, und es dauerte nicht lange, da hatte sie etwas gefunden. Sie bekam eine Stellung als Wäscheverwalterin in einem der großen Hotels – im Hotel de l'Empereur – und ein sehr gutes Gehalt. Dort blieb sie ungefähr vier Jahre. Sie besuchte uns ziemlich regelmäßig; wir mochten Mrs. Crowther gerne. Sie konnte uns niemals irgendeine Nachricht über ihren Mann geben. Ich glaube, sie fühlte sehr bald, daß sie nie mehr von ihm hören würde.«
»Und nach den vier Jahren, Madame«, fragte Chaney, »was geschah dann?«
»Inzwischen war der Krieg ausgebrochen«, antwortete Miß Wakeman. »Die Lage wurde für Hotel- und Pensionsinhaber sehr schwierig, das Personal wurde vermindert, die Hotels wurden als Hospitäler beschlagnahmt. Und Mrs. Crowther verließ das Hotel de l'Empereur und ging in eine ähnliche Stellung nach Paris ins Hotel Mauriac.«
»Wann war das genau?« forschte Chaney.
Miß Wakeman dachte ein wenig nach.
»Ungefähr Anfang 1915«, erwiderte sie. »Der Krieg dauerte schon sechs oder sieben Monate.«
»Schrieb sie Ihnen jemals aus Paris?«
»Hin und wieder, bis 1917. Seitdem haben wir nichts mehr gehört.«
Chaney trug die Pariser Adresse in sein Buch ein, und wir standen auf, um zu gehen. Die beiden Damen sahen uns, einen nach dem anderen, mit fragenden Blicken an.
»Sie glauben also wirklich, daß die Mrs. Clayton in der Little Custom Street identisch ist mit der Mrs. Crowther, die wir kennen?« fragte die ältere noch einmal. »Sie glauben es wirklich?«
»Ich glaube es, Madame«, erwiderte Chaney. »Schrecklich, wenn man es überlegt, aber . . .«
»Wissen Sie, was ich denke?« unterbrach sie ihn plötzlich heftig. »Ich glaube, sie ist Crowther begegnet! Sehen Sie zu, daß Sie Crowther finden! Suchen Sie ihn – suchen Sie ihn in London!«