Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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6

Obwohl mich diese unerwartete Nachricht sehr überraschte, war doch mein erster Gedanke, ihren Eindruck auf die Leute, die um mich herumsaßen, zu beobachten. Chaney zog hörbar die Luft ein. Windover erhob sich von seinem Sitz, als wollte er zur Tür gehen, die Doxford halb offengelassen hatte. Lord Cheverdale hob die Arme und seufzte – er war sichtlich erschrocken; die vorstehenden Augen seiner Tochter schienen noch mehr herauszutreten. Craye runzelte ungläubig die Stirn und starrte Doxford an. Der einzige, der sich nichts merken ließ, war Paley. Er fuhr in aller Ruhe fort, seine Zeichnungen auf dem Löschblock, der vor ihm lag, zu machen und sah nicht einmal auf.

Dann brach Lord Cheverdales vor Erregung bebende Stimme das Stillschweigen.

»Das ist doch nicht möglich!« rief er aus. »Diese Frau? Aber sicher . . .«

»Nach der kurzen Beschreibung, die man mir gab, möchte ich annehmen, daß es diese Frau ist, Mylord«, sagte Doxford. »Ein Doppelmord! Die gleiche Ursache – zweifellos, um das Geheimnis nicht an den Tag kommen zu lassen! Vielleicht auch, um sich in dessen Besitz zu bringen. Zuerst Mr. Hannington und jetzt die Frau!«

»Wo ist denn das, Little Custom Street?« fragte Lord Cheverdale.

»In der Nähe von Great Portland Street«, erwiderte Doxford. »Dort stehen verschiedene Neubauten mit Mietswohnungen. Wahrscheinlich bewohnte diese Frau eine davon.«

»Am besten, Sie gehen gleich dorthin«, unterbrach ihn Lord Cheverdale. »Sie alle! Lassen Sie mich wissen, was Sie entdeckt haben. Ein Doppelmord! Lieber Himmel . . .«

Er brach ab und ging rasch aus dem Zimmer, gefolgt von seiner Tochter und Craye. Paley sah von seiner Schreiberei auf und blickte mich und Chaney an.

»Sie sollten die Detektive begleiten«, sagte er ruhig. »Lord Cheverdale wird sicher über alles unterrichtet sein wollen, besonders darüber, ob es wirklich die Frau ist, die Hannington besuchte.«

»Wer kann sie identifizieren, um das zu beweisen?« fragte Windover.

Paley zeigte mit seinem Federhalter auf Miß Hetherley. »Miß Hetherley wird mit Ihnen gehen, sie hat die Frau gesehen.«

Miß Hetherley zog ein Gesicht, das deutlich ihr Mißfallen über diesen Auftrag ausdrückte.

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß sie ganz dicht verschleiert war«, erwiderte sie. »Ich habe nicht die leiseste Vorstellung von ihrem Gesicht, ihren Haaren, ihren Augen, ihrem Teint . . . ich . . .«

»Aber Sie haben doch einen allgemeinen Eindruck von ihr – von ihren Kleidern und so weiter . . .« unterbrach sie Paley. »Sie können sie sehr gut identifizieren. Telefonieren Sie mir, ob es die Frau ist«, fuhr er, zu Doxford gewendet, fort. »Die verschiedenen Einzelheiten können warten. Der Wagen wird Sie sogleich dorthin bringen.«

Wir gingen zu dem großen Wagen, der noch am Tor wartete, und stiegen ein.

»Ein kaltschnäuziger Bursche!« bemerkte Windover und zeigte mit einer Kopfwendung zu den Fenstern des Zimmers, das wir soeben verlassen hatten. »Ich meine diesen Herrn Sekretär. Ein Mord scheint für ihn gar nichts Besonderes zu sein.«

»Ein menschlicher Eisberg«, bestätigte Miß Hetherley, die sichtlich aufgeregt war. »Jedenfalls lasse ich mich von ihm nicht herumkommandieren . . . wie soll ich denn diese Frau identifizieren, wenn ich nie ihr Gesicht gesehen habe, und wenn . . .«

»Ja, aber da muß ich Paley doch rechtgeben«, unterbrach Doxford. »Der allgemeine Eindruck ist doch da, Miß Hetherley? Sie können sich zum Beispiel sicher erinnern, wie die Frau angezogen war? Auch, wie groß sie war, ihre Figur und so weiter; natürlich eine unerfreuliche Aufgabe, aber wie ich schon sagte: hier liegt ein Mord vor! Sogar en Doppelmord! Wenn die Sache vorher schon ernst war, jetzt ist sie zehnmal ernster!«

»Warum zehnmal?« fragte Miß Hetherley.

»Also zwanzigmal!« gab Doxford zurück. »Fünfzigmal, hundertmal, tausendmal! Warum? Weil man sieht, daß der Mörder vor nichts haltmacht! Ein Leben – zwei Leben – vielleicht hören wir noch von einem dritten Mord!«

»Sie wissen doch noch gar nicht, ob es das Werk von ein und derselben Hand ist«, sagte Miß Hetherley. »Vielleicht waren zwei oder drei Leute am Werk.«

»Allerdings, wir wissen nichts«, gab Doxford zu. »Aber wir werden bald etwas wissen. Hier sind wir schon in Little Custom Street.«

Der große Wagen schwenkte von Great Portland Street in ein Labyrinth von kleinen Straßen ein. Little Custom Street war eine der kleinsten. Was früher an Häusern und Läden hier gestanden hatte, war verschwunden – beide Seiten der kurzen Straße waren jetzt mit Blocks funkelnagelneuer Mietswohnungen ausgefüllt. Am Eingang eines dieser Mietshäuser – des Minerva-Hauses –, das jetzt von ein paar Polizisten bewacht war, sahen wir eine Gruppe von neugierigen Männern, Frauen und Kindern mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern stehen.

Ein Mann in Zivil kam aus der Tür, gerade als wir uns näherten; er erkannte Inspektor Doxford und grüßte.

»Letzte Etage, Nummer zwölf«, sagte er. »Zwei oder drei von Ihren Leuten sind schon oben; ich will mich eben darum kümmern, daß die Leiche dann weggeschafft wird.«

Er eilte davon, und wir betraten die Diele, die von zwei Polizisten bewacht wurde. Chaney berührte heimlich meinen Arm.

»Passen Sie genau auf alles auf, wenn wir hinaufgehen«, flüsterte er mir zu. »Eins können Sie sofort sehen: es ist kein Aufzug hier, nur eine Flucht von Steintreppen, das muß beachtet werden. Passen Sie genau auf jede Kleinigkeit auf.«

Ich folgte dieser Weisung, denn ich wußte, daß er seine Gründe dafür hatte. Beim Hinaufsteigen bis zur letzten Etage des Gebäudes beobachtete ich nun folgendes: durch den Haupteingang kam man in eine Vorhalle oder Diele, die ungefähr neun Fuß im Quadrat maß. Links, der Tür gegenüber, begann die steinerne Treppe, von der Chaney gesprochen hatte. Rechts führte eine Treppe, wie anzunehmen war, in das Kellergeschoß. Auf dem ersten Treppenabsatz sahen wir links und rechts vor uns zwei Türen, mit Nummer eins und Nummer zwei bezeichnet. Dann führte eine kurze Treppe weiter zu einem Absatz, von dem ein Fenster auf die Straße ging. Dann wieder eine Treppe, an deren Ende zwei Türen waren: mit den Nummern drei und vier. Diese Anordnung der Etagen, Treppen und Fenster ging so weiter, bis wir zum letzten Stock kamen und Nummer elf und zwölf vor uns hatten. Es war ein langer und mühsamer Weg da hinauf. Und eins war auffallend, wie wir weiterstiegen: alle Türen von eins bis elf, an denen wir vorübergingen, waren geschlossen, nicht ein einziger von den Bewohnern dieser elf Wohnungen steckte den Kopf zur Tür heraus. Ich habe mir seitdem oft meine Gedanken gemacht, ob damals wirklich keiner von diesen Bewohnern wußte, was in der obersten Etage geschehen war . . .

Die Tür der Wohnung von Nummer zwölf stand weit offen, wir drängten uns hinein. Ich sage, wir drängten uns, denn es war sehr wenig Platz, wahrscheinlich waren die Wohnungen für einzelne Personen oder für Ehepaare ohne Kinder vorgesehen. Zuerst kam eine kleine Diele, dahinter befanden sich Küche, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer. Im Schlafzimmer, auf dem Bett, lag die tote Frau. Die Detektive, die schon hier waren, hatten von Doxford gehört, daß Miß Hetherley wahrscheinlich imstande sein werde, die Leiche zu identifizieren. Und Miß Hetherley brauchte dazu nicht lange, ein kurzer, prüfender Blick genügte.

»Das ist die Frau, die gestern nachmittag Mr. Hannington aufgesucht hat«, sagte sie. »Ich bin meiner Sache sicher! Ich habe nicht den mindesten Zweifel.«

»Haben Sie Anhaltspunkte für Ihre Behauptungen, Miß Hetherley?« fragte Doxford.

»Ja; nach ihrem Gesicht und ihren Zügen könnte ich sie nicht identifizieren, weil sie – wie ich schon sagte – dicht verschleiert war«, erwiderte Miß Hetherley. »Aber ich erkenne die Ohrringe und ihr Kleid wieder . . . und auch diesen Mantel«, fügte sie dann hinzu und zeigte auf ein Kleidungsstück, das auf dem Stuhl lag. »Die Ohrringe sind – wie Sie sehen – von außergewöhnlicher Größe und auffallendem Muster; das Kleid ist . . . na, eben echt pariserisch! Und der Mantel ist auch nicht englisch.«

»Und Sie haben keinen Zweifel?« fragte Doxford.

»Nicht den geringsten!« erklärte Miß Hetherley. »Kann ich jetzt gehen?«

Aber Chaney bat sie, wenigstens noch eine kurze Zeit zu bleiben; vielleicht hatte er sie noch etwas zu fragen oder auf etwas aufmerksam zu machen. Wir gingen mit ihr in den Wohnraum; der Polizeiarzt, den man geholt hatte, war dort, außerdem noch ein zweiter Arzt. Sie teilten soeben einem Kollegen von Inspektor Doxford die Ergebnisse ihrer Untersuchung mit. »Diese Frau«, sagte ein Arzt, »wurde durch Schläge auf den Kopf getötet, die mit einem schweren, stumpfen Instrument ausgeführt wurden. Der Tod . . .«

»Verzeihung, Doktor«, unterbrach Chaney. »Haben Sie sich schon eine Ansicht gebildet, welche besondere Art von stumpfem Instrument das gewesen sein könnte?«

Der Arzt überlegte einen Augenblick. »Ja«, sagte er. »Ich habe zwar darüber noch nicht allzu viel nachgedacht, aber ich kann Ihnen doch sagen, welches Instrument solche Verletzungen hervorbringt: ein altmodischer Totschläger, der wahrscheinlich an seinem dicken Ende mit Waschleder überzogen war.«

»Danke, Doktor, ganz meine Ansicht!« sagte Chaney. »Aber Sie wollten eben sagen . . .«

»Ich wollte sagen, daß der Tod sofort eingetreten sein muß. Nach meiner Meinung und der meines Kollegen hier geschah dieser Mord wahrscheinlich gegen ein Uhr morgens. Jedenfalls zwischen Mitternacht und ein Uhr. Es war gegen Mittag, als wir hierher gerufen wurden, und wir sind der Ansicht, daß die Frau schon mindestens elf Stunden tot ist, vielleicht sogar noch etwas länger. Diese Ansicht ist sicher wertvoll für Sie.«

Wir kehrten jetzt zur Untersuchung der Wohnung zurück. Und hier muß ich gleich sagen, daß es nur eines umfassenden Blickes bedurfte, um des Mörders wirklichen Zweck zu erraten: er hatte hier etwas gesucht, er wollte etwas finden! Ob diese Suche erfolgreich gewesen war und er das Gesuchte gefunden hatte – wer könnte es sagen? Tatsache war jedenfalls, daß in der kleinen Wohnung alles von oben nach unten gekehrt, alles durchstöbert worden war. Jeder Schrank, jedes Behältnis war durchwühlt, vielleicht in Eile, zweifellos aber aufs gründlichste. Für uns alle, die Detektive, Chaney und mich, bestand kein Zweifel, daß die Frau sofort nach dem Eintritt des Mörders niedergeschlagen und für immer zum Schweigen gebracht worden war – und daß sich der Mörder dann schnell und methodisch daran gemacht hatte, zu suchen, was er haben wollte. Er war sogar soweit gegangen, alle Teppiche und Kamindecken umzudrehen und hinter jedes Kissen in der Wohnung zu sehen.

»Und was ist mit dem persönlichen Eigentum der Frau?« fragte einer. »Mit ihrem Gepäck?«

Was sie an diesen Dingen besaß, fand sich in dem kleinen Schlafzimmer, wo die Tote noch lag. Drei Stücke waren da: ein mittelgroßer, viereckiger Koffer fremder Herkunft, ein kleiner Stadtkoffer und eine Handtasche. Kein Ziertäschchen, sondern eine wirklich brauchbare, praktische Tasche. Diese beiden zuletzt genannten Gegenstände waren gleichfalls fremden Ursprungs. Der Koffer enthielt Kleidungsstücke, Röcke, Wäsche und dergleichen, und man sah deutlich, daß der wahrscheinlich ordentlich verpackt gewesene Inhalt von dem Mörder bei der Suche herausgenommen, geprüft und dann wieder hineingestopft worden war. Das gleiche galt für den Stadtkoffer. Die Handtasche enthielt verschiedene kleine Damenartikel, Toilettengegenstände, französische Lektüre und eine Pariser Zeitung, deren Datum etwa vierzehn Tage zurücklag. Aber sie enthielt auch noch etwas anderes: eine altmodische, geräumige Börse. In dieser Börse fanden wir die Summe von ungefähr dreißigtausend Francs in Noten verschiedener Höhe – der Franc war damals in einer sehr schwachen Phase seiner Nachkriegsgeschichte – und etwa fünfundzwanzig Pfund in englischen Noten; in einem Fach lagen, in Seidenpapier eingewickelt, fünf englische Sovereigns. Chaney stellte sofort fest, daß sie Bild und Aufschrift der Queen Victoria trugen. Offensichtlich waren sie gesammelt worden. Als weiterer Beweis, daß nicht Raub die Veranlassung des Mordes war, lag auf dem Kaminsims im Schlafzimmer eine zweite, moderne Börse, in der wir zwei Fünf-Pfund-Noten der Bank von England fanden, siebzehn Pfund in Zwanzig- und Zehn-Schilling-Schatzscheinen und neun Schilling und sechs Pence in Silber. Neben dieser zweiten Börse lagen eine sehr hübsche goldene Uhr und einige schwergoldene Armbänder; wir hatten schon gesehen, daß die Ringe, schöne wertvolle Ringe, noch an den Fingern der Toten steckten. Als diese vorläufige Untersuchung beendet war, wandte sich Chaney an Miß Hetherley, die bei uns geblieben war.

»Werfen Sie einen Blick dorthin, Miß Hetherley«, flüsterte er und zeigte auf die Kleider im Schrank. »Sie verstehen sich doch auf Damensachen; ist das da drin auch alles ausländisch?«

Wir standen aufmerksam daneben und beobachteten, wie Miß Hetherley die verschiedenen Gegenstände prüfte; sie antwortete nur mit dem einen Wort: »Alles!«

Chaney wandte sich zu Doxford: »Wir wollen jetzt ins Kellergeschoß hinuntergehen; die nächste Person, die wir sprechen müssen, ist der Hauswart.«

 


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