Joseph Smith Fletcher
Das Teehaus in Mentone
Joseph Smith Fletcher

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3

Als wir wieder in unserem Auto saßen, lehnte sich Chaney mit einem Seufzer der Befriedigung in die Ecke des Wagens.

»Also Miß Hetherley«, bemerkte er. »Ausgezeichnet! Tüchtige Geschäftsfrau – wir werden mit ihr gut auskommen.«

»Wer ist Miß Hetherley?« fragte ich.

»Hanningtons Privatsekretärin«, antwortete er. »Seine rechte Hand. Ich bin ihr öfter begegnet.«

»Sie wissen anscheinend eine ganze Menge von diesen Leuten, Chaney«, sagte ich. »Wie kommt das?«

»Einfach daher«, erwiderte er, »weil mein Schwager Abteilungsleiter in Chevers Teestuben ist; so höre ich allerhand. Ja, ich weiß eine Menge von Lord Cheverdale und seinen Geschäften . . . und höre so manches, wie Sie sich vorstellen können. Sie haben doch eben Miß Chever, oder um ihr den ihr gebührenden Titel zu geben: die Honourable Miß Chever gesehen. Was halten Sie denn nach dieser flüchtigen Begegnung von ihr?«

»Ich glaube, sie hat nicht den Verstand, den man ihrem Vater nachrühmt«, antwortete ich.

»Da fehlt's allerdings ein bißchen, nicht viel, aber eben ein bißchen«, sagte er. »Also die Honourable Miß Chever verheiratet sich demnächst. Die Anzeige erschien vor kurzem in der ›Times‹ und in der ›Morning Post‹. Ganz feine Sache. Der Mann, den sie heiratet, Mr. Francis Craye, gilt wirklich soviel wie Chever selbst, wenigstens in der Teebranche. Der alte Herr überläßt alles Geschäftliche Crayes Händen, wie mir mein Schwager erzählte. War ein paar Jahre dort im Geschäft, dieser Craye – kam als Abteilungsleiter und wurde bald der allmächtige Chef. Jetzt heiratet er Lord Cheverdales einziges Kind – sie bekommt ja einmal das ganze Geld des alten Herrn; kann froh sein, der Bursche, aber mein Schwager meint, das habe noch seine besonderen Gründe. Ich möchte das auch annehmen. Bestimmt!«

»Was denn für Gründe?« fragte ich.

»Das ist doch klar«, antwortete er. »Nicht jeder heiratet eine Frau, die ein bißchen schwach im Kopf ist, die obendrein nicht von Schönheit geplagt und schon beinahe vierzig ist. Aber Craye wird sie heiraten, Lord Cheverdale vertraut ihm seine Tochter und sein Riesenvermögen an. Verstehen Sie jetzt?«

»Ich verstehe – stillschweigendes Übereinkommen!«

»So ist es! Man sagt, Craye sei ein Finanzgenie – er wird Cheverdales Millionen schon gut verwalten. Die Frau ist der Preis. Ihre einzige Liebhaberei ist, wie ich höre, die Hundezucht – na, das ist ja eine harmlose Sache.«

Wir ließen dies Thema wieder fallen und kamen auf den Mord zurück.

»Schon eine Vermutung, Chaney?« fragte ich.

»Bis jetzt noch nicht«, antwortete er. »Ich reime es mir aber so zusammen, daß Hannington trotz der späten Stunde noch Lord Cheverdale aufsuchen wollte und daß man ihm folgte oder ihm auflauerte. Wichtig wäre es nun, gerade hierüber Klarheit zu bekommen. Wenn man ihm auflauerte, mußte jemand wissen, daß er hierher kam; und wenn man ihm folgte – aber es ist müßig, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir müssen zu allererst wissen: wo war Hannington gestern nacht? Wir beginnen mit unseren Nachforschungen natürlich im Büro der ›Morning Sentinel‹. Wir sind ja gleich da. Der Mann soll an der Ecke halten – wir können das Stückchen hinunter zu Fuß gehen.«

Wir waren jetzt in Fleet Street und stiegen aus. Chaney bog in eine Seitenstraße ein und ging auf die Neubauten zu, die in den letzten Jahren zwischen der Ostecke von Temple Gardens und Blackfriars entstanden waren. Wenige Augenblicke später standen wir vor einem Beamten an der Tür der ›Morning Sentinel‹-Büros. Wir schickten unsere Ausweiskarten hinein, außerdem eine Visitenkarte von Lord Cheverdale. Sofort kam ein Boy und fuhr uns im Lift in den ersten Stock; hier führte er uns in ein vornehm ausgestattetes Zimmer, in dem uns gleich das große Porträt eines feierlich aussehenden Herrn auffiel, der finster und mißbilligend in die Welt blickte.

Chaney zeigte auf das Bild: »Lord Cheverdale«, sagte er. »Es war vor zwei oder drei Jahren in der Akademie. Vergnügt aussehender Bursche, nicht? Und das ist Hannington.« Er zeigte auf ein Foto an der Wand gegenüber.

Ich ging hin und sah es mir interessiert an. Ein Blick genügte um festzustellen, daß Hannington genau so war, wie Chaney ihn geschildert hatte: verschroben, schwärmerisch, ein Enthusiast! Die Augen schienen in die Ferne zu blicken. Der ganze Ausdruck verriet aber, daß der Mann auch fanatisch sein konnte.

Jetzt öffnete sich eine Tür, und eine Dame trat ein. Ich betrachtete sie mit noch größerem Interesse als vorher die Bilder; sie war eine äußerst lebhafte, hübsche, elegant angezogene Frau von ungefähr fünfunddreißig, die einen munteren und gewandten Eindruck machte. Sie hielt unsere und Lord Cheverdales Karten in der Hand und wies auf zwei Stühle, die zu beiden Seiten des großen Schreibtisches standen.

»Guten Morgen, Mr. Chaney«, sagte sie mit frischer Stimme. »Wir haben uns ja schon früher getroffen. Und das ist Ihr Kompagnon, nicht wahr? Guten Tag, Mr. Camberwell. Sie waren also schon im Haus Cheverdale? Paley telefonierte mir, daß Lord Cheverdale außer der Polizei auch Ihre Dienste in Anspruch nimmt. Eben erst bin ich zwei Leute von Scotland Yard losgeworden; sie haben mich dreiviertel Stunden lang ausgefragt, und nun muß ich wohl die ganze Sache noch einmal mit Ihnen durchsprechen. Was möchten Sie denn von mir wissen?«

Sie setzte sich an den Schreibtisch und sah uns, als wir Platz genommen hatten, fragend an. Wie üblich, ließ ich Chaney reden.

»Eine ganze Menge, Miß Hetherley«, sagte Chaney. »Bis jetzt wissen wir nur, daß Mr. Hannington in der vergangenen Nacht, etwa um Mitternacht, auf Lord Cheverdales Grundstück überfallen und durch Hiebe auf den Kopf getötet wurde und daß keinerlei Spur von dem Mörder oder den Mördern zu finden ist. Ich möchte wissen, was vorhergegangen ist. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir sagen könnten, wo ich am besten anfangen soll. Wie waren Mr. Hanningtons regelmäßige Bürostunden hier?«

Miß Hetherley antwortete sofort: »Von zwei Uhr nachmittags bis zwei Uhr morgens.«

»Blieb er die ganze Zeit hier?«

»In der Regel, ja; manchmal ging er zum Essen aus. Aber das kam nur selten vor. Nach der streng eingehaltenen Regel wurde ihm das Essen um halb acht Uhr gebracht.«

»Was für Bürostunden hatten Sie als seine Sekretärin?«

»Von zwei Uhr nachmittags bis neun Uhr abends.«

»Und gestern abend . . .

»Gestern abend wich er von der Regel ab, er ging schon um neun Uhr, zugleich mit mir.«

»Aus irgendeinem besonderen Grund?«

»Nicht, daß ich wüßte! Es sei denn, daß er wegen eines Vorfalles früher ging, der sich gestern hier ereignete.«

»Was war denn das?« fragte Chaney.

»Vielleicht hat das große Wichtigkeit«, antwortete Miß Hetherley. »Ich habe schon den Scotland-Yard-Leuten davon erzählt, und jetzt muß ich es Ihnen wohl auch berichten. Am besten, ich erzähle es mit allen Einzelheiten. Dieses Zimmer hier dient Lord Cheverdale als Privatbüro, sooft er hierher kommt. Die Tür dort führt ins Zimmer des Redakteurs, zu Mr. Hannington. Dahinter ist ein kleinerer Raum, mein Büro. Kein Besucher konnte zu Mr. Hannington, außer durch mein Zimmer. Ist das klar?«

»Verstehe«, sagte Chaney.

»Schön. Nun hören Sie weiter. Gestern nachmittag, etwa um fünf Uhr, brachte mir ein Bote einen Brief, der an Thomas Hannington adressiert und links oben in der Ecke mit dem Vermerk ›Privat‹ versehen war. Die Handschrift war die einer Frau. Ich brachte den Brief zu Mr. Hannington hinein und wartete, bis er ihn las. Als er ihn geöffnet hatte, sah er zuerst nach der Unterschrift. Es fiel mir auf, daß die Unterschrift ihn überraschte. Hastig überflog er den Brief, und ich bemerkte, wie er dabei die Stirn runzelte. Er steckte dann Brief und Umschlag in die Tasche und wandte sich zu mir: ›Führen Sie die Dame herein, Miß Hetherley‹, sagte er, ›und sorgen Sie, daß wir ungestört bleiben.‹ Ich ging in mein Büro zurück, wo der Bote wartete, und schickte ihn hinunter, die Dame zu holen. In ein paar Minuten kam er mit ihr zurück.«

»Können Sie sie beschreiben?« fragte Chaney.

»Ja, bis auf ihr Gesicht«, antwortete Miß Hetherley ruhig. »Das kann ich weder Ihnen noch sonst jemandem beschreiben, denn sie war dicht verschleiert – so dicht, daß ich nicht einmal sagen könnte, ob sie blond oder brünett war, ob sie dunkle oder helle Augen hatte. Aber nach ihrem Gang und ihrer Figur – einer sehr guten Figur – würde ich sie für eine Frau von dreißig oder zweiunddreißig Jahren halten. Eins aber weiß ich ganz genau: ihre Kleider waren nicht aus England!«

»Woher denn?« fragte Chaney.

»Aus Paris! Ich kenne Pariser Kleider – alles war offensichtlich aus Paris. Sie war angezogen, wie sich nur eine Französin anzieht, oder wie Frauen von einem französischen Schneider angezogen werden. Ich hielt sie sofort für eine Französin.«

»Hörten Sie sie sprechen?« fragte Chaney.

»Ich hörte sie nicht sprechen, nicht ein Wort; weder beim Kommen noch beim Gehen. Sofort, als der Bote sie in mein Zimmer brachte, führte ich sie zu Mr. Hannington. Und jetzt achten Sie, bitte, auf folgende zwei Momente: Erstens war es ganz außergewöhnlich für Mr. Hannington, jemanden um diese Nachmittagsstunde zu empfangen; und zweitens war es noch viel ungewöhnlicher, daß er irgend jemandem erlaubte, seine Zeit länger als ein paar Minuten in Anspruch zu nehmen. Diese geheimnisvolle Frau aber blieb bis fast sechs Uhr, also beinahe eine Stunde, bei ihm!«

»Betraten Sie das Zimmer um diese Zeit?« fragte Chaney.

»Nicht ein einziges Mal. Wenn Mr. Hannington sagte: ›Sehen Sie zu, daß wir nicht gestört werden‹ oder ›Lassen Sie uns ungestört‹, so war das für mich Befehl. Nein, ich ging nicht hinein. Und ich sorgte dafür, daß Mr. Hannington nicht gestört wurde, solange sie bei ihm war.«

»Aber schließlich ging sie doch«, sagte Chaney.

»Um sechs Uhr öffnete Mr. Hannington seine Tür und kam mit ihr heraus; er führte sie durch mein Zimmer und öffnete ihr dann die Tür zum Korridor. Ich hörte sie kein Wort miteinander wechseln. Er nickte ihr zu, lächelnd, als ob sie sich sehr gut verständen, und sie grüßte mit einem Neigen des Kopfes, was mich wieder auf den Gedanken brachte, daß sie Französin sei, denn das war nicht der Gruß einer Engländerin. Aber in meiner Gegenwart wechselten sie nicht ein einziges Wort. Sie werden mir jetzt wohl glauben, daß ich ganz gut beobachten kann?«

»Ich glaube, Sie können es, Miß Hetherley«, antwortete Chaney und schmunzelte. »Der Anfang ist sogar vielversprechend!«

»Ich bemerkte noch etwas, das von Interesse und vielleicht von Wichtigkeit sein könnte«, fuhr Miß Hetherley lachend fort. »Als nämlich die verschleierte Dame durch mein Zimmer zu Mr. Hannington hineinging, trug sie in ihrer rechten, nebenbei bemerkt, höchst elegant behandschuhten Hand ein Päckchen Papiere, das mit einem grünen Band zusammengebunden war. Als Mr. Hannington sie hinausgeleitete, hatte er das Päckchen mit dem grünen Bändchen in der Hand; und als er dann durch mein Zimmer in sein Büro zurückging, sah ich, wie er das Päckchen in die innere Brusttasche seines Rockes steckte. Ist das von irgendeiner Bedeutung?«

»Das will ich meinen!« rief Chaney. »Gut! Alles, was Sie uns berichten, ist höchst wertvoll, Miß Hetherley. Können Sie uns noch mehr sagen?«

»Da ist nicht mehr viel zu sagen«, antwortete Miß Hetherley. »Als die Frau weg war, nahm der Tag wieder seinen gewöhnlichen Verlauf.«

»Machte Mr. Hannington irgendeine Bemerkung über seinen Besuch?« fragte Chaney.

»Nein, mit keinem Wort. Andere Dinge nahmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch . . .«

»Was machte er dann noch am Abend?« fragte Chaney. »Sie sagten, daß die Frau um sechs Uhr ging und Mr. Hannington um neun Uhr. Nahm er sein Essen noch hier ein?«

»Ja, aber etwas früher als gewöhnlich.«

»Und Sie sagen, er ging um neun?«

»Ja, ich weiß das aus dem einfachen Grund, weil er mit mir im Lift hinunterfuhr. Ich hatte gerade den Lift erreicht, als er eilends den Korridor entlang kam und mit einstieg. Wir fuhren zusammen hinunter, gingen quer durch die Eingangshalle und traten zusammen auf die Straße. Ich wandte mich der Fleet Street zu, um meinen Omnibus nach Hause zu bekommen. Mr. Hannington aber ging zum Embankment hinüber. Und jetzt«, fuhr Miß Hetherley fort und verriet zum erstenmal ein leichtes Zögern, eine kleine Unsicherheit im Sprechen und Benehmen, »jetzt kommt etwas, worüber ich eigentlich nicht gerne sprechen möchte, denn es könnte ja nur Einbildung von mir oder Zufall gewesen sein . . .«

»Macht nichts, lassen Sie hören, was es ist«, sagte Chaney. »Und lassen Sie nichts aus; Sie ahnen nicht, wie wichtig jede Kleinigkeit ist.«

»Schön, es handelt sich also um folgendes«, antwortete Miß Hetherley. »Als Mr. Hannington und ich aus der Haustür traten, lungerte ein Mann – nach seinem Aussehen ein Ausländer – auf der gegenüberliegenden Straßenseite umher; ich dachte, er beobachte die Tür. Als ich ein paar hundert Meter die Straße hinaufgegangen war, sah ich mich um; der Mann, von dem ich sprach, folgte Mr. Hannington. Jedenfalls ging er unmittelbar hinter Mr. Hannington die Straße zum Embankment hinunter.«

»Das ist ja eine hochwichtige Nachricht!« bemerkte Chaney. »Könnten Sie den Mann wiedererkennen?«

»Ich bezweifle es«, antwortete Miß Hetherley. »Ich sah ihn nur im Licht der Straßenlampen. Ich hatte den Eindruck, daß er ein Ausländer war, denn er trug eine Art Umhang, statt des hierzulande üblichen Überrockes, und einen großen Schlapphut. Er stand der Tür des Büros gerade gegenüber.«

»Machten Sie Mr. Hannington auf ihn aufmerksam?«

»Nein, Mr. Hannington würde ihn gar nicht beachtet haben, selbst wenn ich es getan hätte.«

»Sie kannten Hannington gut, Miß Hetherley?«

»Ich war seine Privatsekretärin, seine rechte Hand, Mr. Chaney, seitdem diese Zeitung vor sechs oder sieben Jahren gegründet wurde.«

»Was ist Ihre Ansicht über ihn?«

»Er war ein vortrefflicher Mensch, ein tadelloser Charakter, aber exzentrisch; wenn jemand mit einem wirklichen Kummer zu ihm kam, nahm er sich der Sache an, als ob sein eigenes Leben davon abhinge. Aber Sie wissen ja, was die ›Morning Sentinel‹ für einen Ruf hat . . .«

»Wissen Sie, ob Hannington Feinde hatte?«

Miß Hetherley schüttelte den Kopf. »Ach«, sagte sie, »ich glaube nicht, daß er als Mensch auch nur einen Feind auf der Welt hatte. Aber als Machtfaktor, als politischer und sozialer Machtfaktor, hatte er sicher eine ganze Menge schlimmer Feinde – daran zweifle ich nicht.«

Hier schaltete ich mich in die Folge von Frage und Antwort ein: »Für wen engagierte sich denn Mr. Hannington in letzter Zeit besonders?«

Miß Hetherley wandte sich mit einem Lächeln zu mir. »Man sieht, daß Sie die ›Morning Sentinel‹ nicht lesen, Mr. Camberwell«, sagte sie. »Sonst müßten Sie wissen, daß Mr. Hannington in letzter Zeit die bekannten Verhältnisse in Rußland stark kritisierte. Obwohl er als Redakteur des Blattes und Lord Cheverdale als sein Besitzer Radikale vom reinsten Wasser sind – von der alten Manchester-Schule – Sie wissen schon – und mit den Demokraten sympathisierten, glauben sie nicht an die heutige Bewegung in Rußland und Mr. Hannington schrieb darüber ein paar sehr scharfe Artikel.«

»Sah der Mann, den Sie gestern auf der Straße bemerkten, wie ein Russe aus?« fragte ich.

»Ich weiß nur, daß er mir den Eindruck eines Ausländers machte.«

Ich nahm eine andere Fährte auf. »Wie ist's mit dem Brief, den die Frau, die wie eine Französin aussah, an Mr. Hannington schickte?« fragte ich. »Hat er ihn zufällig liegen lassen?«

»Nein«, antwortete sie. »Das haben mich schon die Scotland-Yard-Leute gefragt. Er steckte ihn in die Tasche, als er ihn gelesen hatte, und behielt ihn dort wohl mit den Papieren, die mit dem grünen Band zusammengebunden waren. Sie sind doch in Haus Cheverdale gewesen, nicht? Ist es denn wahr, daß die Polizei gar kein Papier, kein Dokument bei der Leiche gefunden hat?«

»So wurde uns berichtet.«

»Sehen Sie, für jeden, der ihn gut kannte, ist das außerordentlich merkwürdig und bedeutungsvoll, ja verdächtig. Mr. Hannington war darin wirklich schrecklich. Immer trug er alle möglichen Papiere mit sich herum. Gewöhnlich waren alle seine Taschen mit Papieren vollgestopft. Das Merkwürdige war, daß er trotz all dieser Unordnung jedes Papierchen, jedes Dokument, jeden Zeitungsausschnitt innerhalb einer Sekunde herausfand. Ist es wahr, daß seine Wertsachen unberührt waren?«

»Ja, auch das hat man uns gesagt.«

»Sieht das nicht so aus, als ob die Mörder wegen irgendeines Papieres oder Dokumentes hinter ihm her waren? Augenscheinlich waren es keine gewöhnlichen Diebe!«

»Sicher nicht«, sagte Chaney. »Wir können annehmen, daß Mr. Hannington aus einem der folgenden Gründe ermordet wurde: entweder wollte man ihn töten, ehe er Lord Cheverdale ein bestimmtes Geheimnis verraten konnte, oder der Mörder wollte sich in den Besitz eines Dokumentes setzen, das dieses Geheimnis enthielt und das Hannington bei sich trug. Eigentlich gehören die beiden Gründe zusammen. Es ist ziemlich klar, daß der Besuch der geheimnisvollen Dame damit zu tun hat. Schade, daß Sie sie nicht sprechen hörten, Miß Hetherley. Hörten Sie wirklich nicht ein einziges Wort?«

»Nicht ein Wort!« erklärte Miß Hetherley. »Die Scotland-Yard-Leute wollten das auch wissen, sie gingen hinunter und erkundigten sich genauestens. Als die Dame die Halle betrat, übergab sie dem Boten gleich den Brief. Er gab ihn dem Boy weiter, der ihn heraufbrachte. Niemand hörte sie sprechen, außer Mr. Hannington.«

»Sie haben aber den bestimmten Eindruck, daß sie Französin war?« fragte ich.

»Ich bin überzeugt, daß sie ihre Kleider, Schuhe, Strümpfe und Handschuhe in Paris gekauft hat!« versicherte Miß Hetherley. »Und nach der Art, wie sie die Sachen trug, hielt ich sie für eine Französin. Ich bin selbst Engländerin, weiß aber ganz genau, daß nur eine Französin richtig Kleider zu tragen versteht. Eine Engländerin kann es nicht so gut. Meiner Meinung nach war sie Französin.«

Langes Schweigen.

Wir dachten wohl alle über das Gesagte nach. Dann begann Chaney wieder.

»Diese Scotland-Yard-Kerle«, sagte er, »was denken die denn?«

»Ach die!« erwiderte Miß Hetherley. »Die glauben, es sei ein politischer Mord . . . sie glauben . . .«

In diesem Augenblick kam ein Angestellter herein und flüsterte Miß Hetherley etwas zu. Sie wandte sich zu uns.

»Inspektor Doxford und Detektiv-Sergeant Windover sind zurück«, sagte sie. »Wir wollen sie doch lieber herauf bitten. Dann können Sie sie ja direkt fragen.«

 


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